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VITABLICK/001: Vorne und nicht zerbrechen - Lutz Schulenburg wird 60 (SB)


Gespräch mit Hanna Mittelstädt am 18. April 2013 in Hamburg-Ottensen

Foto: © Ute Schendel

Lutz Schulenburg
Foto: © Ute Schendel

Fast 40 Jahre verlegerisches Engagement in der Edition Nautilus und ein sozialrevolutionär bewegtes Leben im Spektrum zwischen libertären und linken Positionen - Lutz Schulenburg hat an seinem 60. Geburtstag keinen Grund, versäumten Gelegenheiten nachzutrauern oder mit Bedauern zurückzuschauen. Großgeworden im Aufbruch der 60er Jahre und stets daran interessiert, den Geist der sozialen Utopie zu verbreiten und den Mut zur gesellschaftlichen Veränderung zu nähren, ist seine Handschrift im verlegerischen Profil des Nautilus-Verlages unübersehbar. Das gleiche gilt für Hanna Mittelstädt, die seit 1972 gemeinsam mit Lutz Schulenburg die Geschicke des Verlages lenkt. Bei einem Besuch in dessen Geschäftsräumen in Hamburg-Ottensen beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zur persönlichen Geschichte ihres langjährigen Arbeitspartners und zu den politischen Kriterien, die die verlegerische Arbeit in diesem traditionsreichen Haus der bundesrepublikanischen Linken bestimmen.


Schattenblick: Hanna, könntest du uns etwas zum familiären Hintergrund von Lutz Schulenberg erzählen?

Hanna Mittelstädt: Ich habe Lutz kennengelernt, als er noch in seinem Elternhaus in Hamburg-Bergedorf wohnte. Die Familie hatte drei Kinder. Der Vater war gelernter Bäcker, hatte aber als Lastwagenfahrer und später dann als Verkäufer in der Jagdabteilung eines großen Kaufhauses gearbeitet. Seine Mutter hat an einer Heißmangel gestanden. Lutz selbst hat die Schule nicht gerade mit Bravour hinter sich gebracht und machte nach der Volksschule in dem Kaufhaus, in dem sein Vater gearbeitet hat, eine Dekorateurslehre. Er ist also gelernter Dekorateur.

SB: Das ist eine ganz bemerkenswerte Karriere vom Arbeiter zum Verleger.

HM: Wenn auch mit Rechtschreibschwächen. Das macht ja nichts, das ist ein anerkannter kreativer Defekt. Ordnungsstärke zeichnete ihn nicht aus, aber eine starke Kreativität hat er durchgängig gehabt. So hat er sich für den Dekorateursberuf entschieden, weil er der künstlerischste war, der ihm zur Verfügung stand.

SB: Hat diese Herkunft auch seine politische Position geprägt? Immerhin hat er sich von Verhältnissen, die in dieser Gesellschaft häufig mit Benachteiligungen belegt sind, emanzipiert und ist weit über sie hinausgekommen..

HM: Ja, diese Selbstaneignung und Selbstermächtigung aller Kompetenzen, die für ihn wichtig waren, hat ihn natürlich sehr stark geprägt. Aber andererseits war er 1968 bereits mit fünfzehn oder sechzehn Jahren in der Schülerbewegung. Er war auf der Straße und arbeitete in den politischen Gruppierungen im Stadtteil. Das war eine unvergleichliche Aufbruchsituation für ihn persönlich gewesen, auch politisch. Die Politisierung war sozusagen eine echte Fortbildung, all diese Fragen: Wie funktioniert diese Gesellschaft eigentlich, was ist mir wichtig, welche Ideen will ich verfolgen? Diesen Ideenreichtum hat er sich damals außerhalb der Schule in der anarchistischen, sozialistischen Bewegung angeeignet.

SB: Als Verleger stellt man sich sicherlich auch die Frage, wie man eine Leserschaft erreicht, für die die intellektuelle Komplexität mancher Bücher nicht nachvollziehbar ist, die aber am dringlichsten einen politischen Biß entwickeln müßte wie beispielsweise die Hartz-IV-Bevölkerung, um etwas gegen die sie unterdrückenden Verhältnisse zu unternehmen. Spielt dieser Gedanke in eurer Verlagskonzeption eine Rolle?

HM: Ja, wir sind in der Verlagskonzeption ganz konservativ und halten an Prinzipien wie Selbstermächtigung, Selbstaneignung von Wissen, selbst Initiative zu ergreifen fest. Daran hat sich bei uns nichts geändert. Daß die Gesellschaft sich drumherum gewandelt hat, sehen wir durchaus. Zur Zeit ist bei unserem Programm noch nicht wirklich sichtbar, daß wir auf eine Passivität oder Hoffnungslosigkeit in der Gesellschaft eingehen. Wir versuchen aber die Strömungen zu finden, die noch die Fahne der Aktivität hochhalten. So gesehen betrachten wir unseren Verlag immer auch als Sprachrohr für diejenigen, die Alternativen suchen oder anbieten wie zum Beispiel im Buch "Pfade durch Utopia" von Isabelle Fremeaux und John Jordan [1]. Unser Anliegen ist, dieses kämpferische Potential zum Ausdruck zu bringen.

SB: Ihr verfügt über eine theoretische Basis im Bereich des Situationismus. Könntest du vielleicht berichten, wie ihr dazu gekommen seid?

HM: Das ist ein wichtiger Punkt. In der anarchistischen Bewegung in Hamburg tauchte 1969 der Franzose Pierre Gallissaires auf, der aus Frankreich emigriert war, weil er die Niederschlagung der 68er-Bewegung in seinem Land nicht ertragen konnte. Daher entschied er sich dazu, das Land zu verlassen und einmal zu sehen, was er in Deutschland machen kann. Schließlich war er Deutschlehrer. Er war ungefähr fünfzehn Jahre älter als Lutz und ich und hatte die ganzen Situationisten im Gepäck. Von seinem Hintergrund her war er sehr belesen und kultiviert. Mit ihm hat sich Lutz sofort angefreundet. Noch bevor ich die beiden kannte, waren sie dicke Freunde. Gallissaires war quasi ein Mentor für Lutz, aber auch für die anarchistische Bewegung in Hamburg, weil die Situationisten, Rätekommunisten und die libertären Bestrebungen in Spanien hier in Deutschland überhaupt nicht bekannt waren. In Frankreich gab es hingegen über die libertären Bewegungen unendlich viel Bücher, Material und auch Bewußtsein.

Historisches Photo des Nautilus-Verlags - Foto: © by Nautilus-Verlag

Lutz Schulenburg, Frank Witzel, Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt auf der Frankfurter Buchmesse 1980
Foto: © by Nautilus Verlag

Ich kam kurze Zeit danach zum Verlag. Die beiden hatten seinerzeit eine Zeitschrift gegründet - die MaD -, in der Materialien, Analysen, Dokumente und Tendenzen aus diesem Bereich veröffentlicht wurden. Für uns war Pierre sehr wichtig, weil er auch wegen seines reiferen Alters einen großen Wissensvorsprung vor uns hatte. Zusammen mit ihm haben wir die situationistischen und rätekommunistischen Texte vom Französischen ins Deutsche übersetzt.

SB: Habt ihr etwas mit der Hamburger Buchhandlung Nautilus zu tun?

HM: Nein, die kam sehr viel später. Wir hießen damals schon Edition Nautilus und sind mit Thorwald Proll und Renate Fink befreundet gewesen. Sie kamen von Berlin nach Hamburg, um hier eine Buchhandlung zu eröffnen, und suchten damals einen Namen. Im ersten Überschwang beschlossen wir, diese Buchhandlung gemeinsam zu betreiben. Sie sollte Nautilus heißen und das Nautilus-Programm präsentieren. Aber wir wohnten damals in Bergedorf und sie hier in Altona. Das sind die beiden am weitesten auseinanderliegenden Stadtteile Hamburgs. Zudem ist es etwas anderes, eine Buchhandlung zu machen oder einen Verlag zu führen. Beides überforderte uns relativ schnell. Deswegen haben wir gesagt, behaltet den Namen und führt unser Programm, während wir den Verlag autonom weiterführten.

SB: Wie seid ihr auf den Namen gekommen?

HM: Den Namen hat Lutz entdeckt. Uns gefiel die vielschichtige Bedeutung; einmal als Muschel, das ist ja ein Kopffüßler, was wir damals als Namen für einen Verlag sehr passend fanden. Zudem hat er eine sehr schöne Gestalt. Diese Urmuschel gibt es schon seit über 100.000 Jahren. Und zum anderen als Unterseeboot mit Kapitän Nemo am Steuer, das hat uns gut gefallen.

SB: Wie groß war die anarchistische bzw. libertäre Bewegung in den 70er Jahren in Hamburg im Verhältnis zu der mehr parteikommunistisch organisierten Linken?

HM: Klein. Wir waren marginal, verglichen mit dem KB und ML-Strukturen. In Hamburg war der Kommunistische Bund immer tonangebend gewesen. Die Anarchos hatten nur einen Keller. Sie waren eine relativ kleine, sehr junge Bewegung, in der es auch viele Überschneidungen mit der Hausbesetzerszene gab, die selbst wiederum Überschneidungen mit dem aufkommenden bewaffneten Kampf hatte. Viele radikalisierte Jugendliche gingen damals in den 2. Juni oder zur RAF. Die Diskussionen über den bewaffneten Kampf und wie er zu führen sei wurden damals in den Anarcho-Kellern geführt. Da es nur ganz wenige Ältere gab, die noch aus der vorfaschistischen Zeit berichten konnten, war im Gegensatz zu anderen Ländern ein spürbarer Bruch in der Tradition des Widerstands zu erkennen. Wir haben damals zum Beispiel viele Genossen in London oder in Frankreich besucht. Da herrschte eine ganz andere Kontinuität in diesen Vorstellungen vor. Durch Deutschland war eben zwischendurch diese Dampfwalze gerollt, die auch dieses Gedankengut niedergewalzt hatte.

SB: Hattet ihr auch etwas mit der Ekhofstraßen-Besetzung 1973 zu tun? War das für euch ein wichtiges Thema?

HM: Das war ein wichtiges Thema. Wir sind dorthingegangen, waren aber nicht daran beteiligt. Wir haben diese Aktion eher kritisch beäugt.

SB: Kritisch in welchem Sinne?

HM: Wir nannten das solidarische Kritik. Ich kann jetzt nicht mehr genau sagen, was wir an der Ekhofstraße kritisiert haben. Auf jeden Fall sind wir dagewesen, fanden aber diese Verbunkerungsmentalität furchtbar. Selbst in Massenbewegungen wie Brokdorf waren wir immer eine kleine Gruppierung mit eigenen Aufklebern, die auch versuchte, die Politisierung als Spektakel zu hinterfragen. Die Militanz der Hausbesetzerszene fanden wir besonders schädlich für die freiheitliche Entwicklung des individuellen Reichtums an Ideen.

SB: Wie standet ihr zur Randgruppenarbeit?

HM: Randgruppenarbeit war für uns immer ganz wichtig, was übrigens für die ganze damalige Szene zutraf. Von der antiautoritären Szene bis in die RAF hinein waren Randgruppen und Antipsychiatrie wichtige Themen.

SB: Kennt ihr heute noch Traditionen, die das Thema Antipsychiatrie oder den linken Anspruch, Leute aus ihrer sozial mißlichen Lage herauszuholen, in irgendeiner Weise repräsentieren, oder ist das aus eurer Sicht inzwischen völlig passé?

HM: Darüber haben wir nicht explizit diskutiert. Allerdings ist es definitiv so, daß viele dieser Tendenzen in den allgemeinen gesellschaftlichen Zustand übergegangen sind. Lutz ist jetzt gerade selber im Krankenhaus gewesen. Auf seiner Intensivstation gab es drei ganz junge Ärzte, die bewußt gesagt haben, wir sind hier für sie jederzeit zuständig und entscheiden alles gemeinsam. Das hat es Anfang der 70er Jahre nicht gegeben. Karl Heinz Roth, der selber Arzt ist, hat Lutz besucht und gesagt, daß das, was sie damals in der sozialen Medizin entwickelt hätten, heute mehr oder weniger noch vorhanden sei. Natürlich ist es in den Krankenhäusern nicht immer präsent, aber die Idee und Tendenz sind in die normale Gesellschaft eingedrungen, weil diese Entwicklungen schon in das Studium der Medizin aufgenommen wurden.

SB: Andererseits haben wir es heute mit der Zurichtung des Menschen auf eine bestimmte Form der Leistung zu tun, die sich auch im biopolitischen Sinne - poststrukturalistisch gesagt - in seinen Körper und seinen Geist einschreibt. Da wäre durchaus Kritik zu leisten, die bisher relativ unterentwickelt ist.

HM: Das stimmt. Deshalb veröffentlichen wir im nächsten Programm ein Buch über Kybernetik, die auf das menschliche Leben übergreift und eine Selbstkontrolle in Richtung Leistung propagiert. Hier geht es nicht mehr um die klassische hierachische Kontrolle, sondern um Selbstkontrolle und Kontrolle von anderen. Es wird eine Netzwerkkontrolle angestrebt, die jeder intern und nach außen auf sein Gegenüber ausübt. Das Zusammengehen von Kybernetik und Kontrolle ist natürlich ein brisantes sozialpolitisches Phänomen mit besorgniserregenden Konsequenzen.

SB: Ihr habt das Buch "Fleischmarkt" von Laurie Penny herausgegeben. Darin geht es um bestimmte äußere Ideale, denen sich Mann und Frau zu unterwerfen haben. Hat das Buch Zuspruch gefunden?

HM: Ja, aber hauptsächlich wird es von Frauen gekauft. Es ist ein interessantes Buch, geschrieben von einer sehr wütenden und klugen Frau, die 26 Jahre alt ist. Das ist toll.

SB: Heute trifft man selten auf Menschen, die sich dagegen wehren, auf ihre Äußerlichkeit getrimmt zu werden.

HM: Das sind nicht nur Äußerlichkeiten. Es ist auch dieser unendliche Anspruch an Leistung und Kreativität, die man in seine Arbeitskraft integriert und als Arbeit verwertet. Das merken wir selber bei den Arbeitsprozessen im eigenen Verlag, die sich seit 1970 sehr verändert haben. Unmerklich ist da der Leistungsgedanke eingezogen. Eigentlich waren wir stets der Meinung, daß Leben und Arbeit eins sind und Genuß und Ideenreichtum dem Geist und nicht dem Kapital angehören. Aber wenn hier jetzt sechs Leute arbeiten, kann man das nicht mehr so locker sehen, und es wird klar, daß man sich selber derartigen Zwängen unterwirft.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Hanna Mittelstädt
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Versteht ihr euch denn als normaler Verlagsbetrieb oder habt ihr noch ein anderes berufliches Selbstverständnis?

HM: Letzteres sicherlich. Zum einen reflektieren wir unsere berufliche Praxis kritisch, zum andern zeigt unser Programm, daß sich inhaltlich nicht viel verändert hat.

SB: Ihr habt euch publizistisch auch für Basisbewegungen eingesetzt. Könntest du dazu ein Beispiel nennen?

HM: Wir habe bei Nautilus eine ganze Zeitlang ein zapatistisches Unterstützungsbulletin herausgegeben. Ich war bei der ersten Solidaritätskarawane direkt nach der Ausrufung des Kriegszustandes in Mexiko, wo wir dann mit einer internationalen Karawane von Mexiko-Stadt nach Chiapas gefahren sind. Danach sind Lutz und ich noch einmal zusammen nach La Realidad in das Zentrallager der Zapatisten gefahren und haben Interviews geführt. Für uns waren die Zapatisten eine wahnsinnig interessante Bewegung. Das gilt auch für die neueren Basisbewegungen, die deren indigene Werte des Palavers und der horizontalen Entscheidungsfindung mit den linken Vorstellungen von Gesellschaftskritik verbunden haben. Subcommandante Marcos ist als linker Metropolenmensch und Studierter in den Urwald gegangen und hat dort gelernt, geduldig zu sein. Fragend gehen wir voran, das war eine der Parolen, die die Zapatisten 1994 in die moderne Bewegung gebracht haben. Zur Jahrtausendwende waren diese Parolen für die metropolitanen Protestbewegungen sehr wichtig.

SB: Ihr gebt die Zeitschrift "Die Aktion" heraus. Gehe ich recht in der Annahme, daß das eher ein Zuschußgeschäft ist, das ihr aus prinzipiellen Gründen aufrechterhaltet?

HM: Das stimmt. Die Zeitschrift gibt es seit 1981. Ursprünglich ist der Verlag anläßlich der Herausgabe der Zeitschrift MaD - Materialien, Analysen, Dokumente - gegründet worden. Als dann die Satirezeitschrift MAD gegen uns geklagt und eine einstweilige Verfügung erwirkt hat, haben wir den Verlag und auch die Zeitschrift in "Revolte" umbenannt. Die "Revolte" war das Organ einer bestimmten Gruppierung von bis zu zwölf Leuten, die sich regelmäßig trafen und mit ihrer Kritik und Kohärenz an die Situationisten angelehnt waren. Als diese Gruppierung dann mehr oder weniger auseinanderbrach, hat Lutz, der weiterhin eine solche Zeitschrift herausgeben wollte, die Traditionslinie von Franz Pfemfert wieder aufgenommen, der die ursprüngliche "Aktion" in den 20er Jahren gemacht hat. Die Urform der "Aktion" stammt aus den späten 10er und frühen 20er Jahren. Pfemfert hat schon damals Literatur und Politik miteinander verknüpft. So hatte er einerseits die rätekommunistischen KAPD-Positionen und zum anderen die Avantgarde der Literaten des frühen 20. Jahrhunderts, unter anderem Franz Jung und Erich Mühsam, veröffentlicht.

SB: Lutz hat einmal uns gegenüber erklärt, daß die 68er-Bewegung für ihn eine Veränderung von so grundlegender Art war, daß sich seitdem in der politischen Positionierung prinzipiell nichts mehr geändert habe. Wie erlebt ihr es, wenn Positionen, die man einmal für richtig und erstrebenswert gehalten hat, in einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels immer mehr abbröckeln?

HM : Wir waren auch in den 68er oder 70er Jahren mit unserer Position weitgehend marginalisiert. Wir finden es gut, am Rand zu stehen. Wir empfinden uns frei - frei zu kritisieren, frei teilzunehmen, frei, unsere Position zu vertreten. Und wir stellen immer wieder fest, daß wir viele Bündnispartner haben, denn unsere Autoren sind irgendwie auch unsere Bündnispartner. Wer zu Nautilus will, kommt nicht, weil es hier große Vorschüsse gibt oder wir ein Parteiverlag sind, sondern weil ihn dieses Programm und diese Mischung aus Literatur, Politik und kämpferischer Haltung anspricht. Nein, wir fühlen uns in diesem internationalen Umfeld sogar gut aufgehoben. Für uns ist das keine Vereinzelung. Wir sind auch überhaupt nicht verbittert und frustriert, weil es immer wieder über all die Jahre neue Initiativen und wieder junge Leute gibt, deren Weg sich mit unserem kreuzt. In Hamburg gibt es die Recht-auf-Stadt-Bewegung und das Gängeviertel, die viele Ideen von uns übernommen haben. Natürlich sind sie neu gemischt, es ist alles ein Remix, und es tritt auch nicht unbedingt in der Radikalität auf, wie wir uns das wünschen, aber das macht nichts. Sie machen ihre Erfahrungen. Wir haben eher das Gefühl, daß es immer weitergeht.

SB: Wenn man als Verlag halbwegs bestehen will, muß man natürlich auch erfolgsorientiert arbeiten. Ihr habt zum Beispiel einige erfolgreiche Krimis verlegt. Wie geht ihr damit um, daß ihr in gewissem Ausmaß natürlich auch verlegerische Entscheidungen treffen müßt, die euch Zugeständnisse abverlangen?

HM: Der Riesenerfolg mit "Tannöd" war ein reiner Glücksfall. Als Verleger kann man keinen Erfolg planen und machen, jedenfalls nicht mit sowenig Geld, wie uns zur Verfügung steht. Inzwischen haben wir viel Durchsetzungsvermögen, Kraft und Berufserfahrung. Wir sind sehr gut vernetzt, wir haben viele Freunde und kennen viele Leute, die an der richtigen Stelle gerne etwas für uns tun. "Tannöd" ist letztendlich ganz langsam losgegangen, kam dann in die Krimi-Weltbestenliste und erhielt schließlich den ersten Krimipreis. Da wir als engagierter Verlag einen sehr guten Leumund haben, fragten sich viele um uns herum: Was können wir denen Gutes tun? Als die Chance da war, haben sie es getan. "Tannöd" kam eben zur richtigen Zeit in unseren Verlag. Viele Gründe spielten da eine Rolle, und natürlich haben wir unsere ganze verlegerische Erfahrung hineingelegt und die Trommel gerührt, so daß das Buch letztlich bei einer Million Exemplare gelandet ist. Das hätten wir 1975 nicht geschafft. Das schaffen wir erst jetzt nach fast 40 Jahren Verlagserfahrung. Ansonsten bewegen wir uns mehr in diesem allgemeinen kleinen Kreis der Mischkalkulation mit Auflagen zwischen 1000 und 5000 Büchern. Wenn man Glück hat, kommt man bei einem Autor einmal auf 10.000 Exemplare, aber meistens bleibt man doch unter 3000.

SB: Habt ihr schon einmal Bücher aus politischen Gründen abgelehnt?

HM: Natürlich, am laufenden Meter.

SB: Da habt ihr durchaus Prinzipien?

HM: Ja klar. Wir machen wirklich nicht alles. Das Schlupfloch, um bei Nautilus reinzukommen, ist schmal. Das müssen nicht unbedingt politische Gründe sein. Ein Manuskript muß uns auch wirklich gefallen, und wir müssen mit dem Autor zusammenarbeiten können. Auch die Form, die als Literatur oder Sachbuch gewählt wurde, muß uns zusagen. Das Buch "Pfade durch Utopia" von John und Isa ist beispielsweise ein Hybrid aus politischem Erfahrungsbuch und Roadmovie. Es hat auch noch einen Film und ist als Reisebuch konzipiert. Das gefällt uns, auch wenn es schwer zu verkaufen ist.

SB: Mit dem Buch "Der kommende Aufstand" habt ihr einiges Aufsehen erregt.

HM: Das stimmt.

SB: Die von euch übersetzte Ausgabe des 2007 unter dem Titel "L'Insurrection qui vient" auf französisch vom Comité invisible veröffentlichten Essays ist relativ viel in der Presse besprochen worden, unter anderem in der FAZ und verschiedenen großen Zeitungen.

HM: Ja, da hat sich die Presse überschlagen.

SB: Wie erklärst du dir, daß ein Buch von dieser Radikalität von der bürgerlichen Presse so stark reflektiert wird?

HM: Für uns war das völlig überraschend. Wir haben gedacht, okay, wir machen das mal, denn es entspricht unserer Traditionslinie, aber wir haben wirklich nicht gedacht, daß sich das Buch so gut verkauft. Wir haben lange überlegt, ob wir das überhaupt machen sollen. Das war in der Zeit, als Stuttgart 21 heftige Wellen in Deutschland geschlagen hat. Es entsprach auch im Feuilleton einer Art von Überdruß, so daß die FAZ einen Riesenaufmacher daraus gemacht hat, und zwar mit großer Faszination gegenüber diesem Freigeist. Man muß allerdings sagen, daß das Buch wirklich sehr gut geschrieben ist. Es ist etwas Besonderes und spiegelt diesen französischen Stil wider, dessen Traditionslinie wir seit den Situationisten etwas pflegen. Es ist ganz klar in der Folge der Situationisten mit dieser großen Geste geschrieben worden und paßt deshalb sehr gut zu uns, auch wenn wir unseren eigenen Büchern natürlich mit einer gewissen Distanz gegenüberstehen.

SB: Die deutsche Ausgabe des Buches erschien ein Jahr vor den Riots in England 2011. In der Linken gab es damals sehr kontroverse Diskussionen über die politische Bewertung dieses Jugendaufstandes. Dennoch gibt es eine Beziehung zum Buch, weil das Spontaneistische darin eine gewisse Rolle spielt. Wie bewertest du aus Sicht eurer Tradition, daß solche Erhebungen plötzlich losbrechen? Seht ihr euch genötigt, sie zu verurteilen, weil natürlich auch Unrecht begangen wurde?

HM: Nein, wir verurteilen sie nicht, und wir beurteilen sie auch nicht im Sinne von richtig und falsch, wie die Linke das immer mit diesem oberlehrerhaften Ton tut. Ich will ein Beispiel dazu geben. "Der kommende Aufstand" ist von den Linken total kritisiert worden. Wir mußten jede Menge Veranstaltungen machen, weil die Linken kein Verhältnis gefunden haben zu dem, was dieser Literatur oder diesem Text an Lebenswillen, Lebensgefühlen, aber auch an Überdruß und frustriertem Gestaltungswillen zugrunde liegt. Natürlich haben die Aufstände in Frankreich und England ihre Beschränkungen, das ist ganz klar. Es fehlt die Reflexion. Es ist der direkte Ausdruck eines Überdrusses. Darüber muß man diskutieren. Da müssen Fortschritte gemacht werden in Richtung: "Was spielt sich hier eigentlich ab?" Wichtig daran zu verstehen ist, daß sie Ausdruck einer total frustrierenden Situation marginalisierter Jugendlicher sind. Diese Situation muß geändert werden.

SB: In der jungen Welt wurde im Januar [2] ein Artikel über Franz Jung veröffentlicht, der dem von Lutz verfaßten Nachwort zu dessen von euch wiederaufgelegten Erstlingswerk "Das Trottelbuch" entnommen wurde. Dieser Autor ist nie erfolgreich gewesen. Kaum jemand kennt ihn und doch habt ihr eine Gesamtausgabe verlegt, die wahrscheinlich ordentlich in die Bilanz schlägt. Warum macht ihr so etwas?

HM: Aus Begeisterung. Diese Franz-Jung-Werkausgabe wollten wir auch zu Ende führen, obwohl sie für den Verlag schon grenzwertig war, weil wir weder eine Planung noch ein Budget gemacht hatten. Wir haben einfach angefangen, auch weil wir so ein tolles Netzwerk hatten, unter anderem mit DDR-Autoren. Wir haben eine seiner Frauen, Claire Jung, die damals noch in der DDR lebte, besucht und dann Manuskripte herausgeschmuggelt. Wir hatten dann außerdem Fritz und Sieglinde Mierau, die in Ostberlin zu Franz Jung geforscht haben, und die westdeutschen Forscher aufgesucht. Das war total spannend. Wir haben eine hohe Meinung von diesem Autor, seine Texte sind auch heute noch großartig, seine Autobiographie ist fulminant. So etwas gibt es nicht ein zweites Mal. Wir haben dann gesagt, okay, wir machen es. Bis zum zwölften Band haben wir durchgehalten, aber dann mußte Schluß sein. Wir haben in dieser Zeit zweimal einen Verlagspreis gewonnen, so daß ein Teil der Gelder wieder zurückgeflossen ist.

SB: Gab es Reaktionen aus literaturwissenschaftlichen Kreisen?

HM: Relativ wenig.

SB: Oder eine gewisse Anerkennung, weil ihr Verschollenes aufgearbeitet habt?

HM: Ja, aber es ist keine Kanon-Literatur geworden. Dafür ist Franz Jung dann doch zu sperrig.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Hanna Mittelstädt
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Wir erfahren heute im Literaturbetrieb eine starke Sprachveränderung, zum einen durch die Anglifizierung und zum anderen inhaltlicher Art, indem einzelne Begriffe zu Trägern und Werkzeugen politischer Anschauungen verabsolutiert werden. Wie ist eure Einstellung dazu? Habt ihr einen bestimmten Bezug zur deutschen Sprache als einer Schriftsprache oder auch Ausdrucksform, die es gegen solche Tendenzen vielleicht zu bewahren gilt?

HM: Ja, auch wenn wir nicht explizit Verteidiger der deutschen Sprache sind. Wir sind jedoch der Ansicht, daß Sprache hybrid ist und sich verändern kann. So gesehen ist Sprache immer auch den gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt und wird zum Beispiel durch Migrationen verändert. Das ist alles schön und lobenswert, aber diese kritiklose Übernahme der Anglizismen tut der deutschen Sprache nicht gut. Wir arbeiten sehr an der Sprachqualität und hinterfragen die neuen Entwicklungen immer.

SB: Es gibt zumal in der antifaschistischen Linken den Hang, auf Transparenten keine deutschen, sondern englischsprachige Parolen zu benutzen.

HM: Das ist schon ziemlich abwegig. Sprache ist einerseits ein Herrschaftsinstrument, aber andererseits auch das Instrument der Aufklärung. Sprache gehört den Menschen, aber sie ist auch nicht national verortbar. Sie ist ein Kommunikationsmittel für einzelne Menschen, die sich miteinander verständigen. In diesem Sinne ist sie zu wichtig, als daß man einfach beschließt, das Deutsche nicht mehr zu benutzen, nur weil es eine schlechte deutsche Vergangenheit gibt. Es gibt ja auch ganz hervorragende deutsche Vergangenheiten.

SB: Exilliteratur zum Beispiel oder auch Sprachkulturen wie die von Franz Jung.

HM: Genau, er hat seine Sprache geprägt und irgendwie auch einen eigenen Schreibstil entwickelt. Unsere Autoren haben eigentlich alle ihren eigenen Ton. Für uns ist Sprachqualität und Sprache als Ausdrucksform an sich sehr wichtig.

SB: Als ihr ein Buch von Karl Eduard von Schnitzler verlegt habt, hat das Aufsehen erregt. Wie ist es dazu gekommen?

HM: Das ist eine witzige Geschichte. Die Titanic hatte 89/90 eine Kolumne von Karl Eduard von Schnitzler unter dem Titel "Der rote Kanal" geführt. Früher hieß seine Sendung im DDR-Fernsehen "Der schwarze Kanal". Eines Tages rief uns der zuständige Redakteur der Titanic an und sagte: Ihr seid doch mutig, habt ihr nicht Lust, von ihm etwas zu veröffentlichen? Das ist doch Realsatire. Wir haben uns sein Buch angeschaut und gedacht, als Provokation ist das eigentlich nicht schlecht. Sein erstes Buch hat sich wirklich gut verkauft. Das Zusammentreffen mit Karl Eduard von Schnitzler war wirklich interessant. Er war schließlich der Verlierer. Als er hier ankam, sagte er, wir müssen einige Sachen noch einmal diskutieren. In seinem Auftreten war er keineswegs arrogant, sondern schien eher auszudrücken, wir haben etwas falsch gemacht. Mit dem "wir" bezog er sich offenbar auf die DDR-Prominenz. Unser Verlag ist völlig unempfänglich für Parteibonzen oder -disziplin, und von daher hatten wir überhaupt keine Problem mit dem Gespräch. Er hat bei uns auf der Coach geschlafen, weil wir damals nur eine kleine Wohnung hatten. Wir gingen um die Ecke zum Chinesen essen. Für eine Weile war diese Zusammenarbeit sehr interessant. In der Zeit des Umbruchs in Deutschland 89/90 war das noch möglich, aber irgendwann ging das nicht mehr.

SB: Wie würdet ihr aus heutiger Sicht die sogenannte Wiedervereinigung bewerten?

HM: Das war natürlich keine Vereinigung in dem Sinne, sondern eine Übernahme. Wir haben damals die unabhängigen Bestrebungen unterstützt - die Vereinigte Linke, nicht das Neue Forum. Die Vereinigte Linke in der DDR waren kleinere Gruppierungen, die zunächst einmal für eine neue Diskussion einstanden. Sie wollten keine Vereinigung oder die D-Mark. Lutz ist damals hingefahren und hat mit den Leuten diskutiert. Die hatten auch einen irrsinnigen Nachholbedarf an libertärer Orientierung.

SB: Hanna, vielen Dank für das lange Gespräch und viel Glück für den Nautilus-Verlag.

Türschild des Nautilus-Verlages - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] https://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar592.html

[2] http://www.jungewelt.de/2013/01-21/015.php

20 April 2013