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INTERVIEW/137: 24. Linke Literaturmesse - Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft Algeriens ...    Donata Kinzelbach im Gespräch (SB)


Donata Kinzelbach ist Literaturwissenschaftlerin und leitet den 1987 gegründeten Kinzelbach Verlag in Mainz, der auf Literatur aus dem Maghreb in deutscher Erstübersetzung spezialisiert ist. Ihr Verlag war erstmals auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg vertreten.


Mit einer Ausgabe des Buches 'Im Aufbruch' von Amin Khan - Foto: © 2019 by Schattenblick

Donata Kinzelbach
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie sind jetzt das erste Mal hier auf der Literaturmesse in Nürnberg. Warum eine linke Messe?

Donata Kinzelbach (DK): Meine Literatur ist natürlich durch die Ausrichtung Maghreb sehr politisch, auch wenn es Belletristik ist, und normalerweise gehe ich nach der Frankfurter Buchmesse auf die Buchmesse nach Algier, so daß ich bisher nie hierher kommen konnte, obwohl ich das immer schon wollte. Aber jetzt sind ja Wahlen in Algerien angesetzt, und niemand konnte sagen, ob die Situation dort eskaliert. Deswegen sagte ich diesmal, okay, da gehen wir nicht hin und versuchen es mal in Nürnberg.

SB: Leisten Sie selbst Übersetzungsarbeit?

DK: Nein, ich bin Literaturwissenschaftlerin und suche die Sachen aus, die dann von Fachleuten übersetzt werden, von literarischen Übersetzern, entweder aus dem Französischen oder aus dem Arabischen.

SB: In welchem Rahmen reflektieren Sie die politischen Umstände in der Region?

DK: Ich bin natürlich politisch sehr engagiert und positioniere mich überall. Ich bin einfach für ein freies Algerien, für einen freien Staat mit rechtstaatlichen Ideen - Meinungsfreiheit, Menschenrechte und natürlich Freiheit des Wortes -, das ist ganz klar.

SB: Der Nahe und Mittlere Osten ist seit Jahrzehnten in Aufruhr, wo würden Sie die Hauptursache dafür ansiedeln?

DK: Es ist wie überall die Unterdrückung des Volkes. In Algerien passiert einfach exorbitant Gutes, seit dem 22. Februar gehen Millionen Leute auf die Straßen, und das völlig friedlich! Nachher säubern die Demonstranten, die sich dafür verantwortlich fühlen, das zu organisieren und friedlich zu handhaben, die Straßen. Das ist einfach beeindruckend.

SB: Der Arabische Frühling ist durch zum Teil von außen in die Region hineingetragene Kriege gescheitert. Sehen Sie eine reale Chance dafür, daß die Menschen in den Arabischen Staaten, nicht nur in Algerien, von unten etwas Neues aufbauen?

DK: Wir schauen mit unserem westlichen Blick und denken, okay, wenn der Diktator, egal in welchem Land, erst einmal weg ist, dann wird es besser. Aber daß dann erst einmal ein Vakuum entsteht, das Rechtsunsicherheit hervorruft und damit auch allen Auswüchsen Tür und Tor öffnet, das darf man natürlich nicht unterschätzen. Dazu kommt eine Unsicherheit in der Bevölkerung, die gar nicht weiß, was jetzt angesagt ist, das ist wirklich sehr schwierig. Man muß einfach sagen, wir können nicht unser westliches Demokratieverständnis auf Länder anwenden, die nicht demokratieerfahren sind. Bei uns hat das auch gebraucht, bis sich Demokratie etabliert hat. Das braucht überall Zeit, da müssen wir einfach Geduld haben.

SB: Der Maghreb ist in Frankreich besonders präsent durch die vielen von dort stammenden Menschen. Wie sehen Sie die Rolle Frankreichs im Nahen und Mittleren Osten auch in Hinsicht auf die Kolonialgeschichte?

DK: In Marokko läuft alles moderater ab, in Tunesien auch, in Algerien ist man sehr dezidiert gegen Frankreich eingestellt. Man muß allerdings auch sagen, es war eine 132jährige Kolonialzeit, die extrem blutig und brutal endete. Beide Seiten sind mit sehr viel Grausamkeit vorgegangen. Wenn ich in Algerien bin und mit den jungen Leuten rede, dann sagen die: Hey, du bist doch Europäerin, laß uns Englisch reden, wir brauchen die Kolonialsprache nicht! Die jungen Leute können Englisch und sprechen natürlich Arabisch, weil das ihre Identität ist. Von daher ist Sprache auch Identität, und die Identität wurde ihnen sehr lange durch diese Zwangsfranzösisierung genommen. Ganze Generationen waren französisch sozialisiert worden und auch nicht in der Lage, arabisch gut zu schreiben.

SB: Welches Werk aus Ihrem Verlagsprogramm liegt Ihnen besonders am Herzen?

DK: Ich möchte natürlich gerne auf das Buch von Amin Khan "Im Aufbruch" hinweisen. Das ist ein Sammelband, in dem es genau um diese friedlichen Demonstrationen seit dem 22. Februar geht. Das Buch ist auch in Algerien ganz neu herausgekommen, und ich habe sofort zugegriffen. Das interessiert mich natürlich. Mich interessieren die jungen Leute, die bei den Demonstrationen die Mehrheit darstellen, auch wenn alle Generationen vertreten sind. Aber die jungen Leute sind wirklich federführend, insbesondere die Studenten. Die jungen Leute sind einfach unsere Zukunft, egal wo. Man muß hinschauen: Was sind deren Bedürfnisse, deren Anliegen, deren Nöte oder Visionen? Und das muß man ernst nehmen.

SB: Inwiefern ist die heutige Jugend in Algerien sich des Befreiungskrieges bewußt? Gibt es so etwas wie eine historische Kontinuität im Bewußtsein auch junger Menschen?

DK: Doch natürlich, das ist auf jeden Fall gegeben. Auf der Buchmesse in Algier gibt es endlos viele historische Bücher. Das macht einem als Europäer fast schon zu schaffen, weil das immer und immer wieder thematisiert wird, besonders die Traumata der Kolonialzeit. Dies wird auch im Unterricht immer wieder behandelt, das ist sowas von präsent!

SB: Wie gefällt es Ihnen hier auf der Messe?

DK: Es gefällt mir hier sehr gut, es ist ein total angenehmer Rahmen, das hatte ich auch nicht anderes erwartet, mit supernetten Kollegen, einem interessierten Publikum, perfekt.

SB: Frau Kinzelbach, vielen Dank für das Gespräch.


Stand des Kinzelbach Verlages - Fotos: © 2019 by Schattenblick Stand des Kinzelbach Verlages - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Aus dem Verlagsprogramm
Fotos: © 2019 by Schattenblick


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29. November 2019


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