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INTERVIEW/132: 24. Linke Literaturmesse - Straße frei für morgen ...    Peter Wahl im Gespräch (SB)


Interview am 2. November 2019 in Nürnberg


Peter Wahl hat Gesellschaftswissenschaften und Romanistik in Mainz, Aix-en-Provence und Frankfurt/Main studiert, ist Gründungsmitglied von Attac Deutschland, Sachbuchautor und Vorstandsvorsitzender der Nichtregierungsorganisation Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung (WEED).

Im Rahmen der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte er das von ihm herausgegebene Buch "Gilets Jaunes - Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung" [1] vor, das 2019 beim PapyRossa Verlag erschienen ist. Im Anschluß an die Buchvorstellung [2] beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


In einem Flur der Kulturwerkstatt auf AEG - Foto: © 2019 by Schattenblick

Peter Wahl
Foto: © 2019 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Die Besetzung der zahlreichen Kreisverkehre in Frankreich durch die Gilets Jaunes war in pragmatischer Hinsicht ein höchst geeignetes Vorgehen, dem Protest wirksam Ausdruck zu verleihen. Könnte man grundsätzlich davon ausgehen, daß die Arbeitskämpfe in der Produktionssphäre an Bedeutung gegenüber den Auseinandersetzungen in der Zirkulationssphäre und auf den Transportwegen des globalisierten Kapitalismus verlieren?

Peter Wahl (PW): Ja, das kann man eindeutig sagen. Die Brennpunkte der Bewegung waren die Kreisverkehre, aber auch die Parkplätze von Supermärkten, auch das war ein wichtiges Terrain. Das spielt sich alles in der Zirkulationssphäre ab, da setzen die Gilets Jaunes mit ihrem Protest an, das ist völlig richtig. Das hängt auch damit zusammen, daß es heute an den Arbeitsplätzen dieser Leute ungeheuer schwer ist, im betrieblichen Bereich Protest und Opposition zu organisieren. Sie haben ja nicht die Beschäftigten der Supermärkte zusammengeholt und im Supermarkt den Verkauf bestreikt, um das System dort lahmzulegen, sondern sie sind an die Kreisverkehre gegangen. Das ist ein völlig anderer Ansatz, der aber zweifellos seine interessanten und positiven Seiten angesichts der Sichtbarkeit hat, die diese Aktionen in der Gesellschaft haben. Wie man dazu wissen muß, ist Frankreich das Land der Kreisverkehre, laut Wikipedia sind die Franzosen Weltrekordhalter mit landesweit 30.000 Kreiseln. Insofern gibt es auch einen ganz pragmatischen, naheliegenden Grund, warum das so eine wichtige Rolle gespielt hat.

SB: Da die Gilets Jaunes die Prinzipien von Hierarchie, Delegation und überregionalen Strukturen ablehnen, bewahren sie den Charakter einer Basisbewegung. Sie laufen jedoch Gefahr, auf lange Sicht ihren Schwung und ihre Mobilisierungsfähigkeit einzubüßen und damit an Bedeutung und Wirksamkeit zu verlieren. Sie kamen indessen zu großen Versammlungen zusammen, auf denen sie gemeinsame Forderungen formulierten. Wäre das ein möglicher Weg, die programmatische Arbeit fortzusetzen und die Bewegung zu konsolidieren, ohne die Grundprinzipien preiszugeben?

PW: Es hat drei solcher großen nationalen Versammlungen der Gilets Jaunes gegeben. Man muß aber dazusagen, daß lediglich etwa die Hälfte der Bewegung tatsächlich daran teilgenommen hat, während die andere Hälfte sie entweder ignoriert hat oder ihnen bewußt ferngeblieben ist. Insofern ist dieser Versuch, die Selbstorganisation auf eine überregionale Ebene zu heben, sehr problematisch verlaufen, weil damit einherging, daß ein erheblicher Teil der Bewegung das nicht mitmacht oder sogar verlorengeht. Das ist ein Dilemma bei solchen überregionalen Ansätzen, die sinnvoll und notwendig sind, denn es ist nicht gelungen, die Bewegung wenigstens zu 80 Prozent zu diesen Selbstorganisationsprozessen mitzunehmen.

SB: Die Gilets Jaunes hegen eine grundlegende Abneigung gegen Politik und deren Repräsentanten. Eine ähnliche Ablehnung findet man auch bei den Fridays for Future, wenngleich das ein anderer Zusammenhang und eine jüngere Generation ist. Könnte man diese Aversion gegen Vertreter von Organisationen und Parteien als ein generelles Phänomen bezeichnen, das die neuen Bewegungen auszeichnet?

PW: Da gibt es sicherlich einige Ähnlichkeiten, was die Distanz gegenüber Parteien und anderen Organisationen betrifft. Die Fridays for Future haben jedoch von Anfang an eine überregionale Organisationsstruktur entwickelt. Es findet jede Woche eine bundesweite Telefonkonferenz statt, bei der Absprachen getroffen und Aktionen geplant werden. Das haben die Gilets Jaunes nie getan. Insofern ist das mit Blick auf die politische Kultur und die Selbstorganisation ein beträchtlicher Unterschied. Die Fridays for Future neigen eher zu traditionellen Formen der Selbstorganisation.

SB: In welchem Maße ist bei den Gilets Jaunes die Vernetzung über die sozialen Medien ein wichtiges Mittel der Kommunikation, um bestimmte Aktionen und Vorgehensweisen abzusprechen und vielleicht sogar Inhalte auf diesem Weg zu transportieren und weiterzuentwickeln?

PW: Was bei den Gilets Jaunes von Anfang an und auch in der Folge für den gesamten Prozeß wichtig war, ist die Vernetzung über das Internet, insbesondere über Facebook. Das hat einen gewaltigen Effekt, an den die traditionellen Organisations- und Mobilisierungsformen überhaupt nicht mehr heranreichen. Das geht alles so schnell, so breit, so intensiv, daß demgegenüber die herkömmlichen Gewerkschaftsaufrufe und das Kleben von Plakaten in Szenekneipen natürlich total veraltet sind. Wenngleich natürlich auch die Gewerkschaften und linken Organisationen längst versuchen, die sozialen Medien zu nutzen, war das für den Erfolg der Anfangsmobilisierung der Gilets Jaunes geradezu konstitutiv, weil es so gut funktioniert hat. Diese Aktion im Disneyland, von der ich erzählt habe, ist im Grunde nur über das Netz zustande gekommen. Und möglicherweise gibt es dann natürlich auch ein Feedback.

Der mediale Erfolg der Bewegung auch in den traditionellen Medien wie Zeitung, Funk und Fernsehen hat bei den Gilets Jaunes vielleicht den Eindruck erweckt, daß es auch anders funktioniert und man die klassischen Medien überhaupt nicht mehr braucht. Ich gehe jedoch davon aus, daß zumindest ein Teil der Bewegung die Erfahrung macht und sich dessen bewußt wird, daß ohne diesen Echoraum der traditionellen Medien die Mobilisierung auf Dauer nicht haltbar ist. Diese Erfahrung machen sie jetzt, und man wird sehen, ob sie daraus die Schlußfolgerung ziehen, zwar nicht exklusiv und ausschließlich, aber doch anteilig die herkömmlichen Organisationsformen inklusive von Repräsentation wie Delegierte und ein gewisses Maß an Formalisierung anzustreben.

Das müssen sie auch deswegen, weil ein Projekt, das sie ausgewählt haben, ein Referendum gegen die Privatisierung der Pariser Flughafens ist. Gegen diesen Plan der Macron-Regierung formiert sich Protest, und es läuft bereits ein Verfahren, um ein Referendum in Gang zu setzen, wofür landesweit zwei Millionen Unterschriften erforderlich sind. Die Gilets Jaunes haben das nicht allein beschlossen, reihen sich aber in diese Kampagne ein. Um effektiv vorzugehen und diese zwei Millionen Unterschriften tatsächlich zusammenzubekommen, ist es natürlich notwendig, sich auch überregional abzusprechen und zu koordinieren. Das mag vielleicht in Toulouse leichter sein, aber Montpellier ist dann schon wieder ein ganz anderer Fall. Man muß sich also gut überlegen, wie man von überall her Unterschriften bekommt. Das ist eine Aufgabe, die in der Fläche geleistet werden muß, und daher führt meines Erachtens kein Weg an einer überregionalen Organisierung vorbei oder das Vorhaben scheitert.

SB: Ist eine Basisbewegung ohne regionale und überregionale Strukturen, die dennoch auf lange Sicht mobilisierungsfähig bleiben will, demnach ein Widerspruch in sich? Oder könnte man davon ausgehen, daß die Menschen, die Erfahrungen bei den Gilets Jaunes gemacht haben, diese an anderen Fronten weitertragen, ohne daß man dies unmittelbar als einen Fortbestand der ursprünglichen Bewegung erkennen könnte?

PW: Ja, das kann sein, und es wäre sicherlich interessant, einmal jene Leute, die nicht mehr in der Bewegung aktiv sind, in soziologischen Analysen zu erfassen. Wie sind ihre Motivlagen beschaffen, welche Auffassungen vertreten sie heute, wie sieht ihre eigene Praxis aus? Da müßte man vielleicht mal ein bißchen Feldarbeit machen.

SB: Was könnte auf eine Basisbewegung wie die Gilets Jaunes folgen, um die angestoßene Entwicklung weiterzuführen? Welche Organisationsformen wären denkbar und günstig, wie sollte ein zukunftsfähiges Modell emanzipatorischer Kämpfe beschaffen sein?

PW: Ich glaube, daß man eine kluge Kombination aus diesen Mobilisierungsformen der Gilets Jaunes und traditionellen Formen finden muß, die möglichst die negativen Seiten beider Konzepte vermeidet und versucht, eine Synthese aus den produktiven, positiven Momenten herbeizuführen. So könnte ich mir einen Weg vorstellen, der eine Vorwärts- und Höherentwicklung möglich macht.

SB: Vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] Peter Wahl (Hg.): Gilets Jaunes - Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung, Neue Kleine Bibliothek 274, PapyRossa Verlag Köln 2019, 135 Seiten, 12,90 EUR, ISBN 978-3-89438-705-1

[2] Bericht zur Buchvorstellung:
www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbbr0107.html


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
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18. November 2019


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