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INTERVIEW/117: Messe links - am Rande der Revolution ...    Gerd Stange im Gespräch (SB)


Interview am 3. November 2018 in Nürnberg


Gerd Stange leitet zusammen mit Astrid Schmeda die Edition Contra-Bass [1], verfaßt eigene Bücher und ist als Übersetzer tätig. Auf der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg war der Verlag mit einem Stand präsent, an dem er dem Schattenblick einige Fragen zur Entwicklung der Linken in der Bundesrepublik seit 1968 und zu seinen politischen Positionen beantwortete.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Gerd Stange
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Gerd, wie bist du dazu gekommen, dich für linke Politik zu interessieren?

Gerd Stange (GS): Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich bin 1944 unter den Bomben in Hamburg geboren. Meine Großmutter war eine liberale Frau, die ihr freiheitliches Denken in der FDP in Hamburg auch politisch umzusetzen versucht hat. Mein Vater war in seiner Jugend einmal Kommunist und freiheitlich gesinnt gewesen. Von daher war der Freiheitsgedanke immer schon in unserer Familie verankert, aber natürlich im Rahmen der BRD. Was für mich eine große Rolle gespielt hat, war praktisch der faschistische, der braune Untergrund in der Gesellschaft, vor allen Dingen in der Schule. 1964 habe ich Abitur gemacht. Die Abiturzeitung wurde aufgrund eines Artikels, den ich geschrieben hatte, verboten. Wir durften sie nicht in der Schule verkaufen. Es war klar, daß wir antiautoritär gesinnt waren und freiheitliche Ideen hatten.

Im Grunde war 1967 der entscheidende Punkt, den Kapitalismus abzulehnen, das waren die Ereignisse in Berlin mit dem Tod von Benno Ohnesorg. Für mich ist nicht Mai 1968, sondern der 2. Juni 1967 das Datum der Studentenbewegung. Der Eingriff der USA in Vietnam, nachdem die Franzosen schon die Schlappe erlitten hatten, hat deutlich gemacht, was dieses pseudofreiheitliche Regime der USA auch an Verbrechen auf dem Buckel hatte. Von daher trieb mich die Suche nach einer Alternative an. Die Alternative war aber verstellt, denn der Kommunismus hatte schon in Ungarn gezeigt, daß diese Art von Staatspseudokommunismus nicht die Zukunft sein könnte. Nach dem Prager Frühling, der noch einmal Hoffnung brachte, daß vielleicht doch ein dritter Weg möglich ist - zumindest wurde er ja in der Tschechoslowakei propagiert -, war endgültig klar, daß weder im Ostblock noch im Westblock die Zukunft liegt.

SB: Im Zusammenhang mit Jugoslawien als sozialistischem Staat zwischen den Großmächten war häufig von der Blockfreienbewegung die Rede. Wäre das in der Welt der existierenden Systeme für dich ein gangbarer Weg gewesen?

GS: Ein dritter Weg wäre gewesen, wenn es möglich gewesen wäre, diesen Staatskommunismus so zu transformieren, daß daraus eine freiheitliche Gesellschaft entstehen kann. Tatsächlich war das Programm von Ota Sik [1] kein antikapitalistisches, sondern er hatte im Grunde dasselbe vor, was Lenin schon einmal nach dem Putsch, mit dem er an die Macht gekommen war, propagiert hatte. Sik hat dessen Konzept einer Neuen Ökonomischen Politik wieder aufgegriffen und versucht, eine Markwirtschaft im Kommunismus einzuführen, was ein Widerspruch in sich ist. Man kann nicht den Kapitalismus im Kommunismus einführen. Das geht nicht, wenn schon, dann muß man etwas Neues suchen. Insofern war dieser dritte Weg nicht wirklich eine Alternative, aber die Hoffnung, daß sich in der Tschechoslowakei eine Reformbewegung entwickeln kann, und zwar von unten, gestützt durch eine Partei, die sah, daß es anders nicht ging, war groß.

SB: Wie ging es für dich weiter in den 70er Jahren? Hast du dir Gedanken darum gemacht, wie man das Erreichte verteidigen und erhalten, vielleicht sogar vorantreiben kann?

GS: Es gibt ja viele, die sagen, 1967/1968 war eine revolutionäre Situation. Das könnte man vielleicht für Frankreich behaupten und diskutieren, aber für Deutschland mit Sicherheit nicht. Hierzulande war es vielmehr eine kulturrevolutionäre Situation, wo es praktisch darum ging, die braunen Gespenster zu verjagen und in allen kulturellen Bereichen neue Ideen umzusetzen. Das war Ende der 60er Jahre noch eine ganz offene Situation und auch offene Debatte gewesen, in der die Gewaltfrage noch nicht entschieden und auch keine Spaltung vorhanden war.

Ich habe genauso Ulrike Meinhof und Carlos Marighella über die Stadtguerilla wie auch Marx gelesen. Die Hauptarbeit in der damaligen Zeit bestand für mich wie für viele andere darin, aufzuarbeiten, was es an politischen Alternativen gibt. Da gab es zum einen den Rückblick, der viele dazu verführt hat, sich auf frühere Positionen zu berufen, die eigentlich schon bewiesen hatten, daß sie nicht tauglich sind, aber die Spaltung in die vielen verschiedenen linken Kleingruppen war noch nicht vollzogen. Es hat noch eine offene Diskussion gegeben. Ich glaube, das Kursbuch hat damals eine große Rolle gespielt. Es gab eben doch etliche Denker, die politisch aktiv waren und versuchten, in Richtung von etwas Neuem zu denken.

Für mich war Rudi Dutschke sicherlich einer der wichtigsten, und er ist es auch weiter geblieben. Wir waren auch zusammen in einer linken Organisation, die kaum bekannt ist, aber theoretisch und inhaltlich sehr einflußreich war. Zum Sozialistischen Büro in Offenbach gehörten nicht nur Rudi Dutschke, sondern auch Oskar Negt und Elmar Altvater. Das hat dann zum einen dazu geführt, eine Kapitalarbeitsgemeinschaft zu machen, wo die eine Hälfte undogmatische Linke und die andere Anhänger der Frankfurter Schule waren, die versucht haben, Marx weiterzudenken, und zum anderen zu der Organisierung in einer Hamburger Gruppe des Sozialistischen Büros, wo wir gesagt haben, wir versuchen, in unserem Hamburger Raum gesellschaftlich Einfluß zu nehmen.

SB: Bezog sich der organisatorische Ansatz des Sozialistischen Büros auf die Einflußnahme über Theoriebildung?

GS: Nein, ich glaube, er ist gewachsen auf den Ideen des Anarchosyndikalismus, die auch bei Rudi Dutschke eine Rolle gespielt haben. Das heißt, in allen gesellschaftlichen Bereichen, in denen ich arbeite, zu überlegen, wie könnte diese Arbeit anders und besser gestaltet werden, wenn sie nicht dem Kapitalprinzip unterworfen ist. Ich war anfangs als Student in der Hochschulgruppe. Die Überlegung war, wie können wir das Studium selbst und besser organisieren, die Professoren für unsere Fragen nutzen, aber das Seminar selbst gestalten und in die Hand nehmen, und als Hochschullehrer genauso. Das haben wir in allen Bereichen gemacht. In Schulen, in der Sozialarbeit, im Gesundheitswesen, im Betrieb und in der Gewerkschaft usw. zu überlegen, wie dieser gesellschaftliche Arbeits- und Lernbereich umgestaltet werden kann, so daß es inhaltlich sinnvoll ist und unseren Wünschen und Bedürfnissen entspricht. Wir haben ja etwas anderes gemacht als Mitbestimmung, wir haben wirklich eine Zeitlang Selbstbestimmung im Hochschul- und Gesundheitsbereich praktiziert.

SB: Ab Mitte der bzw. den späten 70er Jahren gab es eine Art historischen Rollback der 68er-Bewegung. Wie hast du das persönlich erlebt und wo sind für dich Rückschritte manifest geworden?

GS: Das eine war der Rückgriff auf frühere Positionen, daß sich plötzlich alle auf Stalin, Trotzki, Lenin, Mao, Castro usw. bezogen haben und damit eigentlich auf eine gescheiterte politische Konzeption. Das führte zu so absurden Differenzen zwischen KBW, KB Nord, KPD/ML, die nur für Zirkelforscher noch nachvollziehbar waren. Damals konnte ich die ganzen Unterschiede benennen, aber sie waren absurd. Letztlich waren sie alle Stalinisten. Das Problem aber war die staatliche Repression wie auch die gesellschaftliche durch die Medien, insbesondere natürlich durch die Springerpresse, die letztlich eine Spaltung bewirkt hat.

Ich glaube, die Ursache für diese vielen verschiedenen Kleingruppen war eigentlich, daß die Hoffnung auf eine radikale Veränderung aufgegeben war und nur noch ein Abwehrkampf stattfand. Das Hauptproblem waren nicht die Berufsverbote, obwohl sie wichtig waren, das Hauptproblem war die Spaltung in gewalttätig und friedlich. Rudi Dutschke hat 1974 noch am Grab von Holger Meins gesagt: Holger, der Kampf geht weiter. Ich war damals auch dort, und es war klar, daß wir noch Bündnispartner waren. Wir haben deren Weg nicht richtig gefunden, nicht mitgemacht, und trotzdem waren es Leute von uns. Intern haben wir Kritik an diesem Gewaltkonzept geübt, im Wissen darum, daß es zum Scheitern verurteilt und Tod oder Knast die Folge ist. Trotz der Kritik gab es aber Solidarität. Anders war es mit der DKP, mit der es eigentlich schon lange keine Solidarität mehr gab, weil sie weiterhin dieses Unrechts- und Herrschaftsregime des Ostblocks verteidigt hat. Auf diese Weise gab es noch eine weitere Spaltung in der Linken, die praktisch alle Vollversammlungen dominiert hat, an die ich mich erinnere. Es war immer die Frage, können wir uns gegen die DKP und die U-Boote der DKP in der SPD durchsetzen oder nicht.

SB: Du sagtest gestern abend in deiner Wortmeldung auf der Veranstaltung zur 68er-Bewegung [3], daß für dich die Konsequenz lautete, aus den Herrschaftsbezügen und damit der Art von Vergesellschaftung auszusteigen, der wir ausgesetzt sind. Wie bist du zu diesem Schluß gekommen und was ist für dich der weitere Weg gewesen aus der Krise der Linken, die sich heute in ihrer anhaltenden Schwäche manifestiert?

GS: Als es klar war, daß die Veränderung im institutionellen Rahmen, in den Betrieben, in der Uni, in der Schule nicht mehr so möglich war, wie ich mir das vorgestellt hatte, bin ich von der Uni weggegangen. Ich hatte eine befristete Stelle als Hochschullehrer, die ich nach zwei Jahren nicht verlängert habe, weil ich gesehen hatte, daß die Schüler, die an die Uni kamen, durch die Oberstufenreform formatierter waren als vorher. Sie waren gar nicht mehr gewillt, ihr Studium selbst zu organisieren, sondern sie wollten wissen, was sie für das Examen lernen müssen. Da habe ich gesagt, die Uni ist nicht der Ort und die Schule ohnehin nicht. Ich muß mir woanders etwas Eigenes suchen, was in Richtung meiner Ziele, die ich weiterhin hatte, ging und habe daraufhin mit Freunden und Freundinnen zusammen ein autonomes Bildungszentrum in der Nähe von Hamburg aufgebaut, wo wir nach den Marxschen Ideen - jeder macht alles, jeder steckt seine ganze Kraft rein und kriegt, was er braucht - hierarchiefrei ein kollektives Projekt angefangen haben. Eben, so weit es irgend geht, aus der Gesellschaft raus, wohl wissend aber, daß es keine Inseln im Kapitalismus gibt, sondern daß es nur eine Halbinsel ist, mit dem Festland verbunden, was auch bedeutet hat, daß wir schon Kompromisse machen müssen.

SB: Gibt es diese Gruppe und dieses Projekt noch?

GS: Die Gruppe gibt es nicht mehr, aber das Projekt schon. Das war vor 40 Jahren, wir sind jetzt alle älter und nacheinander ausgestiegen. Jetzt im Januar ist die letzte aus der Gruppe weggegangen, aber das Projekt - das ABC (Autonomes Bildungscentrum) in Hüll - existiert weiter und hat heute einen neuen Schwerpunkt in der Jugendbildungsarbeit, vor allem mit Flüchtlingen, die mit modernen audiovisuellen Medien betrieben wird.

SB: Ein Schwerpunkt für die linke Bewegung liegt heute im sozialökologischen Bereich, siehe Hambacher Forst, ein anderer ist der Internationalismus zum Beispiel in Hinsicht auf die kurdische Bewegung. Wo würdest du als jemand, der diese lange Geschichte kennt oder erlebt hat, noch Hoffnung sehen, daß sich eine Art Bewegung mit größerer Handlungskraft konstituieren könnte?

GS: Es gibt sehr viele junge Menschen unter 40, die aufgrund von neueren Konflikten auf eine ähnliche Weise, aber viel radikaler noch, aus der Gesellschaft ausgestiegen sind und irgendwie überleben, ohne sich in dauerhafte Lohnarbeitsverhältnisse zu begeben. Sie sind meiner Meinung nach praktisch das Fundament für eine neue Bewegung, die aber noch nicht vorhanden ist. Sie kann nur dann greifen, wenn wieder eine gesellschaftliche Situation entsteht wie nach der 2008er Krise, wo zum Beispiel mit den Indignados in Spanien eine Bewegung entstanden ist, die auf alle spanischen Städte übergegriffen und überall basisdemokratische Strukturen installiert hat, in denen neue Umgangsformen gelebt wurden. Diejenigen, die jetzt so zwischen 30 und 40 Jahre alt sind, kommen aus dieser Zeit.

Es gibt auch in Frankreich um die Tarnac-Gruppe vom Kommenden Aufstand herum viele ähnliche Gruppen, die irgendwo in den Bergen, in den Wäldern, in Vorstädten, in besetzten Häusern, in alternativen Zentren leben. Das gibt es auch in Deutschland. Unser Sohn ist 32 Jahre alt und tourt als Rapper von einem dieser Orte zum nächsten und gibt Konzerte. In der Flüchtlingshilfe in Deutschland haben anfangs etwa 10 Millionen Menschen mitgemacht, aber sie sind alle in die Gesellschaft eingebunden, haben auch eine Bedürfnisstruktur, die ohne ein großes Auto, eine eigene Wohnung und einen gewissen Lebensstandard nicht auskommt. Sie sind für eine wirkliche neue Bewegung nicht mehr zu gebrauchen, aber als Unterstützer schon. Gleichwohl haben sie die griechische Bewegung in keiner Weise unterstützt, weil es zu sehr auch um ihr eigenes Portemonnaie ging. Es ist daher notwendig, daß eine Bewegung aus der Jugend wieder neu herauswächst, von jungen Menschen, die noch nicht ihre Hoffnung haben fahren lassen.

SB: Gerd, vielen Dank für das Gespräch.


Hinter Tisch mit Bücherpräsentation - Foto: © 2018 by Schattenblick

Mit Astrid Schmeda am Stand der Edition Contra-Bass
Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.contra-bass.de/verlag/

[2] Wirtschaftswissenschaftler, der als Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSC) und Direktor des Ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften mit seinem Modell einer Wirtschaftsdemokratie des dritten Weges zu den führenden Reformern des sogenannten Prager Frühlings gehörte.

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0088.html


Berichte und Interviews zur 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
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16. Dezember 2018


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