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BERICHT/102: 24. Linke Literaturmesse - türkische Motive ... (SB)


Meine Verhaftung war eine perverse Bestätigung des Autoritarismus, den ich in den vergangenen paar Jahren aufgezeichnet habe und gegen den ich aufgetreten bin. [...] Sie nahmen davon Abstand, mich offiziell anzuklagen, stattdessen halten sie mich auf Basis vager Terrorvorwürfe fest.
Max Zirngast: Ich bin ein Journalist in einem türkischen Gefängnis. Warum hat Erdogan Angst vor Menschen wie mir? [1]


Max Zirngast hat Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien studiert. Seit 2015 lebte, studierte und arbeitete er in der türkischen Hauptstadt Ankara. Als Journalist und Autor schreibt er für linke Publikationen und Websites wie die Tageszeitung junge Welt, re:volt und Jacobin über die Entwicklungen in der Türkei wie auch zu den USA, zu Europa und zu Kunst und Kultur auf Englisch, Deutsch und Türkisch. Er setzt sich als Aktivist für kurdische Gruppierungen ein, hält Vorträge und steht der pro-kurdischen Partei HDP nahe.

Am 11. September 2018 wurde Zirngast im Zuge einer Polizeirazzia gemeinsam mit zwei türkischen KollegInnen in Ankara festgenommen und dann inhaftiert. Wie er berichtet, richtete sich die Polizeioperation gegen acht Personen, von denen jedoch vier nicht erwischt wurden. Es sei Standard in der Türkei, bei solchen Aktionen mehrere Leute ins Visier zu nehmen, um daraus eine angebliche Organisation abzuleiten. Werden nicht alle Gesuchten im ersten Zug angetroffen, sei das oft gar nicht so wichtig, weil es vor allem um den Eindruck gehe, der dadurch geschaffen wird. Der Vorwurf war wie so oft in der Türkei Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Am 24. Dezember 2018 wurde Zirngast gegen Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen, er durfte das Land jedoch nicht verlassen. Der Prozeß gegen ihn begann am 11. April 2019, wurde aber am ersten Verhandlungstag auf den 11. September 2019 vertagt. Beim zweiten Termin genau ein Jahr nach seiner Festnahme wurden er und die Mitangeklagten Hatice Göz, Burcin Tekdemir und Mithatcan Türekten auf Antrag der Staatsanwaltschaft freigesprochen, das Ausreiseverbot wurde aufgehoben. Obgleich sich die Beweislage nicht im mindesten verändert hatte, beantragte dieselbe Staatsanwaltschaft, die vor Jahresfrist sieben Jahre und sechs Monate Haft gefordert hatte, nun den Freispruch. Seit Ende September ist Zirngast wieder in Europa.


Beim Vortrag auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

Max Zirngast
Foto: © 2019 by Schattenblick


"Die Türkei am Scheideweg"

Nachdem die Linke Literaturmesse 2018 ihre Solidarität mit dem damals noch inhaftierten Max Zirngast zum Ausdruck gebracht hatte, war die Freude nun um so größer, ihn in diesem Jahr persönlich bei einer Buchvorstellung in Nürnberg begrüßen zu können. "Die Türkei am Scheideweg und weitere Schriften von Max Zirngast" [2] wurde von der Solidaritätskampagne herausgegeben und enthält größtenteils Texte, die er zumeist im Kollektiv mit zwei Freunden geschrieben hat. Der größte Block des Buches präsentiert eine laufende Kommentierung der Ereignisse in der Türkei seit 2014/2015, darüber hinaus sind auch Texte anderer Autoren aus der Haftzeit und Betrachtungen über den Verlauf des Prozesses, Verteidigungsreden und Interviews nach der Entlassung enthalten.

Nach der Festnahme hatte sich rasch eine Solidaritätskampagne in der Hoffnung gegründet, daß Zirngast nach einigen Tagen in Polizeigewahrsam wieder auf freien Fuß gesetzt würde. Als er jedoch ins Gefängnis kam und ein Ende der Haft nicht abzusehen war, wurde zwangsläufig Schlimmstes befürchtet, weshalb die Unterstützung um so wichtiger wurde. Das im Sommer 2019 erschienene Buch sollte zum einen Schriften vorstellen, von denen einige Teil der Anklage waren und bei der Befragung durch den Staatsanwalt zur Sprache kamen. Dabei ging es unter anderem um das 2015 von Ismail Küpeli herausgegebene Buch "Kampf um Kobane: Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens", das einen Beitrag von Güney Isikara, Alp Kayserilioglu und Max Zirngast enthält [3]. Wie dieser berichtete, wurde ihm fälschlicherweise vorgeworfen, das Buch verfaßt zu haben. Es gehe indessen gar nicht darum, daß die Anklage den Inhalt verstanden hätte, zumal die meisten Texte nicht übersetzt worden seien. Das Reizwort "Kobane" im Titel reiche aus, den Reflex der Strafverfolgung auszulösen.

Zum anderen ging es bei dem Buch darum, die langjährige und kollektive journalistische Arbeit Zirngasts darzustellen. Es sind kritische Texte mit einer klaren politischen Haltung, so der Referent. Sie seien fundiert und auf die bestmögliche Weise mit Quellen belegt, was bei konkreten Ereignissen und Aussagen relativ leicht, aber beispielsweise in Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung wesentlich schwieriger sei. Auf die offiziellen Zahlen der türkischen Regierung könne man sich nicht verlassen. Einer seiner Kollegen habe vor kurzem in den USA in Wirtschaftswissenschaften promoviert und eigene Berechnungen angestellt. Nach dessen Angaben widmet die internationale Ökonomie den ständig geänderten Berechnungsmethoden des türkischen Staates eine eigene Unterkategorie der Forschung. Das Buch enthält zumeist Texte mittlerer Länge, manche etwas akademischer, andere journalistischer wie auch kürzere Kommentare. Wenngleich mit 430 Seiten ein umfängliches Werk, ist es dank seiner Kompilation doch gut zugänglich und ohne Frage gehaltvoll.


Gründe des Angriffs auf die autonome Selbstverwaltung

Max Zirngast analysierte mit einer kompetenten und positionierten Expertise aus linker Sicht die Gründe des am 9. Oktober eröffneten Angriffskriegs des türkischen Staates auf die autonome Selbstverwaltung in Nordsyrien. Diese völkerrechtswidrige Invasion muß seines Erachtens als ein Ergebnis der Entwicklung der letzten Jahre in der Türkei gesehen werden. In deren Zentrum steht der Rekurs auf die Gründung der türkischen Republik, nämlich die grundsätzliche Feindseligkeit gegenüber der von kurdischen Kräften dominierten Selbstverwaltung und kurdischen Demokratiebestrebungen, die den gesamten Staat von Erdogan bis zu kemalistischen Organisationen eint. Mit dem Zerfall des osmanischen Reiches stand die Gründung der türkischen Republik vor der Frage, ob dieser neue Staat eher mit Nationalismus oder Islamismus oder einem erneuerten Osmanismus konsolidiert werden könne, und diese Debattenstränge setzen sich transformiert heute fort.

Daß eine breite Mehrheit den Krieg unterstützt, hat viel mit der Geschichte der Türkei zu tun. Die türkische Republik wurde von Militärs gegründet, die traditionell einen hohen Stand im Staat haben. Es gab zahlreiche Putsche, von denen viele gescheitert und wenig bekannt sind. Zudem fand in der Gründungsphase aufgrund der damaligen Kräfteverhältnisse eine Verschiebung statt. Zwei Verträge regelten die Nachfolge des Osmanischen Reichs. Einige Fraktionen der Türkei, angeführt von Mustafa Kemal, akzeptierten den Vertrag von Sevres (1920) nicht, der unter anderem einen armenischen und einen kurdischen Staat vorsah, und erzwangen den Vertrag von Lausanne (1923). Die ursprüngliche Akkumulation in der Türkei hatte sich ab 1915 aus dem Raub vor allem griechisch-armenischen Eigentums zumeist in Form von Landbesitz gespeist und wurde durch ein Bündnis zwischen den Militärs und den Großgrundbesitzern in Zentralanatolien, darunter auch kurdischen, legitimiert. Zwischen 1920 und 1923 verschoben sich jedoch die Kräfteverhältnisse, da die kemalistischen Militärs die anderen Fraktionen ausschalten konnten und auf einen stark antikurdischen Kurs setzten. In der Verfassung der Türkei, die mehrfach geändert wurde, steht als einer der drei unveränderlichen Artikel, daß allein die türkische Nation der Träger des Staates ist. Dies wurde immer wieder bekräftigt und vor allem in der Zeit des schmutzigen Krieges gegen die kurdische Bevölkerung in den 90er Jahren in allen Schulen und auf allen Medien unablässig propagiert. Das aufzubrechen sei nicht leicht, so der Referent.

Als zweites Element kommt eine einsetzende Krise der AKP-Regierung hinzu. Das Referendum 2010, bei dem es um die Änderung einiger Artikel der Putschverfassung von 1972 ging, war noch ein großer Erfolg für die AKP, die jedoch 2011 die für Verfassungsänderungen notwendige Dreifünftelmehrheit verlor. Der Gezi-Aufstand brachte breite Teile der Bevölkerung auf die Straße und vertiefte diese Krise. Die Beherrschten machten klar, daß sie, obgleich sie kein alternatives Projekt zum despotischen Staat hatten, so nicht mehr beherrscht werden wollten. Aufgrund dieses Aufstands kam es zu Konflikten innerhalb der herrschenden Klasse. Der Konflikt zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung um Einfluß im Staat war zwar schon älter, er explodierte aber nach Gezi, weil die Gülen-Bewegung ihre Chance sah, sich durchzusetzen. Im Dezember 2013 kam es zu einem Justizputsch, bei dem Korruptionsbeschuldigungen sicher zu Recht, aber aus politischen Gründen erhoben wurden. Dasselbe galt schon für Prozesse gegen die ultranationalistische kemalistische Opposition, die zuvor von der AKP und der Gülen-Bewegung gemeinsam durchgeführt worden waren, um die alte kemalistische Elite aus dem Staat herauszudrängen. Dabei ging es um Leute, die am schmutzigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung beteiligt waren, doch wurden sie nicht dafür, sondern wegen teils erfundener Putschpläne angeklagt. Der Konflikt zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung eskalierte dann am blutigsten im Putsch von 2016.

In Deutschland dürfte kaum bekannt sein, daß die Gülen-Bewegung hier sehr aktiv ist. Viele ihrer Kader zogen sich nach dem gescheiterten Putsch nach London, in die USA, aber vor allem in die Bundesrepublik zurück, die aufgrund ihrer großen türkeistämmigen Bevölkerung inzwischen als wichtigstes Organisationsland der Bewegung gilt. Vor kurzem war auf Arte eine gut gelungene Dokumentation mit dem einzigen Makel zu sehen, daß die deutsche, europäische und internationale Verstrickung nicht thematisiert wurde. Die deutschen Waffenlieferungen und Kooperationen werden nicht angesprochen, und die Frage, was die Gülen-Bewegung genau in Deutschland macht und welche Rolle der deutsche Staat dabei spielt, wird nicht gestellt, so Zirngast.

Die Hegemoniekrise setzte sich fort, als die AKP 2015 erstmals die absolute Mehrheit der Abgeordneten im Parlament verlor. Erdogan akzeptierte das nicht und brach nach dem 7. Juni einen Krieg zunächst im Inneren und bald auch in Syrien vom Zaun. Die erste Invasion, damals noch in islamistisch-dschihadistisch dominiertes Gebiet in Al-Bab und Dscharabulus, erfolgte 2016, um die Vereinigung der kurdischen Kantone Kobane und Afrin zu verhindern. Diese Gewaltpolitik setzte eine Spirale der Eskalation in Gang, bei der kurdische Städte im Südosten der Türkei aus der Luft bombardiert, nach dem Putsch vorgefertigte Listen abgearbeitet und Hunderttausende verhaftet wurden. Nach der Gülen-Bewegung ging es sehr schnell auch gegen die linke und kurdische Opposition. Das Regime setzte die Gewalt fort, um mit dem Referendum 2017 das Präsidialsystem durchzusetzen. Es folgte die vorgezogene Wahl 2018, bei der der Präsident erstmals nach dem neuen System gewählt wurde, es kam zu immer mehr Verhaftungen, Hunderttausenden Entlassungen vor allem aus dem Staatsdienst und sehr viele Menschen wurden ins Exil getrieben. Hunderte Medien wurden geschlossen, Internetseiten gesperrt, 250.000 bis 260.000 Menschen sitzen im Gefängnis, davon 40.000 bis 45.000 wegen "Terrorismus" in irgendeiner Form. Viele weitere haben Prozesse laufen, Ausreiseverbote, de facto Berufsverbote.

Das alles hat die Hegemoniekrise nicht gelöst. Gewalt hielt das Regime an der Macht, doch mußte die AKP neue Allianzen eingehen. Auf den Bruch mit der Gülen-Bewegung folgte eine Koalition mit der faschistischen MHP und ein Zusammengehen mit einigen anderen nicht als Partei auftretenden Staatsfraktionen, die in Polizei und Militär sehr gut organisiert und ultranationalistisch sind. Mit dieser neuen Allianz, die sehr viel deutlicher nationalistisch-faschistoid ist, setzte sich zwangsläufig ein antikurdischer Kurs durch, denn diese Allianz verbindet der Haß gegen die Linke und die kurdische Bewegung. Die Türkei hatte schon lange geplant, nicht nur Afrin, das 2018 besetzt wurde, sondern auch das Projekt der Selbstverwaltung in ganz Rojava zu zerstören.


Die Invasion in Nordsyrien spaltet die Opposition

Ein weiterer aktueller Grund für die Invasion war der schwere Schlag, der dem Regime bei den Regionalwahlen 2019 versetzt wurde, als die Opposition sehr viele Gemeinden und vor allem die wichtigsten Städte wie Istanbul und Ankara gewann. Izmir hatte sie ohnehin schon, und zusammen mit weiteren Hafenstädten im Süden konzentrierte sich dort ein großer Teil der türkischen Wirtschaftsleistung. Das Regime antwortete zunächst mit einer teilweisen Liberalisierung, die jedoch, wie immer in der Türkei, rasch ins Gegenteil umschlug. Freisprüche wie der Zirngasts, der noch eher in die Phase der Liberalisierung fiel, dürfen nicht als eine Rückkehr zum Rechtsstaat mißverstanden werden, da es vielmehr um das politische Tagesgeschäft und die aktuellen Kräfteverhältnisse geht. Auf diese Weise wurde verhindert, daß die Opposition den unabdingbaren Schritt nach vorne machte. Sie drängte weder auf Neuwahl noch eine neue Verfassung, sondern verlegte sich, angeführt von der CHP und dem Bürgermeister von Istanbul, darauf abzuwarten.

Dafür bekam sie die Rechnung präsentiert. Der Krieg in Nordsyrien spaltete die Opposition, weil ihn sämtliche bürgerlichen Parteien unterstützen, die der Staatsräson den Zuschlag gaben. Zwar gab es einige kritische Stimmen innerhalb der CHP, die das Offensichtliche formulierten, daß dieser Krieg auch gegen sie gerichtet ist. Und tatsächlich verschob sich mit den Abkommen Türkei-USA und Türkei-Rußland der Fokus in Erdogans Reden wieder auf die CHP, die er wieder scharf angreift. Selbst von "Krieg" zu sprechen ist verboten und gilt als Terrorpropaganda. Einige AKP-Politiker haben sehr klar zum Ausdruck gebracht, daß mit dem Krieg die Zustimmung zu ihrer Partei wieder gestiegen ist.


Max Zirngast beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Unbeugsam in Wort und Schrift ...
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Gründungsgeschichte der Türkei hatte auch Auswirkungen auf die Linke, die kemalistisch dominiert ist. Dabei geht es um Nähe zum Volk. Dazu ein kemalistisches Zitat: "Für das Volk, wenn es sein muß, gegen den Willen des Volkes" - eine autoritäre, etatistische, von oben aufoktroyierte Modernisierung durch die Kemalisten. Davon ist auch die Linke nicht unbeeindruckt geblieben und hat sehr lange gebraucht, mit dieser Tradition zu brechen, weil sich der türkische Staat und der Kemalismus als antiimperialistisch dargestellt haben. Deswegen ist heute nur ein Teil der türkischen Linken mit der kurdischen Bewegung solidarisch, während ein anderer diesen Krieg zwar nicht offen unterstützt, aber schweigend hinnimmt. In Kampagnen wie "Hände weg von Syrien!" kommt die kurdische Bevölkerung nicht vor, da nur der Einmarsch in einen souveränen Staat kritisiert wird. Insgesamt bleibt es bei eher zaghaften Protesten, weil die türkische Linke in den letzten Jahren erheblich dezimiert worden ist. Mit Gezi 2013 hätte sie eigentlich einen Aufschwung erleben müssen, doch passiert ist das Gegenteil.

Die Gründe zu untersuchen und zu diskutieren ist sehr wichtig, zumal die Linke eine gewisse gesellschaftliche Relevanz gehabt hatte. Manche Parteien, die vor fünf Jahren am 1. Mai mit bis zu 20.000 Menschen auf der Straße waren, mobilisieren heute keine 100 Leute mehr. Das ist auf die Repression zurückzuführen, zum Teil aber auch auf Fehler, die verschiedenste Gruppierungen der Linken gemacht haben. Das gilt auch für die Gewerkschaften. Die AKP verbietet viele Streiks, und es gibt Gewerkschaften, die das Regime und den Staat vertreten. Dennoch gilt es, alternative Formen zu entwickeln, diese Streikverbote zu umgehen und Angebote zu machen, die ArbeiterInnen zu kämpferischen Gewerkschaften führen. Auch für die Linke stünde die Frage an, welche taktischen Manöver geeignet sein könnten, die staatlichen Verbote zu unterlaufen. Das Protestpotential ist zwar groß, doch existieren kaum Assoziationen, die politische Subjekte des Widerstands werden könnten.


Krieg statt Brot

Ein weiteres Ziel der Invasion war es, die ökonomische Krise zu überdecken. Denn obgleich die drastischen Stürze der Lira geendet haben, vertieft sich die Krise für die arbeitende Bevölkerung und Arbeitslosen mit jedem Tag. Für das etwas günstigere "Volksbrot" stehen immer längere Schlangen an, vor der Wahl gab es verbilligtes Obst und Gemüse. Das sind palliative Maßnahmen, die die Krise nicht lösen, aber Indikatoren dafür, wie schlecht es der Bevölkerung geht. Dies zu überspielen ist zum Teil gelungen, weil mit dem Krieg ein nationalistischer und chauvinistischer Furor in den Medien, nicht so sehr in der Bevölkerung geschaffen wurde. Einer aktuellen Umfrage zufolge unterstützen zwar 75 Prozent den Krieg, während gleichzeitig 72 Prozent der Ansicht sind, daß sich die ökonomische Lage weiter verschlechtert.

Krieg und Militär rangieren aufgrund der türkischen Geschichte über der Tagespolitik und Fragen des täglichen Brotes. Aber keines der Probleme in der Gesellschaft, angefangen von der Verarmung bis hin zu allen anderen gesellschaftlichen Widersprüchen, den Forderungen der Frauen, der alevitischen Bevölkerung oder der LGBTI-Bewegung ist gelöst. Die Dynamiken, welche die Hegemoniekrise antreiben, werden nicht bewältigt. Die Lage in Syrien hat sich nur zum Teil beruhigt. Die Selbstverwaltung in Rojava hat einen Schlag bekommen, doch wie schwer er war, hängt nicht zuletzt von den Allianzen ab, die ein Projekt wie Rojava notwendigerweise eingehen muß angesichts der bedrängten Lage, von einer Riesenarmee bedroht und vom syrischen Staat nicht anerkannt zu werden, auch wenn Teile der Selbstverwaltung erhalten bleiben dürften. Das Projekt versucht, sich in einer sehr feindlichen Region über Wasser zu halten, so Zirngast.


Widerspruchslagen in der Bevölkerung

Daß die Demokratie abgebaut wird, dürfte der türkischen Bevölkerung durchaus bewußt sein, doch spielt für viele Menschen die Demokratie im genuinen Sinn gar keine so große Rolle, was historische Gründe hat. Es war immer ein despotischer Staat, der gegen einen großen Teil der Gesellschaft gearbeitet und alle Formen der Opposition schnell niedergeknüppelt hat. Er läßt nicht wie andere bürgerliche Demokratien der Opposition Raum, um sie zu entschärfen, sondern reagiert stets mit Repression. Die sehr heterogenen gesellschaftlichen Gruppen haben im Laufe der Zeit Methoden entwickelt, wie sie mit diesem Staat umgehen, ohne ihn zu verändern, um mit ihm auszukommen. Es wird tatsächlich praktiziert und ist im Alltag erfahrbar, daß etwas nicht geht, aber irgendwie dann doch wieder geht, wenn man die Schlupflöcher findet. Auf einer politischen Ebene bedeutet das, daß ein Großteil der AKP-Wählerschaft durchaus einräumen würde, daß die Regierenden alle korrupt sind und die Opposition unterdrücken, doch die Leute kümmern sich lieber um ihre Wohnung oder ihr kleines Häuschen und sehen zu, daß sie einen Job bekommen.

Auch die alevitische Bevölkerung, die strukturell durch die türkisch-islamische Synthese gefährdet ist, steht zu einem großen Teil noch immer hinter dem Militär, weil es als Institution des Laizismus die Aleviten als religiöse und kulturelle Minderheit schützt. In Syrien kämpfen indessen nicht reguläre Soldaten, sondern 10.000 bis 15.000 dschihadistische Milizionäre, die dort rekrutiert wurden und dem Militär vorausgeschickt werden, das Luft- und Artillerieunterstützung sicherstellt und die Milizen mit Waffen, Aufklärung und Geheimdienstinformationen versorgt. Wenn AlevitInnen das wahrnehmen und fragen, ob das die Armee ist, die sie schützen soll, sehen sie Milizen, die Aleviten als Ungläubige bezeichnen, die den Tod verdient haben. Dann kann es zu Dynamiken kommen, wo zumindest ein Teil mit dem Militär und damit auch mit der CHP bricht. Die Provinz Hatay, die erst 1939 zur Türkei kam, nach Syrien hineinragt und überwiegend von arabischen Aleviten bewohnt wird, ist die einzige Provinz, in der sich in den letzten Jahren der Prozentanteil der HDP bei jeder Wahl vergrößert hat. Nicht jedoch in den kurdischen Provinzen, wo es durch die Vertreibung, Umsiedlung und Ansiedlung von Militärpersonal zu relativ starken Stimmenverlusten kam. Die arabisch-alevitische Bevölkerung in Hatay, die seit acht Jahren unmittelbar an der Grenze zu diesem Krieg lebt, ist sich sehr bewußt, wer dort kämpft und welche Rolle das türkische Militär spielt. Sie gibt zunehmend den Glauben daran auf, daß das Militär als Vertreter des Laizismus und Republikanismus sie schützen würde.

Die Islamisierung der Türkei berührt eine sehr schwierige Frage. Einige Statistiken besagen, daß in den letzten Jahren die Zahl der nichtgläubigen Menschen stark gestiegen ist. Das Regime ist inzwischen über Rhetorik hinaus sehr viel stärker nationalistisch als islamistisch aufgrund der Bündnisse, die es eingehen mußte. Islamistische Orden wurden vor allem über Posten im Staat gestärkt und sind Teil dieser Allianzen. Ein Ministerium zu bekommen heißt zugleich, zahlreiche Stellen vergeben zu können. Das gilt auch für Polizei, Militär und alle weiteren Staatsapparate. Einige islamische Vereine haben sich jedoch von der AKP losgesagt und kritisieren sie öffentlich. Sie sind zum Teil sehr konservativ und verwerfen die Abkehr vom wahren Islam oder verlangen einfach nur mehr Geld, es gibt auch einige kleine Gruppierungen islamischer Linker. Den konservativ-religiösen Flügel, der sich immer weniger von der AKP repräsentiert fühlt, aber bei Wahlen nirgendwo anders hingehen kann, versucht der ehemalige Premier und Außenminister Ahmed Davutoglu anzusprechen, während Ali Babacan den wirtschaftsliberalen Flügel vertritt, dem CHP-Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, nahesteht und die Institutionen der Türkei wieder in Einklang mit der EU, den USA und dem internationalen Kapital bringen will. Die AKP ist kaum noch eine Partei im klassischen Sinn, da sie zwar formal existiert, aber sich um eine einzige Person konzentriert.


Ausblick auf kommende Kämpfe

Wie geht es in der Türkei weiter? Kommt es dort zu einer Demokratisierung, stärkt das zugleich die Chancen Rojavas. Die gesellschaftlichen Widersprüche bestehen weiter und drängen zur Demokratisierung, angesichts der ökonomischen Situation zeichnet sich eine Periode wachsender Arbeitskämpfe ab. In der Metallindustrie stehen Vertragsverhandlungen an, dort wird am militantesten gekämpft. Jedes Jahr gibt es Verhandlungen über den Mindestlohn, der zwar 2018 angehoben wurde, aber aufgrund höherer Steuern und der Inflation nicht wirklich mehr einbringt als zuvor. Die politische Vertretung dieser demokratischen Bestrebungen wie Gewerkschaften und Parteien sind relativ schwach und auch die Vertretungen anderer gesellschaftlicher Gruppierungen sind weitgehend zerschlagen. Die Ausnahme stellt die kurdische Bewegung dar, die einen starken Organisationsgrad aufweist. Trotz alledem geht Zirngast davon aus, daß es in naher Zukunft zu starken Protesten, Demonstrationen und Streiks kommen könnte. Er verweist dabei auch auf die weltweite Entwicklung, da von Ecuador bis Chile über den Libanon bis hin zum Irak vielerorts Aufstände hervorbrechen, die sich bei aller Verschiedenheit doch im Grunde ähneln, da sie wirtschaftlichen Nöten entspringen. Daß sie in der Türkei bislang nicht in dieser Form in Erscheinung treten, hat viel mit der Repression zu tun, was ihr Auftreten dennoch nicht ausschließt.

Das Regime wird es nicht schaffen, sich zu institutionalisieren, die Kämpfe innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen den Herrschenden und Beherrschten werden weitergehen, so daß sich die Spirale von Protest und Gewalt noch einige Zeit fortsetzen dürfte. Derzeit ist kein gesellschaftlicher Akteur oder Block vorhanden, der eine neue Hegemonie herstellen könnte. Die Türkei wird sich, wie im Buchtitel zum Ausdruck gebracht, noch einige Zeit am Scheideweg befinden, so der Referent.


Solidarität mit allen politischen Gefangenen

Was die dreimonatige Haftzeit betrifft, sei seine Situation nicht so schlecht wie die zahlloser anderer Häftlinge gewesen. Das hing zu einem großen Teil mit der internationalen Solidarität und der medialen Aufmerksamkeit zusammen. Wenn regelmäßig Anwälte ins Gefängnis kommen, wenn dort ständig angerufen wird, wenn draußen Interesse an dieser Person besteht, ist es sehr viel schwieriger, eine Form physischer Gewalt auszuüben oder Rechte massiv einzuschränken, so der Referent. Während seine Lage nur von "einigen kleinen Problemen" beeinträchtigt worden sei, gelte das nicht für die generelle Situation in den türkischen Gefängnissen, vor allem in den kurdischen Gebieten. Dort ist in einigen Gefängnissen Folter an der Tagesordnung, die Zellen werden mitten in der Nacht teils mit Hunden durchsucht, das Waschwasser ist eine Kloake, Trinkwasser muß man sowieso kaufen, und es werden verschiedenste andere Formen der Drangsalierung von Häftlingen und Angehörigen angewendet. Oft bekommen die Gefangenen ihre Angehörigen nicht zu sehen, und wenn diese doch Zugang erhalten, müssen sie sich zur Durchsuchung nackt ausziehen. Er selbst sei auch vom Namen her Europäer und deswegen in einer relativ privilegierten Situation gewesen, doch verhalte es sich bei EU-StaatsbürgerInnen ganz anders, die einen türkischen oder kurdischen Namen haben. Ihnen widerfahre weder mediale Aufmerksamkeit noch Solidarität, weil die europäischen Staaten sie nicht als vollwertige StaatsbürgerInnen betrachten, auch wenn sie das nie so formulieren würden.

Max Zirngast dankte zum Abschluß der Linken Literaturmesse noch einmal für die Solidarität im letzten Jahr. Was in Deutschland, Österreich, der Schweiz und weiteren Ländern in diesem Sinne unternommen wurde, sei wirklich großartig, auch wenn er im Gefängnis nur einen Bruchteil davon mitbekommen habe. "Ich habe jedoch immer gespürt, daß da sehr viele Leute solidarisch sind. Das brauchen alle Gefangenen, und die politischen Gefangenen haben das besonders nötig."


Transparent 'Biji Azadi! Solidarität mit Rojava' - Foto: © 2019 by Schattenblick

"Wenn ihre Waffe Gewalt ist, dann ist unsere Solidarität" (Max Zirngast in einem Essay kurz nach seinem Freispruch)
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Orf.at: Zirngast analysiert in "Washington Post" Erdogan, 2. Dezember 2018

[2] Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast (Hg.): Die Türkei am Scheideweg und weitere Schriften von Max Zirngast, edition assemblage Münster 2019, 432 Seiten, 12,50 EUR, ISBN 978-3-96042-060-6

[3] Güney Isikara, Alp Kayserilioglu und Max Zirngast: "Die AKP als neuer Prinz: Die Hegemonie des Finanzkapitals und ihre Widersprüche", in: Ismail Küpeli (Hrsg.), Kampf um Kobane: Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens, edition assemblage Münster 2015, ISBN 978-3-94288-589-8.


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

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8. November 2019


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