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BERICHT/085: Richtige Literatur im Falschen - und sie meinen es so ... (SB)


Wir sind außer uns. Der Blick schwankt, mit ihm, was er hielt. Die äußeren Dinge sind nicht mehr gewohnt, verschieben sich. Da ist etwas zu leicht geworden, geht hin und her.
Ernst Bloch - Der Ruck [1]


Als Titel für den Vormarsch der Neuen Rechten hat der Begriff "Rechtsruck" noch nie überzeugt. Als handle es sich um ein mehr oder weniger unwillkürliches, auf motorischer Ebene ganz ohne Zutun des Menschen ablaufendes Reaktionsmuster, signalisiert ein Ruck vor allem eine von außen angestoßene Willkürhandlung. Ein Ruck müsse durch Deutschland gehen, forderte 1997 Bundespräsident Roman Herzog und meinte damit einen nationalen Opfergang, zu dem alle gleichermaßen beitragen sollten, um die konstitutive Klassenordnung nicht doch einmal grundsätzlich in Frage stellen zu müssen. Mehr als leichtes Rieseln im Gebälk hatte sein rhetorischer Kraftakt nicht zur Folge, wie auch? Präsidiale Appelle gehören zur rituellen Symbolpolitik einer ganz und gar auf Funktion und Effizienz getrimmten Republik wie die tagtäglichen Beschwerden in den massenmedialen Talkshows. Räsoniert wird stets auf hohem Niveau, denn auf Distanz zu halten zum harten Boden gesellschaftlicher Widerspruchslagen ist erste Bürgerpflicht.

Aus der nichtvorhandenen Bereitschaft, elementare Fragen weniger zur emotionalen Befindlichkeit der Nation zu stellen, die in einem vermeintlich neuen, aufgeklärten Patriotismus resultieren, als Klassenantagonismen beim Namen ihrer materiellen Voraussetzungen und Folgen zu nennen, saugt die Neue Rechte Honig. Das Poltern gegen das sogenannte Establishment, das zu beerben das ganze Trachten und Sinnen der AfD ist, die Empörung über die vermeintlich im Regen sozialer Umverteilung an die falsche Adresse stehengelassenen "Volksgenossen" und die unüberwundene Wut über den verlorenen Krieg versehen den langfristigen, in seinen einzelnen Stationen exakt nachzuzeichnenden Aufstieg der Neuen Rechten mit scheinbar unerschöpflicher Schubkraft.


Männliche Disputanten an Tischen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Podium zum Aufstieg der Neuen Rechten
Foto: © 2018 by Schattenblick


Kulturelle Liberalisierung und rechte Reaktion

Das abschließende Podium der Tagung "Literatur in der Neuen Klassengesellschaft" aus der Veranstaltungsserie "Richtige Literatur im Falschen?" am 9. Juni 2018 war dem "Aufstieg der Neuen Rechten" gewidmet. Klaus Kock moderierte eine Runde, die mit dem Politikwissenschaftler, Publizisten und Referenten für Erwachsenenbildung Richard Gebhardt, mit dem Soziologen und Journalisten Thomas Wagner und dem Schriftsteller Michael Wildenhain ganz verschiedene Zugänge zum Thema repräsentierte.

Der ominöse Rechtsruck war Anlaß für Gebhardt, davor zu warnen, die partiellen Erfolge der Neuen Rechten zu überhöhen, indem sie auch noch durch ihre KritikerInnen verstärkt werden. Der weitverbreiteten Neigung, den rechten Vormarsch gerade auch im Bereich der Institutionen gesellschaftlicher Hegemoniebildung als quasi unaufhaltsam zu verstehen, hält er Akte des Widerstandes im Kulturbetrieb und an den Hochschulen entgegen. Die Proteste gegen die Neue Rechte auf der Frankfurter Buchmesse, den Boykott von Amazon gegen ihre Verlage, den Boykott des Buchhandels gegen das Buch "Finis Germaniae" von Rolf Peter Sieferle und die zahlreichen Proteste gegen die AfD an Theatern und Universitäten seien Beispiele für eine vitale Gegenwehr, die zu gering zu schätzen bedeutete, der Neuen Rechten ohne Not Boden preiszugeben. Gleiches gelte für Proteste im öffentlichen Raum wie die Demonstration in Köln anläßlich des AfD-Parteitages 2017, die der größte Aufmarsch sozial fortschrittlicher Kräfte der letzten zehn Jahre in der rheinischen Metropole gewesen sei.

Statt von einem Rechtsruck zu sprechen, zieht es Gebhardt vor, von einer sozialen Mobilisierung von rechts gegen die gesellschaftspolitische Liberalisierung der letzten drei Jahrzehnte auszugehen. Es gelte, die besonders mit der Sarrazin-Debatte angestoßene Verschiebung der Grenzen des Sagbaren im politischen Diskurs mit dem Contenance-Verlust des Bürgertums, so Volker Weiß in dem Standardwerk "Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes", zusammenzudenken. Dabei widerspricht der Referent dem häufig aufgemachten Gegensatz zwischen Ökonomie und Kultur, seien beides doch Elemente und Dimensionen des Sozialen. Wer sie nicht zusammendenke, falle entweder einer kulturalistischen oder ökonomistischen Verkürzung zum Opfer, so der Referent.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Richard Gebhardt mit The Great Moving Right Show reloaded oder Der Kulturkampf des Rechtspopulismus
Foto: © 2018 by Schattenblick

So beschränke sich auch der Neoliberalismus niemals nur auf eine ökonomische Formation der Deregulierung, vielmehr gehe seine Ideologie immer auch mit einer Aufwertung des Selbst, mit bestimmten Bildern vom Individuum und der Auflösung gesellschaftlicher Strukturen einher. Sein Erfolg im linksliberalen Milieu sei, so der Referent unter Verweis auf das Cool Britannia Tony Blairs, das der britischen Gesellschaft ein neues kollektives Wir der unterschiedlichen Identitäten beschert habe, der dadurch ermöglichten Vielfalt geschuldet. So richte sich der Protest der Rechten gerade gegen den progressiven Gehalt neoliberaler Postulate. Heute komme keine große Firma mehr ohne Diversity-Richtlinie aus, und auf dem Cologne Pride, der aus der öffentlichen Kultur der Stadt nicht mehr wegzudenken sei, ist inzwischen jede große Firma im Rheinland mit einem eigenem Wagen vertreten.

Dem von Gebhardt in einem nicht affirmativen Sinne als politisch-kulturelles Formationsgeflecht verstandenen Neoliberalismus gemäß ist die Frage des Aufstieges des Rechtspopulismus in der Bundesrepublik nicht zuerst entlang ökonomisch-sozialer Parametern zu stellen. So richte sich der Schlachtruf von der "illiberalen Demokratie", 2014 vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban als zukünftige Staatsform seines Landes gefordert, gegen eine gesellschaftliche Vielfalt, für die Polens Außenminister Witold Waszczykowski die Linke verantwortlich macht. "Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen - zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen" [2] - das 2016 in einem Interview mit der Bild-Zeitung entworfene Feindbild hat mit der Wahl des US-Präsidenten Donald Trump zweifellos an Bedeutung gewonnen.

Für den Referenten ist die Frontstellung gegen solche Formen gesellschaftlicher Modernisierung eine verbindende Klammer im gesamten Diskurs des Rechtspopulismus in West- wie Osteuropa. Schon der Vordenker der sogenannten Konservativen Revolution der 1920er-Jahre und damit auch für die Neue Rechte relevante Arthur Moeller van den Bruck warnte vor dem Liberalismus als Ideologie, die für den "Niedergang der Völker" verantwortlich sei. Der in linken Veranstaltungen häufig unternommene Versuch, Rechtspopulisten als rein neoliberale Kraft zu entlarven, könne denn auch nur bedingt erfolgreich sein.

So fordere die AfD ausdrücklich den Mindestlohn, und deren völkischer Exponent Björn Höcke versuche inzwischen, Klassenpolitik von rechts zu besetzen, indem er eine Verteilung "unseres Volksvermögens" nicht nur von innen nach außen verhindern will, sondern sich auch für eine Umverteilung von oben nach unten ausspricht. Indem die Neue Rechte die soziale Frage aufwirft und diese mit Feindbildern wie dem "Raubtierkapitalismus" multinationaler Konzerne oder den als Invasoren dämonisierten Geflüchteten illustriert, sei sie gegenüber einer Linken, die den Kapitalismus erst einmal politökonomisch entschlüsseln muß, deutlich im Vorteil.

Dementsprechend richte sich der Protest der AfD gegen den dadurch bedingten politischen und kulturellen Kontrollverlust in der Bundesrepublik. Dieser trete als narzistische Kränkung einer Rechten hervor, die in den letzten drei Jahrzehnten zahlreiche Niederlagen politischer wie kultureller Art erlitten habe. Sie sei mit einem weit migrantischeren Deutschland als zuvor konfrontiert und habe bei den Kämpfen um das deutsche Geschichtsbild schwere Niederlagen erlitten, so etwa in der Diskussion über die Verbrechen der Wehrmacht. Alexander Gaulands Bekenntnis zu einer "ruhmreichen Geschichte" Deutschlands, die länger als die "verdammten zwölf Jahre" des NS-Staates dauere, die er als "Vogelschiß" titulierte, kann als Ausdruck dessen gewertet werden.


Thomas Wagner und Richard Gebhardt auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Vorsichtige Schritte auf umkämpftem Terrain
Foto: © 2018 by Schattenblick

Wo Helmut Kohl die "geistig-moralische Wende" ankündigte, seien das IG Metall-Mitglied Norbert Blüm, der Multikulti-Ideologe Heiner Geißler und die AIDS-Aufklärerin Rita Süßmuth tonangebend geworden. Ob mit der Abschaffung des Paragraphen 175, der Einführung des Straftatbestandes der Vergewaltigung in der Ehe oder der sogenannten Ehe für alle patriarchale Gewißheiten in Frage gestellt wurden, ob durch die Aufwertung der Kinderrechte zu Menschenrechten die tradierte elterliche Verfügungsgewalt geschwächt wurde oder mit Energiewende und Islamkonferenz, mit kultursensiblen Presserichtlinien und Inklusionsvorgaben, mit der Abschaffung der Wehrpflicht und der Ausrufung der Willkommenskultur fortschrittliche Reformversuche in die Wege geleitet wurden, für Gebhardt sind diese gesellschaftlichen Entwicklungen gleichbedeutend mit nichteingelösten Hegemonialansprüchen der Neuen Rechten.

So werde auf Veranstaltungen der AfD über die sozialdemokratisierte Union geklagt, und der Anfang der 1980er Jahre im Heidelberger Manifest, einer Stellungnahme nationalkonservativer Professoren, befürchtete "Volkstod" sei durch die veränderte gesellschaftliche Zusammensetzung längst eingetreten. Das alles sei mit der unter Rechten weitverbreiteten Annahme, für all das sei die Kulturrevolution der 68er verantwortlich, nur sehr bedingt in Übereinstimmung zu bringen. Gebhardt vertritt demgegenüber die These, daß die Agrarwende und die Entindustriealisierung der Bundesrepublik für die kleinen und großen Kulturkämpfe viel entscheidender waren als die kulturellen Errungenschaften der 68er-Bewegung. Dementsprechend ernstzunehmen seien die Ankündigungen der ihrerseits in keiner Weise sozial abstiegsgefährdeten Meuthen, Gauland und Weidel, sich "unser Land, unser Volk, unsere Geschichte zurückzuholen".

Die in der Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft PROKLA aufgeworfene Frage, ob sich im Erfolg der neuen Rechten nicht auch eine Reaktion auf die im Übergang zum Postfordismus partiell erfolgten Aufstiege zum Beispiel von hochqualifizierten Frauen oder Migrantinnen ausdrücke, fordern diese doch die jahrhundertalte Gewißheit heraus, daß sich die Dividende weißer Männlichkeit zuverlässig auszahlt, beantwortet Richard Gebhardt denn auch negativ. Wenn er auf Pegida-Anhänger treffe, dann werde nicht die Islamisierung des Abendlandes beklagt, sondern über Conchita Wurst lamentiert. Das populistische Milieu laufe Sturm gegen Veränderungen im traditionellen Geschlechter- und Familienverständnis. Die Auflösung von binären Geschlechterzuweisungen durch ein drittes Geschlecht werde uneingedenk der Grausamkeiten, die Menschen mit Intergeschlecht durch ihre zwangsweise Zuordnung zu einer der beiden akzeptierten Identitäten erlitten haben, beklagt. Die massive Polemik gegen Unisex-Toiletten werfe die Frage auf, ob diese Leute jemals mit der Bahn fahren.


Plakate mit Einzelpersonen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Belegschaft gestern und heute - Plakatinstallation am LWL Industriemuseum Henrichshütte Hattingen
Foto: © 2018 by Schattenblick

Gerade weil die Bundesrepublik in einigen Bereichen irreversibel modernisiert wurde, seien die narzistisch gekränkten Verlierer der deutschen Rechten durchaus gefährlich. Was dagegen zu tun sei, ist für Richard Gebhardt, der in der Bildungsarbeit immer wieder zur Neuen Rechten referiert, erst einmal eine offene Frage, wie er in der abschließenden Diskussion erklärt. Die Bedeutung von Kulturarbeit nicht zu unterschätzen, wie dies in Gewerkschaften häufig der Fall sei, und die offensive Auseinandersetzung mit den politischen Reizthemen der Rechten zu suchen ist auf jeden Fall eine Empfehlung, die der selbst im Theaterbetrieb aktive Referent unterstützt.

Sein Tipp, sich den Film "Pride" über die lesbisch-schwule Solidaritätsbewegung in den britischen Miner Strikes der 1980er Jahre anzuschauen, könnte einen Teil der Antwort darstellen. Das 2014 uraufgeführte, auf der realen Unterstützung der Bergarbeitergewerkschaft durch LGBTIQ-AktivistInnen basierende Filmwerk, schildert die Überschreitung tiefverwurzelter kultureller Grenzen in der letzten größeren Klassenauseinandersetzung Englands unter Premierministerin Thatcher, mit der die neoliberale Wende in Europa vor 35 Jahren Fahrt aufnahm. Wie bedeutsam als für Klassenkämpfe irrelevant gehaltene Fragen geschlechtlicher Identität für linke Basisbewegungen sein können, geht auch aus einem Interview mit der Autorin Emily K. Hobson hervor [3]. In ihrem Buch "Lavender and Red. Liberation and Solidarity in the Gay and Lesbian Left" würdigt sie den Zusammenhang zwischen dem Kampf um sexuelle Befreiung und den antirassistischen und antiimperialistischen Kämpfen der internationalistischen Linken in den USA anhand einer historischen Rückschau.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Thomas Wagner gewährt Einblicke in die Kulturarbeit der Neuen Rechten
Foto: © 2018 by Schattenblick


Mit Rechten reden, und wenn ja, worüber?

Thomas Wagner berichtet von seinen Recherchen bei Vertretern der Neuen Rechten, die mitunter erstaunliche Ergebnisse zeitigten. Der Autor des 2017 veröffentlichten Buches "Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten" plädiert für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen einer ihrerseits zwischen populistisch und radikal ausdifferenzierten Rechten, die für den politischen Kampf gegen diese Bewegung weit förderlicher sei, als sie indifferent unter einem Label zu subsumieren. Zweifellos bedarf es noch einiger Arbeit, um etwa den fundamentalen Unterschied zwischen rechter und linker Kapitalismuskritik so herauszuarbeiten, daß die Versuche der völkischen Rechten, unter diesem Titel einen Pakt mit dem nationalen Kapital zu schmieden, auch als solche erkenntlich werden.

Inwiefern das Gespräch mit einer Rechten, die in kulturellen Fragen wie denen der gesellschaftlichen Geschlechter- und Naturverhältnisse unversöhnliche Positionen einnimmt und sich zu einer europäischen Allianz rechter PopulistInnen von Moskau, Kiew und Budapest bis nach Rom, Paris und London zusammenschließt, für eine Linke produktiv zu machen wäre, die kaum in der Lage ist, die eigenen Positionen widerspruchsfrei zu erklären, geschweige denn über die Mobilisierungskraft sozialrevolutionärer Bewegungen des letzten Jahrhunderts verfügt, bedarf zweifellos der weiteren Diskussion. Da die Behauptung, rechts und links seien überkommene, keine konkreten gesellschaftlichen Positionen mehr repräsentierende Kategorien, letztendlich die national- und sozialchauvinistische Ausrichtung der sogenannten politischen Mitte befördert, wäre eine verläßliche Klärung der politischen Schnittmenge, über die sich als links verstehende Bewegungen und Gruppen noch verfügen, um so erforderlicher. In bloßer Reaktion auf eine sich zusehends radikalisierende Rechte zu verbleiben, die trotz oder gerade wegen der vielen erlittenen Niederlagen an Boden gewinnt, kann keine strategische Empfehlung darstellen. Selbst wenn die kulturalistische Aggressivität von AfD und Pegida bei den unternehmerischen Eliten auf Ablehnung stößt, gibt es einflußreiche Kräfte in Industrie- und Finanzkapital, die im Zweifelsfall für staatsautoritäre Lösungen votieren.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Michael Wildenhein stellt sein Romanprojekt "Das Singen der Sirenen" vor
Foto: © 2018 by Schattenblick


Linke Lebenslügen literarisch verdaulich gemacht

Michael Wildenhain schließlich gewährte anhand der literarischen Verarbeitung einer Geschichte aus dem ihm aus eigener Vergangenheit vertrauten Milieu der radikalen Antifa einen Einblick in seine Schreibwerkstatt. In seinem Romanprojekt "Das Singen der Sirenen" legt er mit der Schilderung des Lebensverlaufes seiner Protagonisten zwischen Radikalisierung und Normalisierung den Finger in die Wunde einer revolutionären Linken, der bei aller Entschiedenheit des politischen Kampfes häufig die AktivistInnen abhanden kommen, wenn diese sich für ein attraktives Jobangebot entscheiden oder ihr Glück in den vier Wänden kleinfamiliärer Vertrautheit suchen. Eingebettet ist sein Entwurf in die erzählerische Parallelität antipodischer Klassenzugehörigkeit, die mit der jeweiligen Motivlage zu verschränken ein differenziertes Ensemble von Anspruch und Wirklichkeit linker Lebenslagen hervorbringt.

Was die damit geleistete Bestätigung des in verschiedenen Varianten bekannten Bonmots "Wer mit zwanzig kein Revolutionär ist, hat kein Herz - wer es mit vierzig immer noch ist, hat keinen Verstand" an der Glaubwürdigkeit jeglichen Anspruches auf die grundsätzliche Überwindung sozialer und gesellschaftlicher Mißstände und der Verläßlichkeit der dazu erforderlichen Solidarität anrichtet, liegt auf der Hand. Einen Roman zu verfassen, der sich dieser vermeintlichen biografischen Zwangsläufigkeit annimmt, ist nicht nur aufgrund des schwachen Zustandes linker Bewegungen von über den bloßen Lesegenuß hinausreichender Bedeutung.

Auch Wildenhain spricht sich für eine Aufwertung kultureller Arbeit im Kampf gegen rechts aus. Was seiner Ansicht nach in linken Zusammenhängen häufig ornamentalen Charakter habe, sei auf einer Literaturtagung mit viel besseren Voraussetzungen bedacht. Lediglich die Gewichtung zwischen politik- und sozialwissenschaftlichen Inhalten einerseits und literarischen Debatten andererseits lasse zu wünschen übrig, so Wildenhain, was sicherlich auch damit zu tun hat, daß sich über politische Thesen leichter diskutieren läßt als über komplexe literarische Szenarios, deren Lektüre meist Voraussetzung für ein Gespräch über sie ist. Darüberhinaus plädiert er für einen Unvereinbarkeitsbeschluß, mit dem SchriftstellerInnen, die in der AfD oder ähnlichen Gruppen organisiert sind, die Mitgliedschaft im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) bei ver.di unmöglich gemacht wird.


Große Gerätschaften und Hochofen in ehemaligem Stahlwerk - Fotos: © 2018 by Schattenblick Große Gerätschaften und Hochofen in ehemaligem Stahlwerk - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Postindustrielle Landschaft im LWL Industriemuseum Henrichshütte Hattingen
Fotos: © 2018 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962, S. 207

[2] https://www.deutschlandfunk.de/polnische-regierung-waszczykowski-warnt-vor-welt-aus.1773.de.html?dram:article_id=341541

[3] https://www.viewpointmag.com/2018/02/01/transnational-solidarity-gay-lesbian-left-interview-emily-hobson/


Berichte und Interviews zum Symposium "Richtige Literatur im Falschen 2018" im Schattenblick unter:
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BERICHT/071: Richtige Literatur im Falschen - Besinnung auf den Klassenkampf ... (SB)
BERICHT/080: Richtige Literatur im Falschen - Industrieästhetik ... (SB)
BERICHT/081: Richtige Literatur im Falschen - ein hoher Preis bis heute ... (SB)
BERICHT/082: Richtige Literatur im Falschen - Flohhüpfen ... (SB)
BERICHT/083: Richtige Literatur im Falschen - fürs Kapital ein immer größer werdender Gewinn ... (SB)
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INTERVIEW/103: Richtige Literatur im Falschen - schöpfen bis zum Grunde ...    Stefanie Hürtgen im Gespräch (SB)


27. August 2018


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