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BERICHT/074: Linke Buchtage Berlin - Ökonomie nicht ausschlaggebend ... (SB)


Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.
Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1. Kapitel: Karl Marx 1852


Während die Rechte in vielen Ländern Europas und den USA auf dem Vormarsch ist, in Parlamenten sitzt oder sogar die Regierung stellt, tut sich die Linke schwer mit einer präzisen Identifizierung und griffigen Erklärung dieses durchaus vielgestaltigen Phänomens. Offensichtlich besteht Diskussionsbedarf und dies sowohl im theoretischen Zugang wie auch in Handlungskonsequenzen der politischen Praxis und Bündnispolitik. Welche verhängnisvollen Folgen eine diesbezügliche Fehleinschätzung haben kann, lehrt das historisch wohl prägnanteste Beispiel der deutschen Geschichte während des Aufstiegs des Nationalsozialismus. Josef Stalins 1924 formulierte Sozialfaschismusthese war offizielle Doktrin der Kommunistischen Internationale (Komintern) zwischen 1928 und 1934, bis sie 1935 von der Dimitroff-These abgelöst wurde. Die Erfahrungen aus den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zu Beginn der Weimarer Republik führten dazu, daß die KPD in der SPD schließlich einen "sozialfaschistischen" Hauptfeind ausmachte. Trotzki argumentierte gegen Stalin und forderte in den Jahren 1929 bis 1933 die deutsche Kommunistische Partei in immer dringenderen Appellen dazu auf, die besondere Gefahr des Faschismus ernst zu nehmen und mit der SPD eine gemeinsame Front gegen Hitler aufzubauen. Seine Appelle verhallten ungehört, die Folgen sind bekannt.

Karl Marx beschreibt in seiner Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" (1852) die Erscheinung des Bonapartismus als autoritäre Herrschaftsform des 19. Jahrhunderts. Darin spricht er von einer Fragmentierung der Klassen und einer Pattsituation der Klassenverhältnisse, die aufgelöst wird, indem die Bourgeoisie auf ihre erkämpften politischen Freiheitsrechte verzichtet, um ihre soziale und ökonomische Macht zu erhalten. Es wird eine autoritäre Führungsfigur eingesetzt, die das Proletariat klein hält. Der bonapartistische Herrscher stützt sich auf Deklassierte wie das Lumpenproletariat oder die Masse der Kleinbauern, wodurch er in der Exekutive eine relative Unabhängigkeit von der Bourgeoisie erlangt. Dies sei eine Verselbständigung der politischen Macht gegenüber beiden Klassen, der Staat ist kein bloßes Instrument der Bourgeoisie, sondern folgt einer eigenen Logik politischer Herrschaft.

Marx setzt sich also in einer seiner Frühschriften mit Fragen auseinander, die später zu beträchtlichen Kontroversen führen sollten und bis heute für die politische Linke von Relevanz sind: Klassenzusammensetzung, Krisenstrategien des Kapitals und diktatorische Regime, aber auch das Verhältnis von Staat und Kapital. Er berührt nicht zuletzt die Frage der Herrschaft, die von Marxisten unter Verweis auf sein Hauptwerk oftmals mit dem Primat der ökonomischen Basis, dem der Überbau nachgeordnet sei, unzulässig verkürzt beantwortet wird. Daß Marx keine eigenständige Staatstheorie entwickelt hat, mag zu dem Fehlschluß verleiten, daß man auf eine solche verzichten könne.


Buchcover 'Die neuen Bonapartisten' - Foto: 2018 by Schattenblick

Foto: 2018 by Schattenblick


"Die neuen Bonapartisten"

Bei den Linken Buchtagen, die vom 1. bis 3. Juni 2018 im Berliner Mehringhof stattfanden, wurde in einem Workshop das Buch "Die neuen Bonapartisten", herausgegeben von Ingo Stützle und Martin Beck, vorgestellt, das im Carl Dietz Verlag zu dem aktuellen Thema "mit Marx den Aufstieg von Trump und Co. verstehen" erschienen ist. [1] Anwesend waren der Mitherausgeber Ingo Stützle und Mitautor Gerd Wiegel, die einen thematischen Überblick gaben, verschiedene Schwerpunkte erläuterten und Fragen aus dem Publikum beantworteten. Im für die blauen Bände bekannten Dietz Verlag gab es einen Generationswechsel in der Verlagsleitung samt der Überlegung, wie man jenseits der Pflege der Tradition, die schon schwierig genug ist, neue Akzente setzen könnte. Daraus entsprang die Idee, eine Analysereihe zu publizieren, die den Versuch unternimmt, mit Hilfe der Marxschen Theorie neuere Entwicklungen zu verstehen. Der Anfang des Jahres erschienene erste Band ist die vorliegende Untersuchung zum Ansatz des Bonapartismus.

Die aktuelle Rechtsverschiebung hat eine Suche nach Erklärungsmustern ausgelöst. Der Populismusbegriff ist in aller Munde, autoritärer Etatismus wird thematisiert, Post-Demokratie und viele weitere Konzepte versuchen, diese Entwicklungen auszuleuchten. So wurde auch die Bonapartismusthese zu diesem Zweck verwendet, die in der marxistischen Theoriebildung am gründlichsten untersucht worden ist, jedoch in der kommunistischen Bewegung lediglich eine marginale Rolle spielte. Der Sammelband fragt, wie weit das Bonapartismus-Konzept trägt, um die Wiederkehr von Autoritarismus und Nationalismus zu verstehen, und diskutiert dies in historischer Rückschau und aktuellen Länderuntersuchungen.


Beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ingo Stützle
Foto: © 2018 by Schattenblick


"Der Achtzehnte Brumiere des Louis Bonaparte"

Der "Achtzehnte Brumiere" ist erschienen, nachdem die Februarrevolution 1848 in Frankreich niedergeschlagen worden war. Während Marx im nahezu zeitgleich veröffentlichten "Kommunistischen Manifest" einen emphatischen Begriff vom Proletariat entwickelt, das eine fortschrittliche Bewegung vorantreibt, schlägt seine Einschätzung wenig später insofern um, als er Teile der Arbeiterbewegung als Träger des autoritären Projekts von Bonaparte identifiziert. Das Buch erschien 1852 zuerst in den USA, wohin viele deutsche 48er geflohen waren, in der Zeitschrift "Revolution". Die kleine Erstauflage von 1000 Exemplaren ging weitgehend verloren und blieb ohne Wirkung. Erst die umgearbeitete zweite Auflage im Jahr 1869 wurde einem breiteren Leserkreis bekannt, so Ingo Stützle.

Im ersten Teil des Buches formuliert Hauke Brunkhorst die Geschichte dieser Theorie und zeigt, daß Revolution und Konterrevolution, Demokratie und autoritäre Herrschaft einander in modernen bürgerlichen Gesellschaften nicht ausschließen, sondern Gegensatzpaare bilden und der Ausnahmezustand immer schon in die Demokratie eingeschrieben ist. Dorothea Schmidt legt einen Faktencheck vor und weist einige Irrtümer Marx' nach, der beispielsweise die Parzellenbauern für die zentralen Träger der autoritären Herrschaft hält, weil sie allein auf sich zurückgeworfen seien. Schmidt stellt demgegenüber dar, daß sie in zu dieser Zeit noch nicht überwundene feudale Verhältnisse eingebunden waren und in sich beträchtliche Unterschiede hinsichtlich ihrer sozialen Stellung aufwiesen. Mit ihnen verband Marx den Begriff des Lumpenproletariats, dem er nicht zuletzt ein Bildungsproblem unterstellte. Hingegen weist die Autorin nach, daß die Träger des Bonapartismus die alphabetisierten Bereiche waren. Zudem sei das französische Proletariat zu dieser Zeit noch längst nicht so entwickelt wie das englische, von dem Marx ausging, und weit weniger revolutionär eingestellt, als er unterstellt. Die Arbeiterklasse war demnach schon geschwächt, auf die bürgerlich-demokratischen Verhältnisse eingestellt und hatte sich damit abgefunden, sich einen Platz innerhalb dieser Verhältnisse zu suchen. Ihres Erachtens homogenisiert er die Arbeiterklasse zu sehr, während sein Verständnis der Kapitalklasse demgegenüber ausdifferenziert ist. Auch habe sich Begriff des Volkes sehr gewandelt. Während Bonaparte noch das Volk anrufen und gegen die feudalen Verhältnisse mobilisieren konnte, dürfte sich der Begriff des Volkes nach der Schwächung des Feudalismus verändert haben. Ungeachtet solcher Einwände im Detail stellt Schmidt die Marxsche Analyse als hellsichtig heraus, da sie nach wie vor einen Maßstab setze, wie man aus heutiger Perspektive gesellschaftliche Veränderungen in verschiedenen Phasen analysieren müßte, zumal er keineswegs alles auf Ökonomie reduziert, sondern beispielsweise auch Kultur und Volksglauben einbezieht, schloß Stützle diesen Teil seines Vortrags ab.


Beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Gerd Wiegel
Foto: © 2018 by Schattenblick


Die Ansätze August Thalheimers und Otto Bauers

Der erste Teil des Buches enthält auch den Beitrag Gerd Wiegels, der ihn selbst im Workshop vorstellte. Attraktiv sei an diesem Ansatz, für die Entwicklung in verschiedenen Ländern einen gemeinsamen theoretischen Rahmen zu entwickeln, ohne sie deshalb in einen Topf zu werfen. Dieses Konzept wurde seinerzeit in der kommunistischen Bewegung teilweise auf den Faschismus angewendet, doch dominierte die Dimitroff-These, in der der Faschismus als eine abhängige Variante des Kapitals erschien, wobei er als Erfüllungsgehilfe der avanciertesten Kreise des Kapitals aufgefaßt wurde und insofern in einem direkten Beziehungsverhältnis zur herrschenden ökonomischen Klasse stand. Der Bonapartismus-Ansatz versucht hingegen viel stärker, die Eigenständigkeit der Politik und des Staates in den Blick zu nehmen und den Faschismus nicht nur als Agenten des Kapitals zu bewerten. August Thalheimer, Otto Bauer und Leo Trotzki waren die prominentesten Protagonisten, die mit dem Bonapartismus-Ansatz versuchten, bei der Erklärung des Faschismus auf den "Achtzehnten Brumiere" zurückzugreifen. Thalheimer (KPU) versuchte in den 20er und frühen 30er Jahren, mit Blick auf den italienischen Faschismus die Analogie zum Bonapartismus deutlich zu machen:

Der Bonapartismus ist also eine Form der bürgerlichen Staatsmacht im Zustand der Verteidigung, der Verschanzung, der Neubefestigung gegenüber der proletarischen Revolution. Er ist eine Form der offenen Diktatur des Kapitals, seine andere Form, aber nahe verwandte Form, ist die faschistische Staatsform.

Thalheimer setzt die beiden nicht gleich, hebt aber die engen Beziehungen zueinander hervor. Zentral ist für ihn dabei die Unterscheidung von politischer und sozialer Herrschaft. Um seine soziale Herrschaft zu sichern, tritt das Kapital die politische Herrschaft ab. In einer politischen Krisensituation, in der die herrschende Klasse nicht mehr in der Lage ist, das Proletariat niederzuhalten, gibt sie ihre politische Macht an eine dritte Instanz ab, um ihre soziale Herrschaft zu sichern. Weiter heißt es bei Thalheimer:

Unverkennbar sind wesentliche Züge gemeinsam mit der bonapartistischen Form der Diktatur. Wieder die Verselbständigung der Exekutivgewalt, die politische Unterwerfung aller Massen einschließlich der Bourgeoisie unter die faschistische Staatsmacht bei sozialer Herrschaft der Großbourgeoisie und der Grundbesitzer.

Und etwas später heißt es:

Ebenso findet sich Übereinstimmung in der Situation des Klassenkampfes, aus der hier die bonapartistische, dort die faschistische Form der Staatsmacht hervorgeht. Im Fall des italienischen Faschismus wie des Bonapartismus ein gescheiterter Ansturm des Proletariats, darauffolgende Enttäuschung der Arbeiterklasse, die Bourgeoisie erschöpft, zerfahren, energielos, nach einem Retter ausschauend, der ihre soziale Macht befestigt. Übereinstimmung auch in der Ideologie. Als Hauptmittel die nationale Idee, der Scheinkampf gegen parlamentarische und bürokratische Korruption, Theaterdonner gegen das Kapital usw.

Während sich Thalheimer auf die Kämpfe in Italien und damit die Gefahr der realen Revolution bezieht, welche die Bourgeoisie dazu treibt, sich dem Faschismus anzudienen, argumentiert der österreichische Theoretiker Otto Bauer (KPÖ) etwas anders. Nicht eine revolutionäre Gefahr, sondern die dauerhafte Einschränkung der Herrschaft der Bourgeoisie durch die bürgerliche Demokratie sei Grund der Machtübertragung an den Faschismus gewesen. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und die Ausweitung der Demokratie habe nach dem Ersten Weltkrieg dazu geführt, daß die Interessen des Kapitals beschnitten wurden. In seiner Schrift "Zwischen den Weltkriegen" erklärt Bauer, daß in Krisenzeiten kapitalistischer Akkumulation, mit denen politische Krisen einhergehen, zum Bestreben der herrschenden Klasse führe, das relative Klassengleichgewicht zu eigenen Gunsten aufzuheben.

Die faschistische Diktatur entstand also als das Resultat eines eigenartigen Gleichgewichts der Klassenkräfte. Auf der einen Seite steht eine Bourgeoisie, die die Herrin der Produktions- und Zirkulationsmittel und der Staatsgewalt ist, aber die Wirtschaftskrise hat die Profite der Bourgeoisie vernichtet. Die demokratischen Institutionen hindern die Bourgeoisie, ihren Willen dem Proletariat in dem Maße aufzuzwingen, das ihr zur Wiederherstellung ihrer Profite notwendig erscheint.

Nach Otto Bauer ist es also nicht die Furcht vor der Revolution, sondern die Eingrenzung durch den sozialistischen Reformismus, der die Option des Faschismus für die herrschende Klasse attraktiv macht:

Der Faschismus rechtfertigt sich vor der Bourgeoisie gerne damit, er habe sie vor der proletarischen Revolution, vor dem Bolschewismus gerettet. In der Tat hat der Faschismus in seiner Propaganda Intellektuelle, Kleinbürger und Bauern gerne mit dem Gespenst des Bolschewismus geschreckt. Aber in Wirklichkeit hat der Faschismus nicht in einem Augenblick gesiegt, in dem die Bourgeoisie von der proletarischen Revolution bedroht gewesen wäre. Die Kapitalistenklasse und der Großgrundbesitz haben die Staatsmacht dem faschistischen Gewalthaufen nicht deshalb überantwortet, um sich vor einer drohenden proletarischen Revolution zu schützen, sondern um die Löhne zu drücken, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerstören, die Gewerkschaften und die politischen Machtpositionen der Arbeiterklasse zu zertrümmern. Nicht also, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken, sondern um die Errungenschaften des reformistischen Sozialismus zu zerschlagen.

Die Motivation setzt Bauer anders als Thalheimer an, doch die Frage des Klassengleichgewichtes beantwortet er ähnlich. Thalheimer beschreibt, daß das populistische Element den Bonapartismus und Faschismus verbindet. Beide geben sich als Wohltäter aller Klassen aus, daher die ständige Ausspielung einer Klasse gegen die andere, die ständige Bewegung in inneren Widersprüchen.

Für maßgeblich hält Wiegel bei diesen Ansätzen, daß die Eigenständigkeit der Staatsmacht betont, die Entwicklung nicht allein aus der Ökonomie heraus erklärt wird. Dies sei hilfreich für die aktuelle Diskussion, da der Aufstieg des rechten Populismus in einzelnen Ländern auch heute scheinbar gegen die Interessen bestimmter Kapitalfraktionen erfolgt. Freihandel, neoliberale Globalisierung, Interventionskriege zur ökonomischen Erschließung von Ländern und freie Verfügung über ein unbegrenztes Arbeitskräftereservoir, sprich Migration, lägen im Interesse führender Kapitalfraktionen. Eine populistische Rechte, die sich zumindest verbal gegen diese Interessen stellt, steht scheinbar in Widerspruch zu diesen Interessen der herrschenden Klasse. So lehnt die AfD TTIP ab, Freihandel wird generell in Frage gestellt, protektionistische Politik insbesondere von Trump favorisiert. Arbeitsmigration abgelehnt und die Forderung nach stärkeren staatlichen Interventionen in die Wirtschaft erhoben. Zudem weist die moderne Rechte eine heterogene Klassenbasis auf. Sie verzeichnet Erfolge in der Arbeiterklasse, auch bei Arbeitslosen, aber ebenso in den Mittelklassen und bei spezifischen Kapitalfraktionen vor allem im Mittelstand. Sie stellt das Volk der Elite gegenüber, gibt sich antikapitalistisch, antineoliberal und antiparlamentarisch, personalisiert Führung oftmals mit charismatischen Personen.

Abschließend hob der Referent deutliche Unterschiede der heutigen Situation zum Faschismus, aber auch zum Bonapartismus hervor. In Deutschland herrscht kein Klassengleichgewicht, die Durchsetzungsmacht der reformistischen Gewerkschaft ist niedrig, es existiert keine revolutionäre Arbeiterklasse und keine starke Linke, die in der Lage wäre, die Herrschaft des Kapitals massiv in Frage zu stellen. Das seien gravierende Unterschiede, welche die Nutzung dieses Ansatzes für die heutige Zeit durchaus in Frage stellen.


Länderanalysen zeichnen ein vielgestaltiges Bild

Wie Ingo Stützle bei Auszügen aus den Länderanalysen im zweiten Teil des Buches anmerkte, hätte man durchaus weitere Staaten wie Thailand, Indien oder Ungarn aufnehmen können. Enthalten sind unter anderem die USA, mit denen sich Ingar Solty befaßt. Was Marx im "Achtzehnten Brumiere" beschreibt, trifft seines Erachtens nicht so sehr für Frankreich nach 1848, als vielmehr für die USA nach den Befreiungskriegen zu. Manche Autoren halten das Populismusmoment sogar für ein originär nordamerikanisches Phänomen. Den aktuellen Veränderungen in den USA geht die Niederlage der Arbeiterklasse voraus, wobei nicht neue Parteien entstehen, sondern sich innerhalb der Demokraten und Republikaner widerstreitende Fraktionen herausbilden. Trump kommuniziert an den politischen Apparaten und Medien vorbei direkt mit der Bevölkerung. Solty zufolge müßte man den Bonapartismus angesichts der veränderten Bedingungen weiterentwickeln. Er schlägt den Terminus Softbonapartismus vor, der nicht zu einer Faschisierung, sondern einer Erosion der etablierten Strukturen führt.

Bob Jessop beschreibt für England den Brexit als einen Bonapartismus ohne Bonaparte, es fehlt also eine charismatische Führerschaft. Der Brexit gerät zum Heilsbringer für unterschiedlichste Klassenfraktionen, auf ihn werden alle Bedürfnisse projeziert, die vom politischen System nicht mehr befriedigt werden. Bonapartismus liefere einen guten Erklärungsansatz, müsse aber weiterentwickelt werden.

Rudolph Walther diskutiert Frankreich, knöpft sich aber nicht den Front National, sondern Macron vor. Demokratie und Ausnahmezustand schließen einander nicht aus, eingeschrieben ist dies in die Zweite Republik, die dem Staatspräsidenten große Gestaltungsmacht zuerkennt, so daß er qua Verfassung auch am Parlament vorbei regieren kann. Das haben alle Präsidenten gemacht, und Macron, dem nicht der Makel des alten Establishments anhaftet, nutzt die Verfassung, um die Reform des Arbeitsrechts durchzusetzen, an der die Vorgängerregierungen gescheitert sind.

In Österreich ist das Klassenpatt in die Institutionen nach 1945 eingeschrieben. Der Kooperatismus dominiert, die beiden großen Parteien sind überall präsent und machen Deals. Als der Klientelismus immer mehr Menschen ausschließt, tritt Mitte der 80er Jahre Jörg Haider auf den Plan und hebt den Populismus der Stammtische auf die politische Bühne. In Neoliberalisierung und Prekarisierung wollen die Menschen etwas im Leben darstellen.

In Italien kollabierte das Parteiensystem, die Wahlenthaltung wuchs. Die Fünf-Sterne-Bewegung als eine institutionalisierte Nicht-Partei bleibt politisch diffus, zieht aber Menschen an, die lange nicht gewählt haben. Michele Nobile spricht von Pseudopopulismus und verweist hinsichtlich des historischen Populismus wie Solty auf die USA.

Die Beiträge zu Rußland und zur Türkei bekräftigen die Nützlichkeit des Bonapartismus-Ansatzes, verlagern aber das bonapartistische Moment auf einen historisch früheren Zeitpunkt. In Rußland rivalisierten seit 1990 zwei Strömungen: weichere marktwirtschaftliche Entwicklung unter Kontrolle des Parlaments oder neoliberale Schocktherapie. Nach dem Putsch gegen das Parlament war Jelzin zwar formal entmachtet, aber die weiche Entwicklung abgeblockt. Rußland war 1998 pleite und mußte Staatsbankrott anmelden, worauf Putin als Ordnungspartei in die Bresche sprang und die chaotische Entwicklung beendete. Er unterband die Klassenkämpfe wie auch die Konflikte zwischen den Kapitalmagnaten und setzte eine autoritäre Regierung durch.

Zur Türkei sagt Axel Gehring, daß die bonapartistische Situation bereits viel früher stattgefunden hat, während wir gegenwärtig einen Faschisierungsprozeß erleben. Nachdem eine starke Linke und Gewerkschaftsbewegung den Staat vor sich her getrieben hatte, kam es zu Militärputschen in den 60er, 70er und 80er Jahren. Die Krisenlösung wurde auf die Arbeiterklasse abgewälzt, die Linke zerschlagen, erkämpfte Sozialstandards wurden abgebaut. In den 80ern setzte die neoliberale Entwicklung ein, und vor diesem Hintergrund trat die AKP zunächst als Verfechterin der Demokratie an. Die soziale Spaltung nimmt jedoch zu und das autoritäre Moment wird immer stärker, weil Nationalismus und Islam als ideologischer Kitt immer weniger greifen.

Die Länderanalysen mit ihren teils übereinstimmenden, teils aber auch erheblich voneinander abweichenden Momenten bekräftigen nach Auffassung Stützles den Bedarf an einer Staatstheorie, die es über das vorliegende Buch hinaus zu entwickeln gelte. So sagt Johannes Agnoli, daß die Klasse der Kapitalisten erst durch den Staat existiere, da die einzelnen Kapitalfraktionen bei der Erwirtschaftung ihrer Profite teilweise durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Der Staat formiert daraus ein Gesamtinteresse des Kapitals, wobei er zugleich die Spaltung und Einhegung der Arbeiterklasse betreibt.


Reduktionistische Deutungsmuster überwinden

Wie in der anschließenden Diskussion um so mehr zum Ausdruck kam, ist mit monokausalen und reduktionistischen Deutungsmustern nicht gedient, um der oftmals diffus und in sich widersprüchlich erscheinenden neuen Rechten habhaft zu werden und Gegenstrategien zu entwickeln. So unterscheidet etwa die AfD zwischen heimatlosem Kapital, das sie nicht interessiert oder sogar als Problem auffaßt, weil es über die Globalisierung hiesige nationalstaatliche Möglichkeiten aushebeln will, und lokalem Kapital, das sie befürwortet. In der Heterogenität der sozialen Basis kommen nicht wenige AfD-Anhänger aus kleinen oder mittleren Unternehmen, die nicht auf ein Exportmodell Deutschland fixiert sind wie das große Kapital. Die völkische Rechte um Höcke versteht sich wiederum als antikapitalistischer Flügel und will die soziale Frage von rechts thematisieren. Ein anderer Teil kommt eher aus einer nationalliberalen Tradition.

Bislang bekommt die AfD-Fraktion im Bundestag diese Widersprüche relativ problemlos unter einen Hut. Solange die AfD nicht regiert, muß sie diese Widersprüche nicht kleinarbeiten. Nähert sie sich einer Regierungsbeteiligung, werden womöglich Flügelkämpfe ausbrechen, Teile abgestoßen oder gar umfassende Zerfallsprozesse ausgelöst. Diese Prognose legt zumindest die Entwicklung der FPÖ nahe, die von 27 auf 10 Prozent abgestürzt ist, als sie in Regierungsverantwortung kam. Demgegenüber belegt das Beispiel der Lega in Italien, die eine erfahrene Regierungspartei ist, daß eine solche Entwicklung nicht zwangsläufig erfolgt. Zudem zeugen auch Ungarn oder Polen davon, daß rechte Parteien unter Umständen auch mit ihrer Widersprüchen aufsteigen und sich etablieren können.

Nationale und internationale Strategien schließen einander nicht aus, wie dies Macron praktiziert, der nationale Kapitalinteressen massiv unterstützt, während er andererseits versucht, Frankreich über Europa stärker zu machen. Selbst die autoritäre Variante zur Beendigung des Klassenkampfs von unten ist historisch gesehen nicht die einzig relevante Option. Während sich in Italien und Deutschland nach 1929 in der Weltwirtschaftskrise der Faschismus durchgesetzt hat, mündeten in den USA die heftigen Auseinandersetzungen der 20er Jahre in den New Deal. Die Krise des Kapitals kann auf unterschiedliche Weise gelöst werden, wobei vom Aufstieg der modernen Rechten in Europa gerade nicht die Krisenländer wie Portugal, Spanien oder Griechenland (von der Goldenen Morgenröte abgesehen) betroffen sind, sondern oftmals sogar jene Länder, die relativ gut aus der Krise 2008 hervorgegangen sind wie die Niederlande, die skandinavischen Staaten und selbst Deutschland als Hegemonialmacht. Offenbar spielt dabei eine maßgebliche Rolle, daß ein Teil der Bevölkerung nicht partizipiert und eine politische Repräsentanz sucht.

Wenngleich man die Aushöhlung der Demokratie beim neoliberalen Kapitalismus ansiedeln könnte, macht die Verselbständigung der Exekutive doch im Kern den bürgerlichen Staat aus. Eine politische Macht, die sich sowohl gegen die Arbeiterklasse als auch Fraktionen des Kapitals durchsetzen kann, ist nicht so sehr Resultat eines Klassenpatts, als vielmehr ein grundlegendes Wesensmerkmal des Staates als Repräsentant der Herrschaftssicherung. Der starke Staat, wie ihn sich die Rechte nach ihrem jeweiligen Gusto wünscht, ist mithin kein ausschließliches Resultat ihres Aufstiegs. So weist die Bundesrepublik im Jahr 2018 mit ihren neuen Polizeigesetzen deutliche Züge eines repressiven Sicherheitsstaats auf, der den nicht erklärten Ausnahmezustand in wachsendem Maße implementiert. Dessen Verhältnis zur neuen Rechten wäre eine von zahlreichen Fragen, die es in diesem Zusammenhang weiterzuentwickeln gilt.


Fußnote:

[1] Martin Beck, Ingo Stützle (Hrsg.): Die neuen Bonapartisten - Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen, Dietz Verlag Berlin 2018, 272 Seiten, 18,00 Euro

Mit Beiträgen von Hauke Brunkhorst, Frank Deppe, Axel Gehring, Felix Jaitner, Bob Jessop, Horst Kahrs, Michele Nobile, Sebastian Reinfeldt, Dorothea Schmidt, Ingar Solty, Rudolf Walther, Gerd Wiegel und Przemyslaw Wielgosz.


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