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BERICHT/063: 21. Linke Literaturmesse - der Straßenfreiheit Zähmung ... (SB)


Krisenproteste in Spanien - Basisbewegung versus Parlamentarismus?

Übertrag und Grenzen neuer Organisationsformen


Die Europäische Union und die Eurozone wurden von den führenden Nationalstaaten und deren dominierenden Kapitalfraktionen mit einer zweifachen Zielsetzung geschaffen. Sie wollten zum einen in der globalen Konkurrenz einen einflußreichen Wirtschaftsblock etablieren, der zum anderen im Inneren den Vorsprung der Volkswirtschaften mit der höchsten Produktivität zu Lasten der Peripherie sichern und ausbauen sollte. Diese im Dienst expandierender Kapitalverwertung notwendige Ungleichheit trat im Zuge der Krise in aller Schärfe zum Vorschein. Während sich Deutschland dank der europaweit rigorosesten Durchsetzung von Niedriglohn und prekärer Beschäftigung und des daraus resultierenden Produktivitätsvorsprungs beim Niederkonkurrieren anderer Volkswirtschaften die Vorherrschaft in Europa gesichert hat, zählt Spanien neben Griechenland zu den größten Verlierern bei der Abwälzung der Krisenlasten in die Peripherie der EU.

Das spanische Wirtschaftswachstum wurde jahrelang maßgeblich mit einem von nationalen wie internationalen Spekulationen angefachten Bauboom angeheizt. Als die Krise 2007 das Land erfaßte, zog das Platzen der Immobilienblase dramatische Folgen wie Insolvenzen, einen rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit sowie die Verwendung enormer Summen an Staatsgeldern für Bankenrettungen nach sich. Von EU, EZB, IWF und der nationalen Regierung erzwungene Austeritätsmaßnahmen führten zu massiven Einschnitten im Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem wie auch zu einer tiefgreifenden sozialen und politischen Erschütterung der Gesellschaft.

Dieser strategische Angriff zur Durchsetzung und Vertiefung der Ausbeutungs- und Verfügungsverhältnisse auch und gerade in der Krise unterwarf die spanische Bevölkerung verheerenden Elendsfolgen. Rund 25 Prozent der Spanierinnen und Spanier leben an oder unter der Armutsgrenze. Menschen hungern, haben die Wohnung verloren oder können ihre Wohnräume nicht angemessen beheizen. Besonders die Kinderarmut hat massiv zugenommen, rund zwei Millionen Kinder leiden unter Mangelernährung. Die Jugendarbeitslosigkeit beläuft sich auf über 50 Prozent, seit 2012 haben mehr als eine Million junger Menschen das Land verlassen, so daß von einer "verlorenen Generation" die Rede ist. Wer noch bezahlte Arbeit hat, ist zumeist prekär beschäftigt, was den Aufbau einer eigenen Existenz nicht zuläßt. 2011 lebten zirka 70 Prozent der 18-34jährigen mangels eigenen Wohnraums in einem Haushalt mit Eltern oder Großeltern.

Seit 2007 wurden weit mehr als 500.000 Zwangsräumungen vollstreckt, wobei das Konfliktfeld Wohnen durch zwei Aspekte verschärft wird. Zum einen mangelt es an sozialem Wohnungsbau, so daß nur wenige Menschen Wohnraum mieten können. Zum anderen führt die Gesetzeslage dazu, daß Zwangspfändungen, bei denen Immobilien in Bankenbesitz übergehen, nicht automatisch zur Schuldentilgung führen. Die Hypotheken sind an die Person des Schuldners gebunden, so daß wegen des Preisverfalls der Immobilien viele Zwangsgeräumte weiterhin und angesichts kaum vorhandener Einkünfte lebenslang für die Schulden haftbar bleiben.

Wollte man von einer Geburtsstunde der landesweiten spanischen Protestbewegung sprechen, so sind die massenhaften Demonstrationen in zahlreichen Städten am 15. Mai 2011 zu nennen. Dieses Datum wurde namensgebend für die Bewegung 15M, die auch als Bewegung der Empörten (Indignados) bezeichnet wird. Es folgten wochenlange Platzbesetzungen, eine flächendeckende Mobilisierung gegen Zwangsräumungen oder für Gesetzesinitiativen, die Einrichtung sozialer Zentren in besetzten Häusern und privat organisierte Essensausgaben für Hungernde. Rasch drängte die Bewegung zudem auf Veränderungen der nationalen politischen Agenda. Gefordert werden Transparenz und Partizipation, Bekämpfung der Korruption sowie ein Zugriff auf die Verursacher der Krise. Wenngleich der Schwung der Bewegung inzwischen nachgelassen hat, bildete diese doch ein dichtes Netz an Initiativen, Arbeits- und Protestgruppen heraus. Neben jenen Akteuren, die schon vor 15M politisch aktiv waren, sind es insbesondere junge Menschen, die sich erstmals im Kontext der Mobilisierung politisch engagierten und radikalisierten.

Die spanische Regierung reagierte auf die Mobilisierung mit restriktiven Sicherheitsbestimmungen und einer Sanktionierung von Aktivistinnen und Aktivisten auf Grundlage des 2014 massiv verschärften "Gesetzes zur Sicherheit der Bürger". So werden beispielsweise Geldbußen gegen Menschen verhängt, die an Demonstrationen teilnehmen, das gewalttätige Vorgehen der Polizei fotografisch dokumentieren oder Essen aus Abfallcontainern entnehmen. Obgleich Spanien mit der Einschränkung von Grundrechten gravierend gegen EU-Standards verstößt, erhebt Brüssel keinen Einspruch, sind diese Standards doch auch andernorts wie etwa beim Ausnahmezustand in Frankreich zunehmend Fiktion.

Empfanden zu Beginn der Krise viele Menschen Scham angesichts der als individuelles Verschulden aufgefaßten Arbeitslosigkeit und Armut, so wandelte sich diese im Zuge der Bewegung zunehmend in kollektive Wut. Es wuchs das Mißtrauen gegenüber der politischen Kaste und staatlichen Strukturen wie auch den europäischen Institutionen und Führungsmächten wie Deutschland, da die Radikalisierung den Blick für die Verursacher und Nutznießer der Misere schärfte. Basisinitiativen fordern unter anderem eine fundamentale Umverteilung, ein Ende der Austeritätspolitik, die Annullierung der Staatsschulden, eine Stärkung des Sozial- und Bildungssystems, eine strikte Kontrolle der Finanzmärkte sowie nicht zuletzt ein Grundeinkommen. Viel wird davon abhängen, ob die Bewegung in der Auseinandersetzung auf ihren Positionen beharrt und sie weiterentwickelt oder sich im Gegenteil durch die Herausbildung parteipolitischer Strukturen und anderer Formen der Rückbindung befrieden und in die Teilhaberschaft manövrieren läßt.


Hypothekenkrise und Deindustrialisierung

Nikolai Huke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eberhard Karls Universität Tübingen und hat mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung über Krisen der demokratischen Repräsentation und sozialen Protest in Spanien geforscht. Im Rahmen der 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte er Auszüge seines Buches Krisenproteste in Spanien vor, das in der édition assemblage erschienen ist. [1] Er gab einen Überblick über Protestbewegungen in Spanien im Kontext der Eurokrise und zeigte auf, wie im Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Verarmung und Prekarisierung neue Formen der radikaldemokratischen Selbstorganisation, des zivilen Ungehorsams und alternative parteipolitische Strukturen entwickelt wurden. Auf der Grundlage von Interviews, die Huke zwischen 2012 und 2015 in Spanien geführt hat, ging er insbesondere der Frage nach, welche Vorteile bestimmte Aktions- und Organisationsformen haben und mit welchen Problemen sie andererseits behaftet sind. In seinem Vortrag konzentrierte er sich auf die Bewegung 15. Mai und die Plattform der Hypothekenbetroffenen, während er die neuen Parteien und die Protestbewegungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich aus Zeitgründen lediglich streifte.

Wie der Referent ausführte, sei es in Spanien zu einer Verschränkung verschiedener Krisenprozesse des Kapitalismus gekommen. Die Akkumulation habe von Ende der 80er Jahre bis 2007 auf einem Immobilienboom basiert, wobei vor allem Privatleute Hypotheken aufnahmen und sich verschuldeten, um Wohnraum zu erwerben, der auf andere Weise kaum zu bekommen war. Das funktionierte lange recht gut, es wurden mehr Häuser gebaut und neue Arbeitsplätze entstanden. Die Verkaufspreise stiegen, die Zinsen waren sehr niedrig, was vor allem an der Wirtschafts- und Währungsunion der EU lag.

Auslöser des Zusammenbruchs von 2007 war die Finanzkrise in den USA, die sich auf europäischer Ebene in eine Bankenkrise transformierte. Die spezifische Form der Krise in Spanien beruhte auf der hohen Verschuldung zahlreicher Familien, die ihre Hypotheken nicht mehr bedienen konnten, als die Banken ihre Kreditvergabe einstellten. Das hatte drastische Konsequenzen für die kapitalistische Akkumulation und um so mehr für die alltäglichen Lebensbedingungen der Bevölkerung. Eine zweite Säule der Wirtschaft war die Automobilindustrie, in der es zu einer Überakkumulation kam. In der Krise brach die Produktion in diesem Sektor dramatisch ein, und da auch die Zulieferer betroffen waren, setzte ein starker Deindustrialisierungsprozeß ein, der wiederum die Hypotheken- und Bankenkrise verschärfte.

Der Staat habe zunächst mit Keynesianismus reagiert, dann ab 2010 mit einer autoritären Austeritätspolitik, die zwei Ziele verfolgte: Zum einen über die Senkung der Lohnkosten die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, zum anderen die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, um das Vertrauen der Rating-Agenturen und Investoren wiederzugewinnen. Teil des Austeritätsprogramms waren Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst, eine Restrukturierung der industriellen Beziehungen (Vorrang betrieblicher Tarifverträge vor Flächentarifverträgen), Rückbau der ohnehin niedrigen sozialen Sicherung und eine gesetzliche Verankerung der Sparpolitik in der Verfassung (Schuldenobergrenzen auf allen Ebenen). Hinzu kam eine Einschränkung der Freiheitsrechte vor allem durch das "Gesetz zur Sicherheit der Bürger", das paßgenau all das kriminalisierte, was die sozialen Bewegungen in den Jahren zuvor an Protest- und Aktionsformen entwickelt hatten.

Diese Entwicklung habe dazu geführt, daß die Akzeptanz von Politik und Parteien erodierte und der Staat zunehmend als Vollstrecker beängstigender Maßnahmen empfunden wurde. Auf dem tief gespaltenen Arbeitsmarkt haben junge Leute wie auch Migranten kaum Aussichten auf eine Erwerbstätigkeit. Beispielsweise sind marokkanische Jugendliche, die zuvor in der Bauwirtschaft beschäftigt waren, zu 80 Prozent erwerbslos. Etwa die Hälfte der Beschäftigten ist in prekären Arbeitsverhältnissen tätig, die das Auskommen nicht sichern. Die Privatverschuldung steigt von einem hohen Niveau aus weiter an, die Zahl erwerbstätiger Personen pro Haushalt geht drastisch zurück, viele Haushalte hängen ausschließlich von den geringen Renteneinkommen ab. Aufgrund der sozialen Probleme sind die Raten der Depressions- und Suchterkrankungen dramatisch gestiegen, so der Referent.


Widerstand jenseits etablierter Institutionen

Wie Huke weiter ausführte, blieb eine Reaktion auf die soziale Krise bis Mitte 2011 weitgehend aus. Den Gewerkschaften sei es schwergefallen, sich auf die Situation einzustellen, da ihre traditionelle Strategie der Sozialpartnerschaft nicht mehr griff. Weder die Unternehmen, noch deren Verbände oder der Staat waren zu Zugeständnissen bereit. Die gewerkschaftliche Kampffähigkeit nahm ab, da die Beschäftigten vor allem den Verlust des Arbeitsplatzes fürchteten. Im industriellen Sektor kam es zu erheblichen Einbußen bei den Tarifverträgen, zumal die Gewerkschaften den massiven Verschärfungen wie insbesondere den individuellen Verträgen in den Unternehmen kaum gewachsen waren. Dies trug maßgeblich zu einem Klima der Passivität und Demobilisierung bei.

Auch die Linkspartei Izquierda Unida sei nur begrenzt in der Lage gewesen, die Probleme auf einer politischen Ebene zu artikulieren. Sie war auf den Staat fixiert, stark bürokratisiert und zeichnete sich durch heftige Fraktionskämpfe aus. Viele Aktive verbanden mit dieser Partei unangenehme Erfahrungen wie geringes Engagement, Kleinkariertheit und Fixierung auf die Institutionen. Selbst der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, die der Vereinigten Linken angehörte, sprach von einer schlecht organisierten Partei ohne Kohärenz, der es an Mechanismen mangele, Widersprüche, die in jeder Organisation auftreten, sinnvoll zu bearbeiten.

Diese Situation habe zur Explosion des 15. Mai geführt, als sich die Bewegung mit einer relativ offenen Plattform organisierte. Aus dieser Demonstration heraus entstanden die Platzbesetzungen, die jedoch nach einem Monat schon wieder aufgegeben und in die Stadtteile verlagert wurden. In dieser Bewegung bildete sich eine neue Art, Politik zu machen, heraus: Basisdemokratie über Vollversammlungen, Mechanismen der Partizipation, die es ermöglichten, daß sich alle auf eine möglichst gleichberechtigte Weise beteiligen konnten. Die Bewegungen waren offen für Leute ohne politische Vorerfahrungen, da sie konsequent eine Politik der ersten Person verfolgten: Stets bei den eigenen alltäglichen Erfahrungen anfangen, davon berichten und diese Erfahrungen kollektivieren, um politische Forderungen und Strategien zu entwickeln - also ein völlig anderer Ausgangspunkt als ein Ansetzen bei theoretischen Analysen der Krise.

In der Folge des 15. Mai fand eine Aktivierung und Politisierung der Bevölkerung statt, da plötzlich eine Möglichkeit existierte, die Unzufriedenheit und Wut zum Ausdruck zu bringen. Die individuelle Enttäuschung vieler Menschen aus der Mittelschicht über die gebrochenen sozialen Versprechen mündete zunächst in den Protest, der sich dann politisierte. Wenngleich es Verbindungen zu vorangegangenen Formen des Aktivismus gab, spielten die alten Aktivisten nur eine geringe Rolle. Nachdem die Nachkriegssituation und Repression die Linke schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte, kamen nun Menschen zusammen, die Mitglied in keiner Partei waren. Der traditionelle Streit unter linken Fraktionen war hier zunächst bedeutungslos bis nicht existent. Zentral für die neuen Bewegungen war der Begriff des sozialen Bürgers, der auf andere Art und Weise interagiert und keine der schon geschaffenen Strukturen als Referenzpunkt sucht.

Die Bewegung 15. Mai war jedoch auch mit einer Reihe von Problemen behaftet. 2012 waren nur noch wenige der zuvor entstandenen Strukturen aktiv, es gab noch punktuelle Mobilisierungen, aber keine dauerhafte Präsenz mehr. Hinzu kam, daß sich aus den alltäglichen Erfahrungen nur unmittelbare Forderungen ableiten ließen und es bis zur Kritik des Kapitalismus noch ein weiter Weg war. Beispielsweise richtete sich die Wut vor allem gegen die spanische Regierung, während die internationale Perspektive eher verlorenging. Vor allem aber gelang es nicht, dauerhafte Organisationsstrukturen zu entwickeln, zumal auch die Entscheidungsprozesse über die Vollversammlungen zu schwerfällig verliefen.

Allerdings strahlte der 15. Mai in andere Bewegungen wie jene gegen die Zwangsräumungen aus, die seine Grammatik übernahmen. Es war landesweit zu Protesten gekommen, die vom Recht auf Wohnraum bis zu Besetzungen und der Verhinderung von Zwangsräumungen durch zivilen Ungehorsam reichten. Eine zentrale Rolle spielte die Plattform der Hypothekenbetroffenen, die schon 2009 von Aktivisten aus einer postautonomen Szene gegründet worden war. Nach dem 15. Mai bekamen dessen universitär und städtisch geprägten Teile erstmals Kontakt mit den Bewohnern der peripheren Stadtteile. Viele der Empörten suchten nach Möglichkeiten, sich zu engagieren, und die Plattform mit ihrer bereits bestehenden Struktur und den konkreten Lösungsvorschlägen bot genau das.

Sie praktiziert vor allem eine kollektive Beratung, zu der Leute kommen konnten, die mit Problemen von Zwangsräumung aller Art zu tun hatten, seien es der Verlust des Wohnraums, Bürgschaften für die Kinder oder drückende Schulden. Man versucht gemeinsam, Zwangsräumungen zu verhindern oder Schuldenerlaß und soziale Mieten auszuhandeln, wofür mitunter auch Banken symbolisch besetzt werden. Damit wurden kleine konkrete Erfolge erzielt, die das Leben der Betroffenen veränderten und eine kollektive Dynamik hervorbrachten. Getragen wird die Plattform wesentlich von Frauen, was wohl damit zusammenhängt, daß es den Männern, die ihren Job verloren haben, relativ schwerfällt, dies offenzulegen und kampffähig zu werden. Im Unterschied zum 15. Mai sind an der Plattform auch Migrantinnen und Migranten, vor allem aus Lateinamerika, erheblich stärker beteiligt, so der Referent.

Individuell erlebte Schuld könne in eine gemeinsame Erfahrung überführt werden, wofür eine Politik der Zuneigung und gegenseitigen Anerkennung eine maßgebliche Rolle spiele. Man arbeite an einer kollektiven Lösung, wobei die Betroffenen ihren Fall mit durchkämpfen müßten. In einem Prozeß der Selbstermächtigung falle der Kampf für die Lösung der eigenen Probleme mit der Unterstützung anderer zusammen. Man bringe die eigenen Erfahrungen ein, aber nicht mit dem messianischen Gestus der Linken, die Unwissende belehren, sondern unter Würdigung der Kompetenzen anderer Menschen.


Dynamik der Basis weicht Parteistrukturen

So explosionsartig die Bewegungen hervorbrachen und sich ausbreiteten, so rasch verebbte ihre Dynamik oftmals wieder. Der Zyklus des 21. Mai beschränkte sich auf 2011/2012, die Kämpfe im Bildungs- und Gesundheitsbereich wurden zwischen 2012 und 2014 geführt, lediglich die Plattform der Hypothekenbetroffenen bleibt relativ konstant. Zwar wirkt die Aktivierung der Bevölkerung nach, doch sind inzwischen viele Menschen wieder zu ihren individuellen Überlebensstrategien zurückgekehrt. Hinzu kommt die Auswanderungswelle all jener, die in Spanien keine Perspektive mehr sahen.

Ab 2014 nahm eine parteipolitische Dynamik mit der Gründung radikaldemokratischer Wahlplattformen auf kommunaler Ebene rasch Fahrt auf, an denen teilweise Podemos, aber auch Kandidatinnen aus den sozialen Bewegungen beteiligt waren. Die linken Regierungen in Barcelona und anderen Städten betrieben eine Politik der kleinen Schritte, um sozialpolitische Verbesserungen herbeizuführen. Ein tiefgreifender Bruch mit der Austeritätspolitik und der alltäglichen Prekarität konnte das zwangsläufig nicht sein, zumal Verbesserungen seitens einer Stadtregierung begrenzt blieben. Zudem benötigten die neuen Administrationen fachliche Kompetenz, wofür sie auf die alten Strukturen zurückgreifen mußten. Grundsätzlich ist die Mobilisierung gegen solche Regierungen, die aus den vordem eigenen Reihen hervorgegangen sind, natürlich erheblich schwerer geworden.

Podemos wies anfangs einen ausgeprägt basisdemokratischen Bezug mit offenen Arbeitskreisen auf, an denen sich viele Leute aus den Bewegungen beteiligten. Bald wurde die Parteistruktur jedoch vertikalisiert, um der Führung eine starke Rolle einzuräumen. Das war insofern zu erwarten, als eine schnelle Interventionsfähigkeit angestrebt wurde, um den Moment des Bruchs zu nutzen, den die Bewegungen herbeigeführt hatten. Die Gefahr der Verselbständigung als Partei war jedoch zwangsläufig um so größer, je stärker sie sich hierarchisch formierte. [2] Ob Podemos den Weg Syrizas gehen wird, läßt sich noch nicht abschließend beantworten, zumal eine Regierungsbeteiligung auf nationaler Ebene vorerst nicht absehbar ist. Vor dieser Gefahr die Augen zu verschließen, hieße jedoch, den Verlauf der Parteiprojekte links von der Sozialdemokratie in anderen europäischen Ländern zu ignorieren und die Auseinandersetzung mit den Fesseln des Parlamentarismus als solchem zu scheuen.


Fußnoten:

[1] Nikolai Huke: Krisenproteste in Spanien. Zwischen Selbstorganisation und Überfall auf die Institutionen, Edition Assemblage 2016, ISBN 978-3-96042-006-4 | WG 973

[2] Siehe dazu:
BERICHT/239: Erwerbslosennetzwerk Baladre - zarte Blüte, starkes Gift ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0239.html

INTERVIEW/318: Erwerbslosennetzwerk Baladre - auf der Straße wird's entschieden ...    Manolo Saez Bayona im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0318.html


Berichte und Interviews zur 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/059: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (1) (SB)
BERICHT/060: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (2) (SB)
BERICHT/061: 21. Linke Literaturmesse - und was wirklich geschah ... (SB)
BERICHT/062: 21. Linke Literaturmesse - Triumph der Verkennung (SB)
INTERVIEW/077: 21. Linke Literaturmesse - Debattenknigge ...    Walter Bauer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/078: 21. Linke Literaturmesse - Aktionskunst kollektiv ...    Bernd Langer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/079: 21. Linke Literaturmesse - Bilder, Medien und Dokumente ...    Gabriele Senft im Gespräch (SB)
INTERVIEW/080: 21. Linke Literaturmesse - Debattenimporte zu Karl Marx ...    Mahaboob Hassan im Gespräch (SB)
INTERVIEW/081: 21. Linke Literaturmesse - Kapitalismusforcierte Phänomene ...    Gert Wiegel im Gespräch (SB)
INTERVIEW/082: 21. Linke Literaturmesse - Halbherzig ...    Stefan Hirsch im Gespräch (SB)

5. Dezember 2016


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