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SPRÜNGE/006: Brüder Grimm, Literaturwissenschaftler der ersten Stunde (SB)


Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm (1785-1863 / 1786-1859)

Literaturwissenschaftler und Sprachforscher der ersten Stunde


Die Brüder Grimm - bei diesem "Stichwort" weiß natürlich jeder sofort, wovon diesmal in SPRÜNGE die Rede sein wird?

Um der Festigung eines Vorurteils gleich vorzubeugen, empfehle ich dringend, DIE BRILLE aufzusetzen! Unter ihrem ungewohnten Blickwinkel stellt sich schnell heraus, daß es völlig unzutreffend wäre, die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm, die für ihre atemberaubend umfangreiche wissenschaftliche Arbeit an deutscher Sprache und Literatur und ihr politisches Engagement verfolgt wurden und unter das "Berufsverbot" fielen, auf die Funktion "deutsche Märchenonkel" zu reduzieren.

"Insidern" ist bekannt, daß sie nicht nur inhaltlich, sondern auch in öffentlicher Repräsentanz erheblichen Anteil an der Begründung der Germanistik und der Literaturwissenschaft hatten. Durch ihre Erforschung der germanischen Sprachen wurden die Brüder Grimm Mitglieder zahlreicher deutscher und ausländischer Gesellschaften und Akademien und knüpften fachliche und freundschaftliche Beziehungen zu vielen bedeutenden Schriftstellern, Künstlern und Gelehrten ihrer Zeit. Sie bezogen sich mit ihrer Arbeit nicht nur auf Deutschland, sondern hatten auch Verbindungen nach Spanien, Frankreich, Schottland, Irland, in den slawischen Raum (Beitrag Jakob Grimms zur serbischen Grammatik) und Rußland, sogar zur Amerikanischen Ethnologischen Gesellschaft. Zur Zeit, als Napoleon fast ganz Europa dominierte, wollten die Brüder Grimm die deutsche Sprache besonders betonen bzw. aufleben lassen. Durch ihre Teilnahme am Protest der Göttinger Sieben (1837) und an der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche (1848), wovon im folgenden noch die Rede sein wird, setzten sie sich für die nationale Einigung Deutschlands ein. Vor allem Jakob Grimm hat sich politisch engagiert: Er leitete die ersten Germanistentage und war Mitglied des Frankfurter Parlaments. Im zersplitterten Deutschland waren sie aber allein schon durch die Betonung der "deutschen Forschung", die sie betrieben - anstatt einer preußischen oder bayerischen -, verdächtig und wurden mit massiven Disziplinierungen verfolgt.

Es gilt in diesen SPRÜNGEN, das traditionelle Bild von den zurückgezogenen, in familiärer Idylle fleißig schaffenden und märchensammelnden Brüdern zu korrigieren.

Um ihre Absichten und Interessen besser zu verstehen, wird ein kleiner Ausflug in das zeitgeschichtliche Umfeld hier vorangestellt.


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Im Jahre 1848 gab es fast durchgehende Eisenbahnverbindungen [...]. Dampfschiff, Gaslaterne, Telegraph waren in Betrieb, es gab Fabriken und Kinderarbeit; die bürgerlichen Parteien formierten sich als Konservative, Liberale und Demokraten, Marx und Engels veröffentlichten das "Manifest der Kommunistischen Partei". Und dennoch: Mit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, speziell den Jahren 1815 bis 1848, verbinden auch heute noch die meisten Menschen Postkutsche, Brüder Grimm, Spinnrad und Zipfelmütze, Spitzwegs "Armen Poet in der Dachstube", Eichendorffs "Taugenichts" zwischen Mühle und Schloß, den Nachtwächter mit Hellebarde und Horn, kurz: Die romantische Biedermeierzeit steht vor ihren Augen, das ländliche Deutschland, vorindustriell und noch so poetisch.

In dieser Vergangenheitsverklärung wird allzu gerne übersehen, daß in jener Zeit des äußeren Friedens ein bis zur Revolution sich verschärfender Bürgerkrieg stattfand, daß durch tiefgreifende politische und soziale Strukturveränderungen, Erfindungen und Entdeckungen in Naturwissenschaft und Technik jahrhundertealte Traditionen in beschleunigter Weise hinweggeräumt werden. [1]

In Deutschland wurden die bürgerlich-liberale und auch die sozialistische Opposition von Anfang an unterdrückt und verfolgt. Dadurch verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen Feudalismus und radikalem Kleinbürgertum bzw. Proletariat.

Durch die "Karlsbader Beschlüsse" von 1819 [...] wurde sowohl die bürgerliche Verfassungsbewegung als auch die an den Universitäten von enttäuscht aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon heimkehrenden Studenten [...] und Professoren getragene nationale Einigungsbewegung kriminalisiert und z.T. in den Untergrund gedrängt. Nach 1830 wurden liberale und demokratische Protestaktionen und Aufstände (Hambacher Fest 1832, Geheimbünde vom "Deutschen Volksverein" bis hin zum "Bund der Gerechten") noch gnadenloser verfolgt, viele Beteiligte eingesperrt oder ins Exil getrieben und selbst vor blanken Willkürakten nicht zurückgeschreckt (wie im Fall der sieben Göttinger Professoren - darunter die Brüder Grimm -, die 1837 öffentlich gegen den Verfassungsbruch durch den hannoverschen König protestierten und entlassen wurden). Nach 1840 spitzen sich die Konflikte zwischen feudalem Polizeistaat und aufbegehrender Bevölkerung auf breitester Ebene entschieden zu, zumal zum politisch sich organisierenden Protest nun auch noch der Druck des wachsenden sozialen Elends der unteren Klassen trat (Weberaufstand 1844, Hungerrevolten 1847). So kam die Revolution von 1848 durchaus nicht unerwartet. [2]

Hinzu kam, daß der Literaturmarkt ab 1848 mit der anwachsenden Buchproduktion durch die Erfindung der Papiermaschine und der Schnellpresse an Bedeutung gewann. Bis dahin hatte es an den Universitäten kein selbständiges Fach "Deutsche Literaturwissenschaft" gegeben; wenn sie überhaupt betrieben wurde, dann von sog. "Germanisten", die sich mit (alt)deutschem Recht, (alt)deutscher Geschichte und Sprache befaßten, was schon als Ausdruck politischer Opposition galt. Viele Schriftsteller und Gelehrte wählten in ihren Werken nun nicht nur direkt politische Themen (von Verfassungsfragen bis zum sozialen Elend), sondern beteiligten sich auch an der Praxis durch Mitgliedschaft im Parlament (zum Beispiel Uhland, Grimm, Arndt, Blum u.a.; im Untergrund: Follen, der Pfarrer Weidig, Büchner, Herwegh u.a.).

Durch die Entstehung und Erweiterung des Literaturmarktes konnte im Vormärz das gedruckte Wort nicht nur rascher und wirksamer in weite Bevölkerungskreise getragen werden, zugleich setzte auch die Herausbildung eines zahlungskräftigen und -bereiten, lesekundigen und interessierten Publikums den engagierten Schriftsteller in den Stand, sich aus der im kleinstaatlichen Deutschland traditionellen Abhängigkeit vom feudalen Dienstherrn und Mäzen zu befreien und seine Kritik offen auszusprechen. [3]

Im Laufe ihres Lebens waren die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm mehrfach gezwungen, auf die politischen Verhältnisse mit Flucht oder Veränderung ihrer beruflichen Laufbahn zu reagieren. Zu keiner Zeit ließen sie sich allerdings von ihren Forschungen und ihrer politischen Tätigkeit abbringen.

In seinem Dankschreiben an den Wahlkommissar bekannte Jakob Grimm seine politische Überzeugung: "Ich bin für ein freies, einiges Vaterland unter einem mächtigen König ...". Viermal ergriff er in der Paulskirche das Wort. Bei der Beratung der Grundrechte des deutschen Volkes beantragte er, dem ersten Artikel des Entwurfs als neuen ersten Artikel voranzustellen: "Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei." Der Antrag wurde mit 192 Ja-Stimmen gegen 205 Nein-Stimmen abgelehnt. Noch einmal meldete sich Jakob Grimm bei der Beratung der Grundrechte zu Wort. Als selbstbewußter Bürger stellte er in einer großen, vom Beifall der Linken und des Zentrums begleiteten Rede den Antrag: "Aller rechtliche Unterschied zwischen Adeligen, Bürgerlichen und Bauern hört auf, und keine Erhebung weder in den Adel noch aus einem niedern in den höheren Adel findet statt." Hatte sich Jakob Grimm 1848 noch "gegen alle republikanischen Gelüste" erklärt, so scheint er sich am Ende seines Lebens radikaleren politischen Vorstellungen geöffnet zu haben. Wenige Jahre vor seinem Tod schrieb der über 70jährige an den Historiker Waitz:

"Wie oft muß einem das traurige Schicksal unseres Vaterlandes in den Sinn kommen und auf das Herz fallen und das Leben verbittern. Es ist an gar keine Rettung zu denken, wenn sie nicht durch große Gefahren und Umwälzungen herbeigeführt wird... Es kann nur durch rücksichtslose Gewalt geholfen werden. Je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt bin ich. Säße ich nochmals in einer Nationalversammlung, ich würde viel mehr mit Uhland, Schoder stimmen, denn die Verfassung in das Geleise der bestehenden Verhältnisse zu zwängen, kann zu keinem Heil führen... In den Wissenschaften ist etwas Unvertilgbares, sie werden nach jedem Stillstand neu und desto kräftiger ausschlagen." [4]


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Biographische Daten

Als "Brüder Grimm" bezeichnet man nur die beiden ältesten der insgesamt sechs Geschwister Grimm. Jakob (geboren am 4. Januar 1785 in Hanau) und Wilhelm (geboren am 24. Februar 1786 in Hanau) erlangten über ihre Zeit hinausgehende Bedeutung sowohl als Gelehrte als auch als engagierte Bürger. Sie arbeiteten in einer einzigartigen Lebensgemeinschaft zusammen, die ununterbrochen sechs Jahrzehnte dauerte.

Als sie zum erstenmal für längere Zeit nicht beieinander waren, schrieb Jakob Grimm aus Paris nach Kassel: "Lieber Wilhelm, wir wollen uns einmal nie trennen, und gesetzt, man wollte einen anderswohin tun, so müßte der andere gleich aufsagen. Wir sind nun diese Gemeinschaft so gewohnt, daß mich schon das Vereinzeln zum Tode betrüben könnte" (17. Juli 1805). [5]

Die jüngeren Brüder Carl (Einführung in die italienische Buchführung), Ferdinand (Sammlungen und Veröffentlichungen volksläufiger Sagen) und der als Malerbruder bekannte Ludwig Emil (Lebenserinnerungen) schrieben ebenfalls Bücher. Von der Jüngsten, Lotte, sind nur Familien-Briefe überliefert.

Die Familie Grimm stammte aus Hessen. Ihre Vorfahren waren Pfarrer (reformiert), der Vater war Amtmann, zunächst in Hanau. Dort wurden Jakob und Wilhelm geboren. Dann lebte die Familie von 1791 bis zum frühen Tod des Vaters (1796) in Steinau an der Straße. Die beiden Brüder blieben zeitlebens Hessen mit seinen bäuerlich geprägten, reichhaltigen Traditionen und volkstümlichen Bräuchen und Überlieferungen eng verbunden. Hessen wurde zum Hintergrund ihres wissenschaftlichen Werdegangs.

Schwierigkeiten bei der Sicherung ihrer ökonomischen Existenzgrundlage und sozialer Abstieg kennzeichneten die Gymnasialjahre in Kassel (seit 1798) und das Jurastudium in Marburg (1802-05). 1808 starb die Mutter, und Jakob mußte schon früh die Rolle des Familienoberhauptes einnehmen. Er brach schließlich sein Studium ohne Abschluß ab. Bruder Wilhelm fand trotz vollendeter Ausbildung nur einen schlecht bezahlten Arbeitsplatz, so daß die Brüder Grimm in Armut lebten, was ihre politische Einstellung geprägt hat.

1805 reiste Jakob mit dem Rechtshistoriker Friedrich Carl von Savigny, bei dem sie studiert hatten und dessen Methodik sie auf die Literatur-und Sprachwissenschaft übertrugen, nach Paris. 1806 begann Jakob eine vielversprechende Laufbahn als Sekretär beim Kriegsdepartement in Kassel, 1815 wurde er Beamter im auswärtigen Dienst zur Rückführung geraubten Kulturguts aus Paris. Nachdem Wilhelm 1814 Bibliothekarssekretär in Kassel geworden war, gab Jakob 1816 seine Tätigkeit beim hessischen Kriegskollegium schon wieder auf zugunsten der schlecht bezahlten Tätigkeit bei der Kurfürstlichen Bibliothek in Kassel, um mit seinem Bruder Wilhelm zusammen zu arbeiten.

Ab 1811 erschienen die ersten Bücher der Brüder Grimm, die sie schnell zu europäischen Berühmtheiten machten, u.a. der erste Band der "Kinder- und Hausmärchen" und der erste Band der "Deutschen Grammatik" (Formenlehre).

1814/15 nahmen sie am Wiener Kongreß teil.

1819 erhielten Jakob und Wilhelm von der Universität Marburg das Ehrendoktorat
(phil.)

Neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten hatten die beiden ältesten Brüder auch familiäre Sorgen. Zum einen gab es Probleme mit der Schwester, der in zu jungen Jahren die Führung des sechsköpfigen Haushalts anvertraut worden war und zum anderen machten sie sich lange Jahre Sorgen um Ausbildung und Beruf des Malerbruders. Zudem stritten sie sich ihr Leben lang mit dem vierten Bruder Ferdinand, der die Brüder immer wieder in persönliche Schwierigkeiten brachte und von ihnen ständige finanzielle Unterstützung forderte.

Nur nach langem Zögern und unter dem Druck der familiären Situation heiratete Wilhelm Grimm erst 1825 die Apothekerstochter Dortchen Wild, der er seit 1805 verbunden war. Mit Selbstverständlichkeit und für immer integrierte er Jakob in seine Familie, was nicht gerade den zeitgenössischen Vorstellungen gutbürgerlicher Normalität entsprach. Wilhelm war es trotz seiner frühen Herzerkrankung zu verdanken, daß Jakob allezeit der Rücken für seine Arbeiten und Forschungen freigehalten wurde. Wilhelm wickelte die finanziellen Angelegenheiten ab und führte in der Regel die Verhandlungen mit den Verlegern. Daß Wilhelm stets freiwillig hinter seinem Bruder zurückstand, machte ihn in den Augen seiner Mitmenschen zu einem verbindlichen, liebenswürdigen und warmherzigen Menschen, was sich in der Reaktionen vieler bedeutender Zeitgenossen zeigte: Er nahm schon als junger Mann Goethe für sich ein und war der eigentliche Adressat der Freundschaft, die etwa Clemens Brentano und Achim und Bettina von Arnim dem Brüderpaar entgegenbrachten. Immer war Wilhelm es, der Kontakte aufnahm oder pflegte, die zunächst beiden Brüdern zugedacht waren, wie etwa mit den Märchendichtern Hauff oder Andersen.

1828 erhielt Jakob das Ehrendoktorat (iur.) der Universität Berlin, 1829 das der Universität Breslau.

Erst als die Brüder Grimm in einer Beförderungsangelegenheit 1829 fast ehrenrührig übergangen wurden, verließen sie ihre hessische Heimat, um Bibliothekarsstellen und Professuren in Göttingen anzunehmen.

Am 18. November 1837 unterzeichneten Jakob und Wilhelm Grimm zusammen mit fünf weiteren von 52 Göttinger Professoren eine Protestschrift gegen die Aufhebung des hannoverschen Staatsgrundgesetzes von 1833 durch den hannoverschen König Ernst August II. Die sieben Professoren wurden des Amtes enthoben, Jakob Grimm, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus und der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann zudem des Landes verwiesen, da sie zur Verbreitung der Protestschrift beigetragen haben sollen.

Drei Jahre lang lebten die beiden daraufhin im Haus des jüngsten Bruders in Kassel von den Erträgen ihrer wissenschaftlichen Publikationen, ehe Friedrich Wilhelm IV. sie 1841 gegen Widerstände - auch aus wissenschaftlichen Kreisen - nach Berlin berief. Sie wurden dort allerdings nicht beamtete Professoren, wie dies die Brüder Grimm öffentlich zur Wiederherstellung ihrer Ehre gefordert hatten, sondern nur gut bezahlte Mitglieder der Akademie der Wissenschaften mit dem Recht, an der Universität Vorlesungen zu halten.

Ungeachtet aller Widerstände hat sich vor allem Jakob Grimm stets politisch engagiert. Er leitete die erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846) und wurde am 19. Mai 1848 von den Wahlmännern des Wahlbezirks Essen-Mühlheim als 63jähriger zum Nachfolger von Ernst Moritz Arndt als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt.

Wilhelm Grimm starb am 16. Dezember 1859, Jakob Grimm am 20. September 1863, beide in Berlin.

In seiner "Rede auf Wilhelm Grimm" erinnert sich Jakob als 74jähriger an ihre Unzertrennlichkeit:

So nahm uns denn in den langsam schleichenden schuljahren ein bett auf und ein stübchen, da saßen wir an einem und demselben tisch arbeitend, hernach in der studentenzeit standen zwei bette und zwei tische in derselben stube, im späteren leben noch immer zwei arbeitstische in dem nemlichen zimmer, endlich bis zuletzt in zwei zimmern nebeneinander, immer unter einem dach in gänzlicher unangefochten und ungestört beibehaltener gemeinschaft unsrer habe und bücher [...] auch unsrer letzten bette, hat es allen anschein, werden wieder dicht nebeneinander gemacht sein.

Rede auf Wilhelm Grimm, 5. Juli 1860 [6]


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Werke

Da ihr Lebenswerk unglaublich umfangreich und die Bereiche vielfältig sind, wird im folgenden nur auf die allerbekanntesten Werke der Brüder Grimm eingegangen - sie allein reichen aus, um mit dem Irrtum aufzuräumen, Jakob und Wilhelm Grimm hätten hauptsächlich Märchen gesammelt.

Jakob selbst konnte sich wohl nicht entscheiden, "ob er als Mythologe, Romantiker, Prähistoriker, Sammler, Philologe, Grammatiker oder Lexikograph gelten wollte" (Ulrich Hunger, in: "Einblicke", a.a.O.). Die Brüder arbeiteten thematisch zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Volkskunde, Rechtsgeschichte, Mittelalterlichen Geschichte und Religionswissenschaft. Sie legten ihr Augenmerk nicht nur auf die deutsche, englische und nordische Philologie, sondern auch auf die romanische und mittellateinische, die keltische, slavische, baltische und finno- ugrische.

Ihre Herangehensweisen ergänzten sich. Wilhelm arbeitete vorsichtig, langsamer, geduldiger; er verbesserte und ergänzte zum Beispiel die Märchensammlung über 50 Jahre lang. Jakob formulierte sofort druckreif, seine Werke sind sprunghafter, lebendiger. Sein ungeheures Sachgedächtnis, seine Kombinationsfähigkeit, gepaart mit Fleiß, waren geeignet für das Erstellen der Grammatik und der Wörterbücher.

[...] in jedem seiner großen Projekte [hat er, Anm. d. Red.] ganz neue Wissenschaftsdisziplinen oder -zweige begründet - oft in kühnem Vorgriff und durchaus mit dem Mut zu vorläufigen Fehlern: Die Sammlungen und Ausdeutungen mündlich tradierter Literatur legten die Fundamente zur Volkskunde, seine grammatikalischen Entdeckungen zur Germanistik als Sprachwissenschaft; Rechts- und Religionswissenschaft wurden entscheidend durch ihn geprägt (Weisthümer, 4 Bände., 1840-63; Deutsche Mythologie, 1835), die Mediävistik durch seine Studien zum Reinhart Fuchs sowie zur althochdeutschen Dichtung. [7]

Angeregt wurden die Brüder Grimm durch ihr Methodik-Studium beim Rechtshistoriker Friedrich Carl von Savigny und durch dessen Schwager Clemens Brentano und seine Begeisterung für ältere Literatur, die schließlich zum Sammeln von Volksliedern, -märchen und -sagen führte. 1812 erschien der erste Band der "Kinder- und Hausmärchen" (KHM), die später ihre weltweite Berühmtheit ausmachten. Sie sind das meistübersetzte und meistverbreitete deutsche Buch (es liegt in über 160 Sprachen und Dialekten aller Erdteile vor).

Von 1819, dem Erscheinen des ersten Bandes der "Deutschen Grammatik" (Formenlehre), bis 1831 (3. Band der "Deutschen Grammatik", Wortbildung) arbeitete Jakob an dem Erstellen einer Grammatik aller germanischen Sprachen, die schließlich einen Meilenstein für die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft bildete. Die zweite Auflage der "Deutschen Grammatik" ist in Kleinschreibung verfaßt (mit Ausnahme von Satzanfang und Eigennamen); Jakob lehnte die "höchst philisterhafte erfindung der großen buchstaben" als Relikt der absolutistischen Feudalzeit kategorisch ab. In dieser Grammatik wurde zudem erstmals das Gesetz der Lautverschiebung formuliert.

Die letzten Jahre ihres Lebens widmeten die Brüder der Arbeit am "Deutschen Wörterbuch" (1854, Band 1), dessen zweiter und dritter Band von Jakob noch nach Wilhelms Tod fertiggestellt wurde. (1860 Bd. 2, 1862 Bd. 3). Ihm lag ein neues Konzept zugrunde, die historische Lexikographie, die auch Vorbild für andere europäische Sprachen wurde. An der Arbeit am Deutschen Wörterbuch beteiligte Jakob über 80 Mitarbeiter. Die Grimms fügten selbst rund 600.000 Wortbelege ein. Nach ihrem Tod vergingen fast 100 Jahre, bis das nun 33 Bände zählende Werk 1961 fertiggestellt werden konnte.


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Leben und Werk der Brüder Grimm sind schon allein durch die Fortsetzbarkeit nach ihrem Tod ein überzeugender Beweis dafür, daß Denken und Handeln nicht von den "Geistesströmungen" einer literarischen Epoche bestimmt sind, wie einige Interpretationsrichtungen versichern. Dem Klischee nach wären ihre Arbeiten dann romantisch gefühlsbetont, weltfremd, vergeistigt. Alle ihre Entscheidungen und Ideen sprechen jedoch eine andere Sprache. Sie standen mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit, stellten sich den politischen und ökonomischen Widersprüchen ihrer Zeit und waren nicht gewillt, auf welche Art auch immer die Flucht zu ergreifen.


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Anmerkungen:

[1] W. Beutin (Hrsg): Deutsche Literaturgeschichte, von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. überarb. Aufl., Stuttgart: Metzler 1989, S. 208

[2] Beutin, a.a.O., S. 209

[3] Beutin, a.a.O., S. 235

[4] Einblicke, Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg, Nr. 29, April 1999, S. 7

[5] Heinz Rölleke: Jacob und Wilhelm Grimm, in: Deutsche Dichter, Leben und Werk, Stuttgart: Metzler 1989

[6] H. Rölleke, a.a.O.

[7] H. Rölleke, a.a.O.

Erstveröffentlichung im Sommer 1999

5. Januar 2007