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SPRÜNGE/005: Der neue Trend - Spaß am Reimen ... (SB)


Der neue Trend: Spaß am Reimen ...

Hohe Kunst oder sinnloses Gestammel?


Es ist unübersehbar: Das Verseschmieden kommt wieder in Mode. Ob in Spiegelschrift in Spiralform unter Schuhsohlen, als Happening und "Spoken Word Performance" in nicht nur deutschen Kneipen (den sogenannten "Poetry Slams", ein Trend aus New York), als gedichtete Wetteransage in der "FAZ", ob als politisches Pamphlet eines Liedermachers, als Volkshochschulkurs, Familienfeierbeigabe oder Schreibseminar am Germanistischen Institut der Universität - es wird gedichtet, was das Zeug hält, die Poesie liegt sozusagen als Schuhabdruck auf der Straße.

Und wer glaubt, daß ihm der Eigenanteil am Dichten auch noch abgenommen werden kann, weil Sprache doch wohl ein starres System und damit auch berechenbar ist, der kann jetzt per Mausklick (ein Surftip für das Internet) Gedichte "generieren". Das liest sich wie folgt:

Schwestern koennen fuehlen.
Sie fuehlen geheuert und weich.
Sie laecheln daemlich und
avantgardistisch.
Ach was ferkeln, was roecheln?

Die Erläuterung für das "geniale" Programm ist kurz gehalten:

Keine Diplomarbeit eines Germanistikstudenten, sondern das 372595te Werk des "genialen Gedichtgenerators Poetron". Der virtuelle Internet-Poet kann sogar Eingaben des Benutzers zu einem Kunstwerk verdichten.
(aus dem Videotext von PRO7 vom 12.05.99, Tafel 564)

Ohne Zweifel halten jedoch echte Slammer, d.h. Mitstreiter im nicht immer höfisch-höflichen Vergleich der Verse - nennen sie sich nun Schriftsteller, Laiendichter oder Studenten - in ihrem Bemühen, der Sprache Lebendigkeit zu verleihen und gehört zu werden, nicht viel von solchen Computerinputs. Auch wenn der eigene Output sich manchmal nicht so deutlich davon unterscheidet:

ich// sagt diese stimme/ mein erbstück/ mein wortführer/ mein lispelnder versucher/ mein mönchischer bruder/ ich teile deine zelle/ die verrückten früchte/ deiner hirnschale ..."
(Doris Runge, aus dem Programmheft "Notizen" des Literaturhauses Schleswig-Holstein, "Vorgestellt - Doris Runge", S. 2)

Sucht der Leser bei der Lektüre eines Gedichtes nach einer inhaltlichen Erklärung bzw. muß er sich mühsam und besten Willens vorstellen, was der Autor wohl gemeint haben könnte und welche Bilder er vor Augen gehabt hat, dann ist die Aussage des Gedichtes verwaschen, richtungs- und standpunktlos - und nicht tiefsinnig oder bedeutungsvoll oder gar aussagekräftig. Man muß also nicht ehrfurchtsvoll erschauern vor Fragmenten, die lediglich ein Konsument protestlos über sich ergehen lassen würde.

Wie schwierig es ist, allein das Handwerk der Dichtkunst zu lernen, bevor der Verfasser innerhalb einer so streng vorgegebenen Form wie der eines Gedichts (eigentlich mit Reim und Versmaß) eine Aussage zustande bringt, die jeder Hörer oder Leser unmittelbar versteht und die sich auch noch mit dem beabsichtigten Inhalt deckt, davon wissen alle ein Lied zu singen, die "Schreiben" unterrichten oder die sich den Buh-Rufen des Publikums oder Literaturkritikers ausgesetzt sehen. Auch Goethe würde bei einem Vergleich, der seinen über alle Kritik erhabenen Namen verschweigt, nicht immer gut abschneiden.

So stellt sich bei dem folgenden Werk selbst der zugewandteste Leser die Frage, wovon denn hier die Rede sein kann:

Aurorens Liebe leichten Schwungs bezeichnet's mir, den schnellempfundnen, ersten, kaum verstandnen Blick, der, festgehalten, überglänzte jeden Schatz. Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form, löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin und zieht das Beste meines Innern mit sich fort."
("Hochgebirg", J.W. Goethe, aus: Wissenschaftsmagazin der Universität Frankfurt "Forschung Frankfurt", S. 15, "Ein Angehäuftes, flockig löst sichs auf - Goethe und die Beobachtung der Wolken")

Im "1. Heidelberger Gespräch zur Literatur" im Dezember 1998 mit dem Arbeitstitel "Poetik-Dozentur: Läßt sich Dichten unterrichten?" entzündete sich eine Debatte unter Fachleuten über Sinn und Anwendbarkeit des Schreibens. Herauszulesen ist der allgemeine Wunsch, die als Vereinsamung empfundene Kontaktlosigkeit unter Menschen in den Griff zu bekommen und miteinander sprechen zu können, das heißt "Orte für Worte" zu schaffen, wie Ralf Jandl vom Wissenschaftsministerium anregt. Es gehe darum, "sich mit sich selbst und der Welt in artikulierter Form auseinanderzusetzen", was ein Wert an sich sei, vertritt Peter Bieri, Lehrstuhl für Sprachphilosophie an der Universität Berlin. Ob die geforderten Schreibkurse allerdings hinreichen, um die Grenzen der Individualität und Vereinsamung zu überwinden, möchte ich bezweifeln. Mancher schriftstellerische Höhenflug und Tiefempfundenes entpuppen sich als introvertiert assoziativ und damit wirres Zeug. Der Wunsch, mittels Sprache Kontakt mit anderen Menschen und eigentlich mit allem uns Umgebenden aufzunehmen, könnte eine intensivere Auseinandersetzung mit den Grenzen von Sprache und mit eigenen Unzulänglichkeiten nach sich ziehen als ein kurzfristiger Überraschungserfolg per Todschlageffekt wie es ein Gedicht obiger Güte ersatzweise zu erreichen vermag.


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Literatur:

1. Videotext von PRO7 vom 12.05.99, Tafel 564

2. Programmheft "Notizen" des Literaturhauses Schleswig-Holstein, S. 2, "Vorgestellt - Doris Runge"

3. Wissenschaftsmagazin der Universität Frankfurt "Forschung Frankfurt", S. 15 "Ein Angehäuftes, flockig löst sichs auf - Goethe und die Beobachtung der Wolken"

4. "Unispiegel" der Universität Heidelberg, Januar-März 1/99, S. 5, "Poetik-Dozentur: Läßt sich Dichten unterrichten?"

Erstveröffentlichung im Frühjahr 1999

5. Januar 2007