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STICH-WORT/007: Sprachgeschichtliche Betrachtungen, "Märchen" (SB)


Märchen


Nein, in diesem Stich-Wort soll kein Märchen erzählt werden, weder eine kleine, erfundene Geschichte, noch eine wundersame Flunkerei zur Bedeutungsentwicklung des Wortes. Vielmehr wird hier einmal das Augenmerk auf jene wortgeschichtlichen Bestandteile gelegt, die zugunsten der im ersten Satz abzulesenden, allzu festgelegten Bestandteile des Wortes (eine erfundene Geschichte oder Botschaft mit Wundern oder Zauberei) bedauerlicherweise untergegangen sind. Mit anderen Worten, heute weiß kaum noch einer, was sonst noch im so beliebten Märchen stecken könnte.

Um diese Spur zu verfolgen, ist ein kleiner Ausflug in die Wortgeschichte erhellend. "Mär - chen" ist eine Verkleinerungsform des mittelhochdeutschen Wortes "mære, f.", was "Berühmtheit, Rede, Kunde, Erzählung" bedeutete und sich bis zur neuhochdeutschen "Mär, seltener Märe, f." entwickelte, der "Kunde, Erzählung", die bis ins 19. Jahrhundert geläufig war. Die verschiedenen etymologischen Untersuchungen sind sich in der Antwort auf die Frage nach der Herkunft einig. Hier zwei Beispiele:

Das den beiden Deminutivbildungen [Verkleinerungen, Anm. d. Red.] zugrundeliegende Substantiv ist ahd. mari n. 'Nachricht, Kunde, Erzählung' (9. Jh.), mhd. mære n. 'Kunde, Nachricht, Bericht, dichterische Erzählung, Gerücht' bzw. (bis ins Nhd. fortlebendes) ahd. mari f. 'Ruhm, Berühmtheit, Gerücht' (um 1000), mhd. mære f. 'Berühmtheit, Rede, Kunde, Erzählung', nhd. Mär, seltener Märe f. 'Kunde, Erzählung' (bis ins 19. Jh. geläufig). Dies sind Abstrakta zum Verb ahd. maren 'verkünden, sagen' (8. Jh.), mhd. mæren 'verkünden, bekannt-, berühmt machen' [...] [1]

Im etymologischen Wörterbuch des Dudens wird noch eine Zwischenform genannt, das "Märlein":

Märchen: Das seit dem 15. Jh. bezeugte Wort ist eine Verkleinerungsbildung zu dem heute veralteten Substantiv Mär[e] w "Nachricht, Kunde, Erzählung". Bis ins 19. Jh. war die aus dem Mitteld. stammende Verkleinerungsbildung, die das oberd. Märlein verdrängt hat, im Sinne von "Nachricht, Gerücht, kleine [unglaubhafte] Erzählung" gebräuchlich. Das Grundwort Mär[e] (mhd. maere, ahd. mari) ist eine Bildung zu dem im Nhd. untergegangenen gemeingerman. Verb mhd. 'maeren', ahd. 'maren' "verkünden, rühmen usw.", das von einem alten Adjektiv für "groß, bedeutend, berühmt" abgeleitet ist. [2]

Der Wortsinn von "Mär" als große, bedeutende Kunde sowie als eine Form von Bericht spiegelt sich zum Beispiel noch in der ersten Strophe von Martin Luthers Weihnachtslied wider mit der Nachricht, daß Jesus Christus geboren wird: "Vom Himmel hoch, da komm' ich her. Ich bring' euch gute neue Mär, der guten Mär bring' ich so viel, davon ich sing'n und sagen will."

Auch schon im viel älteren Nibelungenlied (es entstand um 1200 in schriftlicher Form und nimmt mündlich überlieferte, historische Ereignisse aus dem 5. und 6. Jahrhundert auf) ist die "maer" bekannt. Hier besteht sie aus der spannenden Geschichte zwischen Burgund, den Niederlanden, Island und dem Reich der Hunnen, die von Liebe, Betrug und Intrigen erzählt, von Mord, Rache und Massensterben, von einem Recken, der mit Drachen kämpft, Zwerge kennt, unverwundbar ist und eine Tarnkappe, ein Zauberschwert und den Schatz der Nibelungen besitzt. Gleich in der ersten Strophe heißt es:

"Uns ist in alten maeren   wunders vil geseit:
von heleden lobebaeren,   von grozer arebeit,
von freude und hochgeciten,   von weinen unde klagen,
von küener recken striten   muget ir nu wunder hoeren sagen."
[In alten Sagen (im Sinne von "Erzählungen", Anm. d. Red.) wird uns viel Wunderbares erzählt: von berühmten Helden, von großer Mühsal, von Freude und Festen, von Weinen und Klagen, vom Kampf tapferer Recken - von all dem könnt ihr jetzt Erstaunliches hören.] [3]

Ab dem 15. Jahrhundert macht das Wort "maer" eine Bedeutungswandlung durch, die die Brüder Grimm in ihrem Wörterbuch genau aufzeigen: die "üble bedeutung von mähr als unwahre erzählung tritt im 15. bis 17. jahrh. auf". [4] Ab jetzt wird eine "maer" unglaubhaft, was sich sprachlich in der Verkleinerungsform ausdrückt, in "Märlein" und etwas später in "Märchen":

In Leipzig erscheint kurz vor 1450 merechyn für kleine Erzählungen in Versform, die wesentlich erfundene Stoffe behandeln: [...] Die oberdeutsche Verkl.-Form "Märlein" wird mit dem Überwiegen mitteldeutscher Stoffe im 18. Jh. durch "Märchen" ersetzt [...] [5]

Da die Mär ursprünglich mündlich weitergegeben wurde, galt sie als unzuverlässig oder auch unglaubwürdig. Das "Mär - chen" wurde, durch die Verkleinerung vielleicht auch liebevoll betrachtet, als eine Erzählung angesehen, die nicht mehr unbedingt wahr sein mußte. Die Brüder Grimm grenzen schließlich den Begriff genau ein:

2) mährchen, in allgemeinster bedeutung, eine kunde, nachricht, die der genauen beglaubigung entbehrt, ein bloszes weiter getragenes gerücht [...] [6]

Man konnte sich einfach nicht sicher sein, ob nicht eventuell doch auch noch Teile einer wahren Begebenheit in dieser "kleinen Maer" enthalten waren. Heute tritt diese Überlegung in der Definition gar nicht mehr auf. Im Rechtschreib-Duden heißt es kurz: "Märchen - unglaubwürdige, [als Ausrede] erfundene Geschichte. Verkleinerungsform von mittelhochdeutsch mære, Mär." [7] Und auch im DWDS, dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, ist das "Märchen, neutr., - s,":

1. auf Volksüberlieferungen beruhende, oft auch als literarisches Kunstwerk gestaltete, kurze Erzählung, in der von wunderbaren und phantastischen Begebenheiten berichtet wird - ein altes, bekanntes, verbreitetes Märchen
2. salopp unwahre, erfundene Geschichte, Lüge - jmdm. ein Märchen aufbinden
Dazu: Altweibermärchen, Ammenmärchen, Feenmärchen, Filmmärchen, Greuelmärchen, Gruselmärchen, Kindermärchen, Kunstmärchen, Lügenmärchen, Schauermärchen, Volksmärchen, Weihnachtsmärchen, Wintermärchen, Wundermärchen, Zaubermärchen [8]

So existiert durch den einen verlorengegangenen Aspekt des Wortes auch kaum noch die Möglichkeit, die in den Märchen vielleicht noch verborgenen Wahrheiten zu erforschen oder zu entdecken. Das würde zudem bedeuten, daß man weit in die Vergangenheit gelangt oder in die Mythenforschung wechseln muß. Zu den ältesten deutschen Märchen gehören die Zaubermärchen. Sie weisen Erzählstrukturen aus noch viel älteren Mythenerzählungen auf und werden auch als die "eigentlichen Märchen" bezeichnet. Erst seit dem 18. Jahrhundert legte man den Begriff "Märchen" auf die Sammlung der Brüder Grimm fest, die als Kinder- und Hausmärchen (kurz KHM) durch Jakob und Wilhelm Grimm 1812 bis 1815 veröffentlicht wurde. Die Brüder nahmen, angeregt durch Herder und Brentano, in ihre Sammlung auf, "was das Volk erzählt". Von den insgesamt 211 Texten der Sammlung sind nur 32 echte "Volksmärchen".

Die Bedeutungseinschränkung, die die Wortgeschichte von der "Mär" zum "Märchen" in mehrfacher Hinsicht erfahren hat - von der "Kunde", dem "Bericht" zur unwahren Geschichte, von der mündlichen Überlieferungstradition eines Volkes bis zur aufgeschriebenen (Kunst-)Märchensammlung - schränkte bisher auch den Umgang mit Märchen ein und ließ ihren Gebrauch und ihre Wirkung erstarren. Dabei steckt doch der Teufel des Unverständnisses in diesen Zuordnungen, wenn Märchen erst einmal einen Gattungsnamen und eine Funktion haben und damit festgenagelt sind. Es bleibt für den Märchenfreund nur noch die unbestimmte Ahnung oder Sehnsucht nach "mehr" als Altweibermärchen, Ammenmärchen, Feenmärchen, nach den heute nur noch unbekannten Fähigkeiten und Fertigkeiten der Protagonisten, die gemeinhin der Zauberei vorbehalten zu sein scheinen und ins Märchen verbannt werden, weil sie sich mit unseren alltäglichen Projektionen und Erwartungen nicht decken lassen. Aufgeklärt und als moderner Mensch kennt kaum einer mehr die "Anderen", die Zwerge und Feen, Waldgeister und Gnome, die mit ihm sprechen würden und von denen er lernen könnte. Sie befreien die Gedanken, wenn man sich mit ihnen befaßt, sind aber heute bestenfalls noch in die Träume verbannt - oder, gut geschützt, im Märchen vorhanden. Als hätte die Vernunft den Geist gereinigt von Zauberei und Dingen, die vor langen Zeiten die Herzen bewegten. Sie sind aus dem alltäglichen Leben und der Wahrnehmung der Menschen verschwunden, denn sie sind "unwahr", weil mit keiner Analyse und keinem Argument erklärbar oder herzuleiten. Aber sie sind da, das heißt in unserer kulturellen Tradition vorhanden, und unbedingt schützenswert, denn sie beleben die Phantasie, machen Mut und öffnen die Sinne zur Erforschung der Welt. Zudem blenden sie auch die elementarsten Probleme nicht aus wie Armut, Hunger, Tod, Schwäche, Gewalt, Gut und Böse, Trauer und Glück.


Anmerkungen:

[1] DWDS online (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache):
http://www.dwds.de/?qu=Märchen, © Dr. Wolfgang Pfeifer, Version: 1.0.127
herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, ein Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart

[2] Der große Duden, Etymologie, Mannheim 1963, S. 422

[3] Das Nibelungenlied, Vollständige Ausgabe, Mittelhochdeutsch - Neuhochdeutsch. Nach der Handschrft C neu übersetzt und herausgegeben von Ursula Schulze, Artemis & Winkler im Patmos Verlagshaus, Düsseldorf und Zürich, August 2005, S. 8/9

[4] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Band 12, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1984, Spalte 1617, Stichwort: "Mär"
Das "Deutsche Wörterbuch" der Brüder Grimm (erster Band 1854) ist in Kleinschreibung verfaßt (mit Ausnahme von Satzanfang und Eigennamen); Jakob lehnte die "höchst philisterhafte erfindung der großen buchstaben" als Relikt der absolutistischen Feudalzeit kategorisch ab.

[5] Friedrich Kluge, Etymolgisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 18. Auflage, Walter de Gruyter & Co., Berlin 1960, S. 460

[6] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, s.o., Stichwort: "Märchen", Sp. 1618

[7] http://www.duden.de/rechtschreibung/Maerchen

[8] DWDS online, http://www.dwds.de/?qu=Märchen

11. Juni 2015


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