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REZENSION/052: Ingo Schulze - Tasso im Irrenhaus. Drei Erzählungen (SB)


Ingo Schulze

Tasso im Irrenhaus. Drei Erzählungen

von Christiane Baumann


Die Welt im Spiegel. Zu Ingo Schulzes unterhaltsamem wie anspruchsvollem Erzählband Tasso im Irrenhaus

Mit seinem 2020 erschienenen Roman Die rechtschaffenen Mörder [1] hielt sich Ingo Schulze monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Der Roman, raffiniert in seiner Anlage und Ambivalenz, zerstörte systematisch vermeintliche Gewissheiten wie eindimensionale Sichtweisen und zwang zum vertieften Nachdenken über den Rechtsradikalismus in unserer Gesellschaft. Wenn Ingo Schulze 2007 in seiner Leipziger Poetikvorlesung formulierte, Literatur sei nicht dafür gemacht, "etwas zu erklären", aber sie dürfe und sollte "für eine gesellschaftliche Selbstverständigung genutzt werden", so leistete dieser Roman dazu einen wichtigen Beitrag, was sich auch in der Resonanz widerspiegelte. Dieser Anspruch ist in besonderer Weise Schulzes neuem Erzählband Tasso im Irrenhaus eingewoben, der in drei Erzählungen die Künstlerexistenz in unserer Zeit, die Frage nach der sozialen Verantwortung des Dichters in der (spät-)bürgerlichen Gesellschaft in den Fokus rückt. Doch keine Sorge: Die Texte, die der Band vereint, kommen mit einer Leichtigkeit daher, die fasziniert und pures Lese-Vergnügen bedeutet. Sie speist sich aus feinsinniger Hintergründigkeit, aus der Unmittelbarkeit des Erzählens und aus dem Alltäglichen des Erzählten, in dem sich schlagartig Welthaltigkeit und Zeitgeist offenbaren.

Ingo Schulze bedient sich herkömmlicher Erzählformate wie der Briefform im ersten Text Das Deutschlandgerät, der auch als mdr-Hörspielfassung zugänglich ist. Der "an eine Museumsdirektorin" gerichtete Brief eines Schriftstellers, der biografische Elemente des Autors aufweist, ist Rechtfertigung und Einlösung eines Versprechens zugleich. Der Briefschreiber sollte über das "Deutschlandgerät" des Konzeptkünstlers Reinhard Mucha schreiben. Dabei handelt es sich um eine Installation, die 1990 für den Deutschen Pavillon in Venedig entstand und später dann im Düsseldorfer Museum K 21 wiedererrichtet wurde. Die Installation bezog sich auf das "Deutschlandgerät", ein von der Deutschland AG produziertes hydraulisches Werkzeug, um Schienenfahrzeuge wieder auf die Gleise zu stellen. Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung sorgte diese politisch provokante Installation in Venedig für Aufsehen. Sich Muchas "Deutschlandgerät" zu nähern, eröffnet eine historische Dimension. Sie führt den Briefschreiber zum Schriftsteller-Dissidenten B. C., der einst die DDR verließ, ohne im Westen je heimisch zu werden und der schließlich im Deutschlandgerät Muchas ein Modell fand, um seine Haltung und seine Kunstauffassung zu erklären. Hatte der Briefschreiber zunächst versucht, sich des Versprechens, über Muchas Kunstinstallation einen Beitrag zu liefern, durch Weitergabe dieses Auftrages an B. C. zu entledigen, so zwingt ihn nun dessen Tod sich dieser Aufgabe zu stellen. Kunstvoll verschränken sich in Schulzes Erzählung das historisch doppeldeutige Deutschlandgerät mit der Biografie des Dissidenten B. C., für den die deutsche Wiedervereinigung eine Zäsur markierte. Das Sperrige und Unangepasste von B. C. nach der "Wende", das zunächst dem "Bedeutungsverlust als Dissident" (19) zugeschrieben wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als widerständiges Insistieren eines Schriftstellers, für den "Anbiederung", wie Jurek Becker formulierte, das Herabsinken der Literatur zu einem "würdelosen Ding" und zur "Belanglosigkeit" bedeutete. Empörung und Auflehnung gegen soziale Ungerechtigkeit in der freiheitlich-demokratischen Industriegesellschaft, gegen Kriege im Kosovo, Irak und in Afghanistan, die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität als Paradigma, dem B. C. in der DDR ebenso folgte wie später in der BRD, führten ihn letztlich in soziale Isolation und schließlich in Selbstisolation. Die Annäherung an B. C. liefert dem Briefschreiber den Maßstab für sein eigenes Schreiben. Sie wird im Erzählen zum Spiegel seiner Künstlerexistenz, über die er sich Rechenschaft ablegt und gerät zugleich zur Auseinandersetzung mit dem Deutschlandgerät, das schlussendlich "nicht in Betrieb war" (70). Schulze arbeitet in der Erzählung mit Zitaten aus Jurek Beckers Vorlesungen Warnung vor dem Schriftsteller, die den Text historisch "beglaubigen". Doch der Schriftsteller-Dissident B. C. ist eine fiktive, eine exemplarische Figur, die aus unterschiedlichen Schriftstellerbiografien schöpft. Neben Jurek Becker wäre an Uwe Johnson oder Wolfgang Hilbig zu denken, vielleicht auch an B. K. Tragelehn, der der Sächsischen Dichterschule zuzurechnen ist, wie B. C. nur einen Gedichtband in der DDR veröffentlichte und seit 1979 in Westdeutschland, unter anderem in Düsseldorf, lebte.

Die zweite, titelgebende Erzählung des Bandes Tasso im Irrenhaus treibt mit dem Leser ein gewitztes Spiel. Wieder gibt sich der Autor im Erzähler zu erkennen. Dieser muss in Winterthur einen Vortrag über das 1839 entstandene Gemälde Tasso im Irrenhaus von Eugène Delacroix halten. "Ein Tag in der Schweiz", so der Untertitel der Erzählung, und die Bildbesichtigung im Museum in Winterthur sollen das Projekt voranbringen. Der Erzähler ist erfreut über die Auszeit von der Familie und erwartet einen Tag, an dem "Traum und Wirklichkeit einander" (80) berühren. Doch ein "Herr im Anzug" mit "Schiebermütze" (87), die an den erwähnten Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel erinnert, stört als geschwätziger Beobachter die Bildbetrachtung des Erzählers, der sich unvermittelt in eine Diskussion über Delacroix' Gemälde verwickelt sieht. Der namenlose "Herr im Anzug" tritt als Spiegelfigur und als "Doktor Allwissend" (107) dem Autor gegenüber und entfaltet an Delacroix' Bild in atemberaubender Weise Welt-, Literatur- und Kunstgeschichte von Homer und Vergil über Torquato Tasso, Goethe, Baudelaire und Leopardi bis zur Gegenwart. Der Leser, der dieses Gespräch aus der Perspektive des "unwissenden" Erzählers erlebt, ist Teil dieser Dialogizität, in der Tasso "nicht nur zum Sinnbild der Künstlerexistenz, sondern der Gesellschaft überhaupt" (95), avanciert. Dabei wird der Renaissance-Dichter Tasso gleichermaßen zur Spiegelfigur des Autor-Erzählers. Tassos Konflikt zwischen katholischem Dogma, höfischer Abhängigkeit einerseits und künstlerischer Freiheit andererseits führte ihn in eine ideologische Krise, zu Wahnvorstellungen und mündete schließlich in eine jahrelange Internierung im Irrenhaus. In der Erzählung erfährt Tassos Verzweiflung über den Zustand der Gesellschaft, darüber, dass "die Menschen nur leben, um zu träumen" (98), mit dem Blick auf die heutige Welt eine Aktualisierung. Sind wir, fragt der Mann im Anzug zugespitzt, angesichts von Millionen Menschen, die an Unterernährung sterben, nicht ein "Haufen von Irren, ein Irrenplanet" (101)? Parallel erlebt der Erzähler die systematische Demontage seines Schweiz-Bildes als Inkarnation des reichen Westens, bei der Friedrich Dürrenmatt Pate steht. Wer dessen späten Text Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen (1984-1986) kennt, dem erschließen sich vielfältige Bezüge und Spiegelungen in Schulzes Erzählung. Dürrenmatts Novelle, die die Gefährdungen einer hochtechnisierten, digitalisierten Welt thematisiert und die Gesellschaft unter das Paradigma der "Beobachtung" stellt, wird zum hochaktuellen Subtext. Auch in Schulzes Novelle nehmen der Erzähler, der Mann im Anzug und der Leser abwechselnd die Position des Beobachters und des Beobachteten ein, was zu einer permanenten Verunsicherung, zum Infragestellen vermeintlich gesicherter Haltungen führt. Am Ende steht eine wichtige Erkenntnis: "Es ist nichts, Beobachter zu sein. Sie müssten schon was miteinander anfangen, der Tasso und seine Beobachter, odder?" (116) Hinter der "Aufgabe" (107) des Erzählers, einen Vortrag zu halten, tritt der eigentliche Konflikt des Schriftstellers hervor: seine Zerrissenheit zwischen Gelderwerb und künstlerischem Anspruch, der sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist.

Die den Band beschließende Erzählung Die Vorlesung beschreibt einen "Besuch beim Maler", womit der Untertitel die Szene ins Exemplarische hebt. Der Besucher ist diesmal der (fiktionalisierte) Autor Ingo Schulze, der den Maler nicht ganz freiwillig im Hospiz auf dem Sterbebett aufsucht. Im Mittelpunkt steht wieder ein Kunstwerk. Es handelt sich um das Gemälde Der Tod des Sokrates (1975) des Malers, Zeichners und Bühnenbildners Johannes Grützke, einem Kokoschka-Schüler, der mit Peter Zadek zusammenarbeitete und der von sich sagte, er sei mehr als Realist, Surrealist, Naturalist oder Expressionist - er sei Maler. In der Szene entwirft Grützke eine mit seinem berühmten Gemälde korrespondierende Skizze betitelt Die Vorlesung. Der Vorleser in Grützkes Skizze und der sein Geld als "herumreisender Vorleser" (141) verdienende Autor-Erzähler begegnen sich nun in einer "Vorlesung" des Malers, in der nichts Geringeres als dessen künstlerisches Credo verhandelt wird, in dem sich wiederum künstlerische Maximen des Autors spiegeln. "Kunst ist nicht modern, sondern immer", heißt es da. "Malen ist Denken", eine Aussage Grützkes, die das Bild bzw. die Kunst als "Abfall vom Forschungsweg" deklariert, denn "die Erkenntnis der Welt ist das Ziel" (147). Grützkes Bekenntnis, die Malerei stelle dar, "woraus politisches Geschehen besteht, und zwar in mehr oder weniger starken Symbolen", die dann "Wahrheit" hätten, "wenn sie interessieren" (152), lässt sich auf Schulzes Schreiben ebenso beziehen wie dessen Maxime, Personen nach seinem "Spiegelbild" zu malen, weil die ihn umgebende Realität stellvertretend für die gesamte Realität stehe. Diese Erzählung liest sich auch als Statement des Autors zu Kritiken, die in Schulzes Aktualisierung klassischer Erzählformen, wie dem Briefroman, die Modernität im Erzählen vermissten.

Die Künstler-Erzählungen Das Deutschlandgerät, Tasso im Irrenhaus und Die Vorlesung, die bereits in veränderter Form zwischen 2010 und 2016 in Zeitschriften erschienen, als Hörspiel, Schauspiel oder Dramolett aufgeführt wurden, treffen sich in grundsätzlichen Fragestellungen: Haben wir den Menschheitstraum von einer sozial gerechten Gesellschaft verabschiedet? Was ist das für eine politische Freiheit, die ohne soziale Gerechtigkeit auskommt? Warum finden wir uns mit einer desaströsen Welt ab, die uns einen Krieg nach dem anderen "verkauft", und wo steht in diesem Gesellschaftsdiskurs der Künstler, dessen Bücher als Ware gnadenlos dem Profitstreben unterworfen sind? Die ostdeutschen Schriftsteller-Erzähler der drei Texte, die sich in unterschiedlicher Form vermittelt über Kunstwerke mit diesen Fragen konfrontiert sehen, sich selbst ironisch in Frage stellen und sich zugleich ihres Standortes versichern, richten diese Fragen gleichermaßen an den Leser, sind mit ihm dialogisch im Bunde und fordern ihn auf, das Erzählte auszuloten und kritisch zu reflektieren. Dabei gilt die Maxime Grützkes: "Ich dulde alles. Man kann nicht verlangen, verstanden zu werden." (139) Bei Ingo Schulze "bleibt alles ambivalent, odder?" (88)


Beitrag im Schattenblick zu Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder von Christiane Baumann:

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REZENSION/043: Ingo Schulze - Die rechtschaffenen Mörder (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/redakt/dbrr0043.html



Ingo Schulze
Tasso im Irrenhaus. Drei Erzählungen
dtv literatur, München 2021
ISBN: 978-3-423-28239-0
160 Seiten
20 Euro



7. Februar 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 171 vom 12. Februar 2022


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