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REZENSION/051: Lukas Rietzschel - Raumfahrer (SB)


Lukas Rietzschel

Raumfahrer

von Christiane Baumann


"Es war kalt unter diesem Himmel" - Lukas Rietzschels Raumfahrer dokumentiert Totalausfall deutscher Wiedervereinigungspolitik

Mit seinem Roman Mit der Faust in die Welt schlagen[1] landete der in Görlitz lebende Autor Lukas Rietzschel 2018 ein fulminantes Debüt, das für Schlagzeilen sorgte. Rietzschel gelang eine sozialkritische Milieustudie, die am Beispiel einer Familie in der sächsischen Oberlausitz den sozialen Abstieg einer ganzen Region nach der deutschen Wiedervereinigung infolge von Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung und dem Wegbrechen der sozialen Infrastruktur nachzeichnete. Die Wirkungsmacht ungelöster sozialer Probleme, Perspektivlosigkeit und das Gefühl des Abgehängtseins wurden als Nährboden für Rassismus und rechte Gewalt erkennbar. Rietzschel entwickelte aus diesen sozialen Verwerfungen, die er als Folge einer auf Profit ausgelegten Gesellschaft beschrieb, das langsame Abdriften der Brüder Tobias und Philipp ins rechte Milieu. Nach diesem literarischen Einstand durfte man auf seinen zweiten Roman gespannt sein. Dieser nimmt erneut ostdeutsche Lebenswirklichkeit nach dem Ende der DDR in den Blick.

Raumfahrer erzählt die Familiengeschichte von Jan, der 1989 in Kamenz in der sächsischen Oberlausitz geboren wurde, dort aufgewachsen ist und nun, dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, im Krankenhaus der Stadt beim Hol- und Bringedienst arbeitet. Die Lessing-Stadt Kamenz hat bessere Zeiten erlebt. Inzwischen sind die Zeichen des Verfalls unübersehbar. Das Krankenhaus steht vor der Schließung. Die einstigen Fabriken sind museal. Arbeiter gibt es nicht mehr, nur noch "alte Männer" die erzählen, "wie das mal war, da an dieser Werkbank, dort in der Kantine" (84). Die Bevölkerung, sofern sie Arbeit hat, hält sich mit prekären Arbeitsverhältnissen über Wasser. Jans Vater war als "der letzte Fischer der Ostzone" (38), wie ein Boulevard-Journalist titelte, in der nach 1989 überflüssig gewordenen DDR-Karpfenzucht in Deutschbaselitz beschäftigt, ständig bedroht von Entlassung, die seine Kollegen bereits ereilt hatte. Jans Mutter wurde arbeitslos und ging als Alkoholikerin zugrunde. Die Abwanderung der jungen Bevölkerung hat in Kamenz Spuren hinterlassen. Dort, wo früher Kinder spielten und reges Leben war, wirkt alles wie ausgestorben. "Dass es sowas noch gab: ein Kind!" (11), heißt es eingangs. Nicht nur die Klinik, vielmehr das gesamte Leben scheint in "eine Art Sparmodus" (17) versetzt. Die soziale Infrastruktur ist marode. Wo früher Jans Schule stand, befindet sich jetzt ein Möbelhaus. Rufbusse ersetzen den einstigen regulären öffentlichen Nahverkehr. Was entstanden ist, sind Einkaufsmärkte als Zeichen der alles dominierenden Warenwelt. Dieser Stadt, die mit dem großen Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing wirbt, wenngleich dessen Kamenzer Aufenthalt nur eine Kindheitsepisode umfasste, mangelt es an Kultur und Kunst. Man guckt Fernsehen. "Es war kalt unter diesem Himmel" (11) - heißt es in der Erzähleröffnung, was als Metapher für die durchgängig spürbare soziale Kälte und für das soziale Versagen, den Totalausfall deutscher Wiedervereinigungspolitik verstanden werden kann. Rietzschels genaue Milieubeschreibungen machen betroffen. In ihrer sozialen Anklage erinnern sie an naturalistische Vorbilder. Explizit genannt wird als Fixpunkt Charles Dickens. Die Menschen in dieser Region, Jans Eltern und auch er selbst sind Raumfahrer. Sie leben "in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen" (196). Sie wurden sozusagen aus dem Gravitationsfeld geschleudert, schweben frei im Raum, sind allesamt Entwurzelte. Raumfahrer gehen jedoch auch auf Erkundung. Jan tut das nicht freiwillig. Er fällt unwillig in seine Familiengeschichte, die Schlaglichter auf das soziale Gewordensein bundesdeutscher Gegenwart wirft.

Jan wird durch einen Patienten aufgefordert, sich Fotos, Akten und Dokumente anzusehen, die ihn und die Geschichte seiner Familie betreffen. Der Patient ist der im Rollstuhl sitzende Thorsten Kern. Sein Vater Günter war der Bruder des berühmten Malers Georg Kern, der in Anlehnung an seinen Geburtsort Deutschbaselitz den Künstlernamen Baselitz annahm. Rietzschel bedient sich der Baselitz-Geschichte, die er jedoch fiktionalisiert. Verknüpft werden zwei Erzählstränge. Zum einen begibt sich Jan, ausgestattet mit dem ominösen Karton voller Dokumente, auf Spurensuche. Wer war seine Mutter, was wusste er tatsächlich von ihr, was verschweigt ihm sein Vater? Zum anderen wird die Geschichte Günter Kerns erzählt, der seinem Bruder Georg aufgrund des Mauerbaus 1961 nicht mehr in den Westen folgen konnte und dessen Sohn Thorsten 1981 als Jugendlicher durch einen unaufgeklärt gebliebenen Unfall mit Fahrerflucht querschnittsgelähmt wurde und lebenslang an den Rollstuhl gefesselt blieb. Die Figur Günter Kern begeht im Roman 1990 Selbstmord, was der Lebensgeschichte der authentischen Person nicht entspricht. Und hier beginnt das Problem des Romans. Eingangs weist Rietzschel in einer auffallend ausschweifenden Vorbemerkung auf den fiktionalen Charakter seiner Geschichte. Am Schluss dankt er Günter Kern für "Akten, Briefe und Leben" (287). Aus der freien Erfindung wird das Arrangieren, Umdichten und Dramatisieren von authentischem Material, was die Fiktion unterläuft. Mit der Verwendung des verbürgten Namens eines so berühmten Malers soll das Erzählte beglaubigt werden. Durch diese Verknüpfung und durch das Spiel mit der Authentizität wird der Roman allerdings überfrachtet. Die Familiengeschichten Jans und Günter Kerns geraten zur Kolportage, die mit einem der im Text kritisierten und in bundesdeutscher Geschichtsschreibung hinlänglich ausgebeuteten Narrative, das der allumfassenden Stasi-Verstrickung in der DDR, alle Fragen beantwortet. Doch so einfach war es eben nicht. Während Rietzschel die Umbruchsituation im Ostdeutschland der 1990er Jahre mit Massenentlassungen, Existenzangst, sozialem Abstieg und Identitätsverlust sehr präzise vor allem in ihren Auswirkungen auf die Kinder-Generation beschreibt, wirken seine Ausflüge in DDR-Vergangenheit klischeehaft. Die Figuren sind plakativ. Die Stasi-Verstrickung von Jans Mutter als weiblicher "Romeo", der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, bleibt nebulös.

Rietzschel hat seinen Roman szenisch angelegt. Dabei folgen die Episoden keineswegs der Chronologie, sondern springen wie zufällig durch die Zeiten. Der Autor arbeitet bewusst mit Brüchen, reißt vieles nur an, wie in einem "Film, rückwärts abgespult" (104). Dazwischen werden Briefe von Günter an Georg Baselitz eingestreut. Einzelne Kapitel nähern sich dem Oeuvre des Malers, dessen Markenzeichen die auf Kopf gestellten Motive sind. Anregend sind jene Passagen, die Baselitz-Kunstwerke zu seiner Oberlausitzer Heimat in Beziehung setzen, insbesondere seine in den 1960er Jahren entstandenen Helden-Bilder, in denen die Kriegsheimkehrer als Verlierer festgehalten sind. Baselitz erlebte ihre Heimkehr als Kind und gehörte zu jener vom Zweiten Weltkrieg traumatisierten Kindergeneration, von der jahrzehntelang in Ost und West nicht gesprochen wurde. Baselitz trug diese Bilder in sich, setzte sich später in seiner Kunst damit auseinander. Wenn Rietzschel die Assoziation "Nachkriegszeit, Nachwendezeit" (270) in den Raum stellt, dann greift dieser historische Vergleich allerdings zu kurz, auch wenn die Deformationen und Traumata der Kindergeneration in Zeiten sozialer Umbrüche Parallelen aufweisen mögen. Diese Traumata lasten auf ihnen, und seine literarische Hauptfigur Jan sieht sich selbst und "all die Raumfahrer darin gefangen, kein Vor und kein Zurück" (270). Hier schließt sich der Kreis zum Roman-Motto, das Rietzschel Günter Grass' Novelle Im Krebsgang (2002) entnommen hat. Nicht nur die Erzählweise, das episodische Erzählen, um "der Zeit eher schrägläufig in die Quere" (9), zu kommen, wie es im Motto heißt, und die Verknüpfung von authentischem Material und Fiktion weisen auf Grass, sondern insbesondere dessen Intention, bewusst zu machen, dass die Vergangenheit niemals vergangen ist und uns immer wieder einholt, vor allem dann, wenn eine Aufarbeitung der Geschichte gründlich schiefgegangen ist.


Beitrag im Schattenblick zu Lukas Rietzschels Roman Mit der Faust in die Welt schlagen von Christiane Baumann:

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REZENSION/030: Lukas Rietzschel - Mit der Faust in die Welt schlagen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/redakt/dbrr0030.html


Lukas Rietzschel
Raumfahrer. Roman
München dtv
ISBN: 978-3-423-28295-6
287 Seiten
22 Euro



1. Dezember 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 170 vom 4. Dezember 2021


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