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REZENSION/035: Sophia Jungmann, Karen Nölle (Hrsg.) - Ein Haus mit vielen Zimmern (SB)


Sophia Jungmann, Karen Nölle (Hrsg.)

Ein Haus mit vielen Zimmern
Autorinnen erzählen vom Schreiben

von Christiane Baumann


Vom Engelmord zum eigenen Zimmer
Zum zehnjährigen Bestehen der editionfünf entdeckt: Autorinnen erzählen in Ein Haus mit vielen Zimmern von ihren Schreiberfahrungen

"Ich habe nie eine Zahnbürste in ein Gedicht gepackt" (96), wenngleich Lyriker "meisterliche Kofferpacker" (95) sind, weiß Sylvia Plath, eine der bekanntesten amerikanischen Schriftstellerinnen, im Nachdenken über die Unterschiede von Roman und Gedicht mitzuteilen. Sie gehört zu den vierzehn Autorinnen, die in der Anthologie Ein Haus mit vielen Zimmern in Erzählungen, Essays und Gedichten über ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin, über das Schreiben, das Büchermachen, über Wirkungsintentionen von Literatur und ihre Leserschaft nachdenken. Da ist dann unter anderem zu erfahren, dass "eine Kurzgeschichte [...] wie eine Nymphomanin (sei, C.B.), weil beide gern mit vielen ins Bett gehen - oder in viele Anthologien reinwollen -, aber beide kein Geld nehmen für das Vergnügen" (26). Dieser "Anthologiewitz" findet sich bei der schottischen Autorin Ali Smith in ihrer amüsant wie tiefgründigen Wahren Kurzgeschichte, die über den Unterschied von Roman und Kurzgeschichte reflektiert. Smith erzählt im Bezug auf die Bergnymphe Echo aus der griechischen Mythologie, die Zeus' Seitensprünge deckt und dafür von dessen Gattin Hera ihrer Sprachfähigkeit und damit ihrer Identität beraubt wird, zugleich eine moderne Geschichte von weiblicher Durchsetzungskraft, an deren Ende auch die Frage nach der sozialen Verantwortung von Kunst aufschimmert.

Die Anthologie präsentiert Texte von Autorinnen aus Brasilien, Deutschland, Dänemark, Finnland, Großbritannien, Kanada, Neuseeland, der Schweiz und den USA, deren Geburtsjahre etwa einhundert Jahre umspannen. Die älteste Autorin ist Virginia Woolf (*1882), die jüngsten sind die 1980 geborenen Nora Gomringer und Judith Schalansky. Damit schlägt die Anthologie den Bogen vom 19. Jahrhundert, in dem sich die Frauenbewegung konstituierte, die der "Frauenliteratur" den Weg bahnte, bis in die Gegenwart. 1878 erwartete die Schriftstellerin Margarethe Halm (1835-1898), mit bürgerlichem Namen Alberta von Maytner, in einem Feuilleton-Beitrag in der von den Brüdern Heinrich und Julius Hart herausgegebenen frühnaturalistischen Zeitschrift Deutsche Monatsblätter von den "Tendenzarbeiten" der schreibenden Frauen "eine Verbesserung der sozialen Zustände", womit sie auf Reformen zielte. Die Beiträge der Anthologie sind wesentlich später entstanden. Die ältesten datieren von 1931 (Virginia Woolf Berufe für Frauen) und von 1946 (Anna Seghers Der Ausflug der toten Mädchen). Was die "sozialen Zustände" anbelangt, so erscheint jedoch mancher, bereits vor Jahrzehnten entstandene Text erstaunlich aktuell.

Die Anordnung der Beiträge in der Sammlung folgt inhaltlich-thematischen Kriterien, die bereits im Titel angedeutet werden. In ihrem Vorwort zitieren die Herausgeberinnen Sophia Jungmann und Karen Nölle die kanadische Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro, die eine Erzählung als "Haus mit vielen Zimmern" (9) charakterisierte, das beim Betreten "aus jedem Fenster eine neue Sicht" (9) ermögliche. Das zielt auf Vielfalt der Handschriften und Schreibintentionen, die sich mit den Autorinnen verbinden und die die Leser zu einer ebenso vielseitigen Interpretation und Auseinandersetzung einladen. Es ist aber auch als Anspielung auf den im Band enthaltenen Essay Berufe für Frauen von Virginia Woolf zu lesen, die 1931 in ihrer Rede vor der National Society for Women's Service den anwesenden Frauen bescheinigte, sich "in einem Haus, das bisher ausschließlich in männlichem Besitz war, eigene Zimmer erobert" (132) zu haben. Das galt nicht zuletzt für Woolf selbst, die als eine der ersten neben James Joyce die Bewusstseinsstromtechnik in den Roman einbrachte und sich damit in die Literaturgeschichte einschrieb. In eben dieser Rede sprach sie vom "Engel im Haus" als der tradierten Frauenrolle, die es zu ermorden galt, um zu eigener künstlerischer Entfaltung und Identität zu finden. Ihr Essay Ein Zimmer für sich allein (A Room of One's Own), der 1929 erschienen war und auf ökonomische Unabhängigkeit sowie kreativen Freiraum abstellte ("Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte."), wurde zu einem kanonischen Text feministischer Literaturwissenschaft.

Eröffnet wird die Anthologie mit Tania Blixens Geschichte Die leere Seite, die den Tabubruch und das Ausbrechen einer Frau aus der überkommenen Norm thematisiert. "Die leere Seite" weist aber auch auf die Frau als Leerstelle in der von patriarchalischem Denken geprägten Geschichte und Geschichtsschreibung, die es durch das Erzählen zu füllen gilt. Blixens 1937 erschienener autobiographischer Roman Jenseits von Afrika, der mit der herrschenden Frauenrolle brach, wurde, nicht zuletzt durch die Sidney-Pollack-Verfilmung, weltbekannt. Erzählungen, in denen überkommene Weiblichkeitsmuster und Lebensvorstellungen hinterfragt werden, wie in Margaret Atwoods Blaubarts Ei oder in der Erzählung Die Hauptrolle der finnischen Autorin Tove Jansson, wechseln sich in der Sammlung mit essayistischen Beiträgen zum Thema "Schreiben" ab und werden immer wieder durch Gedichte der deutsch-schweizerischen Autorin Nora Gomringer durchbrochen. Dabei treten die Texte miteinander in Dialog. Silvia Plath' Vergleich von Roman und Gedicht schließt sich Gomringers lyrischer Text Gedichte an, der diese als "Gefechte / Auf weißen Seiten" (98) charakterisiert, damit Blixens Motiv der "leeren Seite" aufnehmend, das im den Band beschließenden Essay von Annette Pehnt Am Ende nochmals aufgegriffen wird und die Schwierigkeit thematisiert, "vom weißen Blatt zur ersten Silbe" (215), zu einer eigenen Sprache, zu finden.

Die aus Greifswald stammende Judith Schalansky, die ihre Bücher auch selbst gestaltet, beschreibt in ihrem Essay Wie ich Bücher mache ihren Traum von "totale(n) Büchern" (116). Damit meint sie nicht nur den dialektischen Zusammenhang von Inhalt und Form, die im Text "aufgehen" müssen, sondern auch die Einheit des Geschriebenen mit Bild, Gestaltung und Typografie, die es zu formen gilt und die immer wieder als etwas Unvollkommenes, nicht Perfektes erlebt wird. Geht es hier um Handwerk, um Fragen der Ästhetik, um die Schwierigkeiten des Schreibens, so reflektiert die 1974 in Potsdam geborene Antje Rávic Strubel in ihrem "Abgesang in drei Aufzügen" Mädchen in Betriebnahme über die Stellung als Schriftstellerin im heutigen Literaturbetrieb. Im ersten Aufzug paraphrasiert die Ich-Erzählerin den Lucylectric-Song "Weil ich ein Mädchen bin", der das nach wie vor ungebrochene Klischee vom "typischen" Mädchen reproduziert. Die erlebte Wirklichkeit steht im Widerspruch zu der den Woolf-Essay ironisierenden Feststellung: "Mir jedenfalls geht es gut. Ich habe Geld, ein Zimmer für mich allein und Zeit zum Schreiben." (104) Das "Aber", das diese Aussage impliziert, bezieht sich auf die Muster herrschender Frauenbilder, die den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen und weibliches Schreiben mit "Weltvorstellung" (103) ausblenden, stattdessen "das Mädchen als Programmmusik, als Wiederkehr des Ewiggleichen, ein Requisit der kollektiven Rumpelkammer" (106), kurz: die alte "Mädchenschablone" (109), feiern. In der Talkrunde fungiert die Schriftstellerin als Zierde des Abends mit "Augenaufschlag aus der Stummfilmzeit" (105). Im zweiten Aufzug wird aus dem weiblichen "Ich" bereits ein "man" mit geringen Chancen, "ins kollektive literarische Gedächtnis" (107) Eingang zu finden. Es heißt schließlich: "... dagegen kann man sich im Einzelfall zur Wehr setzen" (109), aber das Gefühl, den gesellschaftlichen Machtstrukturen ausgeliefert zu sein, Ohnmacht und Resignation machen sich breit. Im dritten Aufzug ist "das Königliche an der Unterwerfung" (111) zu lernen, bleiben von Standardwerken feministischer Wissenschaft wie Silvia Bovenschens Die imaginierte Weiblichkeit oder Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter Worthülsen in "gespreizten Sätzen" (111). Die Dekonstruktion des weiblichen Subjekts spiegelt sich bis in die Syntax, in der Auflösung der Sätze ohne Punkt und Komma, wider. Rávic Strubels Geschichte ist eine der Desillusionierung, die mit dem Fall der Mauer einsetzt, "wo keine Zensur mehr gefürchtet, keine Utopie mehr geopfert, wo sich zu keiner Moral, keiner verbindlichen Ästhetik mehr aufgeschwungen werden kann" (106), aber nun bemäntelt "mit zielgruppenorientierten Marketingstrategien und wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten" (107) überkommene Geschlechterrollen zementiert werden.

In Anna Seghers Tagtraum-Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, die in die Anthologie Aufnahme fand, geht es nicht vordergründig um Weiblichkeitsmuster. Es ist jedoch der einzige Seghers-Text mit autobiographischen Zügen. Er entstand 1943 im mexikanischen Exil. Die Erzählerin entledigt sich des Auftrages ihrer einstigen Lehrerin, über einen Schulausflug zu schreiben. Getrieben vom Wunsch nach Heimfahrt und in einer Art Schwebezustand zwischen Traum und Wirklichkeit erinnert sie sich an ihre Klassenkameradinnen, die inzwischen alle tot sind. Das Erlebnis des Schulausfluges wird mit dem vorhandenen Wissen über deren Lebenswege verbunden und gerät zu einer Abrechnung mit dem Naziregime, das aus einstigen Freundinnen Verfolger und Verfolgte machte. Das Ensemble der Frauenschicksale, das die Erzählerin ausbreitet, ist insofern bemerkenswert, als es soziologisch betrachtet einen repräsentativen Querschnitt möglicher weiblicher Lebensentwürfe bietet. Dieser reicht von der emanzipiert agierenden Antifaschistin Leni, über die ihre Liebe zu einem Juden selbstbestimmt lebende Lore bis zur sich über ihren Mann definierenden Marianne. Die Aufnahme von Anna Seghers in die Anthologie ist auch deshalb bedeutsam, weil ihr von feministischer Literaturwissenschaft zu Unrecht ein "männlicher Blick" (Erika Haas) unterstellt wurde und sie das Schreiben zahlreicher Autorinnen in der DDR, darunter Christa Wolf oder Brigitte Reimann, beeinflusste.

Wenngleich die klug zusammengestellte Anthologie keine Repräsentativität beansprucht, sind, wenn es um "weibliches" Schreiben geht, mindestens zwei Namen mitzudenken, die zu diesem Diskurs maßgeblich beigetragen haben und sich nahtlos in das Konzept der Herausgeberinnen eingefügt hätten. Es handelt sich um die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann und Christa Wolf. Wolf antwortete 1983 auf die Frage, ob es "weibliches" Schreiben gäbe: "Insoweit Frauen aus historischen und biologischen Gründen eine andre Wirklichkeit erleben als Männer. Wirklichkeit anders erleben als Männer und dies ausdrücken. Insoweit Frauen nicht zu den Herrschenden, sondern zu den Beherrschten gehören [...] Insoweit sie, schreibend und lebend, auf Autonomie aus sind." Diesem Anspruch sind die Texte der Anthologie allesamt verpflichtet.

Den Band, dessen typografische Gestaltung Wort- und Buchkunst als Einheit erlebbar macht, runden ausführliche bio-bibliographische Angaben zu den Autorinnen ab, ebenso zu ihren Übersetzerinnen, die häufig im Nirwana verschwinden, hier aber gewürdigt werden. Der Verlag editionfünf, nunmehr seit zehn Jahren am Markt, um "schöne Bücher von klugen Frauen, Bücher, die zu schnell vom Markt verschwunden oder nie ins Deutsche übersetzt worden sind", herauszubringen, hat mit dieser Anthologie seine Programmatik einmal mehr bestätigt.

Zitate:
* Margarethe Halm: Etwas über Frauenliteratur. In: Deutsche Monatsblätter, 1 (1878), S. 206-207.
* Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. Aus dem Englischen übersetzt mit einem Nachwort von Axel Monte. Leipzig 2012, S. 6.
* Christa Wolf: Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung. Berlin/Weimar 1983, S. 146.
* www.editionfuenf.de


Ein Haus mit vielen Zimmern
Autorinnen erzählen vom Schreiben
Hrsg. u. mit einem Vorwort
von Sophia Jungmann und Karen Nölle
editionfünf
Verlag Silke Weniger 2015
231 Seiten
19, 90 Euro
ISBN: 978-3-942374-71-2

19. August 2019


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