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REZENSION/032: Daniela Krien - Die Liebe im Ernstfall (SB)


Daniela Krien

Die Liebe im Ernstfall

von Christiane Baumann


Die Kraft weiblicher Selbstbehauptung
Zu Daniela Kriens vielbeachtetem Roman Die Liebe im Ernstfall

Paula Krohn erlebt die körperliche Liebe mit Wenzel "wie eine komplexe Musik - nach dem ersten Hören traten andere, feinere Klänge hervor, zeigte sich die Schönheit noch im leisesten Ton und selbst in den Pausen" (32). Paula ist eine von fünf Frauen, deren Geschichte in Daniela Kriens Roman Die Liebe im Ernstfall erzählt wird. Es ist der zweite Roman der 1975 in Neu-Kaliß in Mecklenburg-Vorpommern geborenen Krien, die Kulturwissenschaften sowie Kommunikations- und Medienwissenschaften studierte und heute mit ihren Töchtern in Leipzig lebt. 2011 veröffentlichte sie ihren auf Anhieb erfolgreichen Erstling Irgendwann werden wir uns alles erzählen (2011) und 2014 den Erzählband Muldental.
In Die Liebe im Ernstfall haben die fünf, noch in der DDR aufgewachsenen Frauen alle irgendwie miteinander zu tun. Sie sind befreundet, Schwestern oder die Frau vom Ex. Sie alle verbindet die Liebe zur klassischen Musik, die den Roman wie ein Klangteppich durchzieht. Und so ließe sich das erotische Erleben Paulas mit Wenzel, das als Musik erzählt wird, auch auf die ästhetische Erfahrung beziehen, die der Leser in diesem Roman machen kann. Der Reiz der Geschichten entfaltet sich, je genauer man liest und hineinhört in den Text, in dem Paulas Buchhandlung in Leipzig im wiedervereinten Deutschland zum Ort wird, an dem die Erzählfäden zusammenlaufen.

Was die Buchhändlerin Paula Krohn, die Ärztin Judith Gabriel, die Schriftstellerin Brida Lichtblau, die Geigenlehrerin Malika Noth und die Schauspielerin Jorinde Noth neben der Liebe zur Musik verbindet, ist das schmerzhafte Bewusstwerden der "Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit" (16) in ihrem Leben und zugleich ihr Hunger auf Leben, Liebe und auf erotische Erfüllung. Jede dieser Frauen hat das Gefühl, in einer Sackgasse angekommen zu sein. Doch jeder öffnet sich, so schmerzhaft und verlustreich der Weg auch sein mag, eine Tür, die es ermöglicht, weiterzugehn. Dabei stehen diese Frauen für sehr unterschiedliche weibliche Lebensentwürfe. Ihre Lebensgeschichten, die keineswegs neu oder unerhört, eher alltäglich sind, entgehen der Banalität, weil sie jeweils ein bestimmtes weibliches Rollenverständnis repräsentieren. Da ist die berufstätige Paula, eine angepasste Frau, die sich in der Beziehung unterordnet, für Kinder und Familie sorgt, sich nach dem plötzlichen Tod ihrer Tochter gescheitert sieht und "aus den üblichen Bezügen" (48) fällt. Ganz anders lebt die Ärztin Judith, die in ihrem Beruf aufgeht und mit dem traditionellen Rollenbild gebrochen hat, ihre Unabhängigkeit jedoch mit Einsamkeit bezahlt. Ungebundensein und Selbstbestimmtheit wünscht sich die Schriftstellerin Brida, die sich jedoch nur mühsam aus der traditionellen Frauen- und Mutter-Rolle lösen kann und erkennen muss, dass "die Kunst und die bürgerliche Ehe" (177) nur "schlecht" zusammengehen. Die Geigenlehrerin Malika, die sich in der DDR als Jugendliche den Erwartungen der Eltern widersetzte und sich gegen eine künstlerische Karriere entschied, muss das Scheitern ihrer Ehe am unerfüllt gebliebenen Kinderwunsch erleben und sich neu erfinden. Ihre Schwester, die als Schauspielerin ihren Lebenstraum verwirklicht, sieht sich hingegen ohne verlässlichen Partner im Spagat zwischen drei Kindern und Karriere in unserer Gesellschaft vor unlösbare Probleme gestellt.

Alle fünf Frauen sind auf der Suche nach ihrer Identität, nach Selbstverwirklichung und nicht zuletzt nach der "wahren Liebe" (82), wobei keiner der Männer dem "Ernstfall" in der Beziehung gewachsen ist. Das mag platt klingen, aber so wie Krien diese Geschichten erzählt, sind sie authentisch. Der besondere Reiz ihres Erzählens entsteht aus den fünf weiblichen Erzählerfiguren, die miteinander verbunden sind, aber in jeweils abgeschlossenen Episoden ihre Geschichte aus ihrem Blickwinkel aufrollen. Durch den Wechsel der Figurenperspektive wird die Innensicht jeweils mit der Außensicht der anderen Frauen kontrastiert, so dass die erzählten Vorgänge sich plötzlich überraschend anders, differenzierter darstellen oder gänzlich in Frage gestellt werden. Es entsteht ein multipler Blick auf weibliche Rollenbilder in unserer Gesellschaft, die von sozialer Anpassung, Mimikry bis zum Bruch mit traditionellen Weiblichkeitsmustern reichen.

Dabei kollidiert im Roman mehrfach das weibliche Selbstverständnis der noch in der DDR sozialisierten Frauen mit eher traditionellen Rollenbildern ihrer westdeutschen Partner: "West und Ost waren plötzlich mehr als Ortsbezeichnungen [...] waren Zeichen einer richtigen und einer falschen Lebensweise" (155), wie Brida feststellt. Solche Klischees stören, sind doch die Lebenswelten in Ost und West in den vergangenen fünfzehn Jahren, die der Roman etwa zeitlich ausschreitet, erheblich durchmischter und bunter geworden. Auch der einst gern ins Feld geführte Gemeinplatz von der berufstätigen Frau in Ostdeutschland als "Rabenmutter" dürfte heute kaum noch ziehen. Kriens Geschichten transportieren aber unterschwellig Kritik am Wiedervereinigungsprozess, in dem versucht wurde, dem selbstbestimmten Lebensentwurf ostdeutscher Frauen das westdeutsche Ernährermodell überzustülpen und gleichstellungspolitische Errungenschaften der DDR zu diskreditieren, die - trotz Doppelbelastung und vielfacher Unzulänglichkeiten - Ausbildung, Studium und Berufstätigkeit auch mit Kind und Familie ermöglichten. Insofern lassen sich Kriens Ost-West-Partnerschaften auch modellhaft verstehen, wobei sie durchweg eine fatalistische Sicht offenbaren. Die fünf Frauen sind bei ihren Bemühungen, selbstbestimmt und wirtschaftlich unabhängig ihren Weg zu gehen, auf sich allein gestellt. Sie müssen dafür Entscheidungen treffen, die immer mit Verlusten verbunden sind, und sie haben weder von den Männern noch von der Gesellschaft Unterstützung zu erwarten. Damit korrespondiert im Roman der etwas bemüht und skurril wirkende Debattierklub im Elternhaus von Malika und Jorinde, der zu DDR-Zeiten ein "Begegnungsort" (192) von Künstlern und Intellektuellen war. Dort wird die "spätkapitalistische westlich-liberale Gesellschaftsordnung" (220) zur Disposition gestellt und über eine "Neuordnung der Gesellschaft" diskutiert, bei der die Frage einer "natürlichen Bestimmung für Frau und Mann" unter Anerkennung der "Verschiedenheiten" und die "Grenzen" (232) der Selbstbestimmung zu klären wären. Diese "Neuordnung" ist allerdings kein utopischer Entwurf, sondern eine Dystopie, angesichts der Tatsache, dass "die Welt wieder konservativer" wird und Männer und Frauen "ihre Rollen wieder klarer voneinander abgrenzen" (232) müssen.

Gegen diesen Fatalismus setzt die Autorin die Vielfalt weiblicher Lebensentwürfe, wie sie sich in den Frauenfiguren des Romans zeigt. Ihren Aufbruch gegen private und gesellschaftliche Widerstände begleiten Gustav Mahlers Auferstehungssinfonie (Sinfonie Nr. 2) und Lew Tolstois Roman Auferstehung, in dem sich die Absage an die Herrschaftsverhältnisse mit der Kraft weiblicher Selbstbehauptung verbindet. Else Lasker-Schüler, eine Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgreiche, in ihrem Schreiben unangepasste und in ihrem Privatleben die gesellschaftlichen Normen durchbrechende Dichterin, wird zum Bezugspunkt. Der Roman-Erstling der Schriftstellerin Brida erinnert mit seinem Titel Lebensmuster an Christa Wolfs berühmten autobiographisch angelegten Roman Kindheitsmuster (1976) und damit an eine Schriftstellerin, die trotz gesellschaftlicher Anfechtungen und Selbstzweifel unbeirrt ihren Weg ging.
Der Aufbruch der Frauen in Daniela Kriens Roman zu neuen "weiblichen" Welten führt zum Bruch mit tradierten Rollenzuschreibungen und zum Herausfallen aus der sozialen Norm. Er wird erst ohne Mann möglich, doch die Sehnsucht nach einer erfüllten Partnerschaft bleibt.


Daniela Krien
Die Liebe im Ernstfall
Roman
Zürich, Diogenes 2019
288 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-257-07053-8

5. Mai 2019


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