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REZENSION/031: Christoph Hein - Gegenlauschangriff (SB)


Christoph Hein

Gegenlauschangriff
Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege

von Christiane Baumann


"Es war alles ganz anders" -
Christoph Heins Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege

Der pünktlich zu Christoph Heins 75. Geburtstag erschienene Anekdoten-Band Gegenlauschangriff, der persönliche Erlebnisse des Autors enthält, hat Staub aufgewirbelt. Zunächst rief er den Spiegel auf den Plan. Nach dem Versagen der dortigen Recherche-Abteilung im Fall Relotius bemühte man sich, das Funktionieren des Archivs unter Beweis zu stellen und fand heraus, dass ein von Hein zitiertes Interview mit dem Magazin nicht 1993, wie behauptet, sondern 1998 geführt wurde. Der Spiegel-Journalist, der laut Hein seinerzeit wie zahlreiche andere Kollegen der schreibenden Zunft seine Stasi-Akte nach belastendem Material durchforstet und das Interview mit der Bemerkung begonnen haben soll: "Herr Hein, wir haben leider nichts gegen Sie in der Hand" (98), hat inzwischen in einem Offenen Brief (Zeit) erklärt, Heins Stasi-Akte nie gesehen zu haben. Wie auch immer: Es ändert nichts am symptomatischen Befund der Anekdote Dass einer lächeln kann und lächeln, stürzten sich doch in den 1990er Jahren westdeutsche Journalisten wie Heuschrecken auf das Leben der anderen Deutschen, um sich damit auf dem Markt des investigativen Journalismus Lorbeeren zu verdienen, was für Betroffene oft genug existenziell bedrohlich und entwürdigend war und häufig mit einer notwendigen Aufarbeitung von Geschichte verwechselt wurde.

Wie wenig man über "das Leben der Anderen" wusste und weiß, zeigt der gleichnamige, vielfach gelobte und 2007 Oscar-gekrönte Film. In Mein Leben, leicht überarbeitet kritisiert Christoph Hein Das Leben der Anderen wegen der von Klischees strotzenden Darstellung der DDR-Wirklichkeit der 1980er Jahre. Hein, der dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck seinerzeit als Zeitzeuge bei den Film-Recherchen zur Verfügung gestanden hatte, sah sich in der Hauptfigur kolportiert und sein Leben verzerrt wiedergegeben. Er bestand darauf, aus dem Abspann des Films entfernt zu werden. Die FAZ warf Hein nun nicht nur seine, zugegebenermaßen etwas überzogene, Selbstprojektion auf die Filmfigur Georg Dreymann vor, sondern man unterstellte ihm eine "relativierende Pose" gegenüber der DDR. Hein versuche "alternative Fakten" zu schaffen, so der Vorwurf, der deutlich macht, dass in diesem medialen Aufschlag Prinzipielles verhandelt wird. Es geht um die Deutungshoheit über die jüngste deutsche Vergangenheit, über das Leben in der DDR ebenso wie über die deutsche Wiedervereinigung und deren Folgen.

Dass Heins Anekdoten unter medialen Beschuss geraten sind, ist kein Zufall, sondern liegt sowohl in seinem poetologischen Konzept begründet als auch im politischen Anspruch des Bandes und dessen differenzierter Sicht auf die DDR, die im historischen Etikett "Unrechtsstaat" zu verschwinden droht. Christoph Heins Schreiben prägt das Selbstverständnis von der Literatur als historischem Gedächtnis. Von ihm stammt die Feststellung, wer wirklich etwas über die DDR erfahren wolle, solle die in ihr geschriebenen Bücher lesen. In seinem Roman Horns Ende (1985) bezeichnet der Historiker Horn Geschichte als "Teig von Überliefertem, von willkürlich oder absichtsvoll Erhaltenem, aus dem sich nachfolgende Generationen ein Bild nach ihrem Bilde kneten." [1] Hein hat in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder Schicksale beschrieben, die das offizielle Geschichtsbild konterkarierten. Im Protokollstil, der in seinem jüngsten Roman Verwirrnis (2018) ins Notatartige überging, wurden Fakten zusammengetragen und dokumentiert, um das aus dem offiziellen historischen Narrativ Verdrängte, das Revidierte und Ausgelöschte sichtbar zu machen. Faktizität, Detailgenauigkeit und Objektivität bestimmen Heins Erzählen, das zuletzt immer mehr zwischen Authentizität und Fiktion oszillierte. So wurde in Glückskind mit Vater (2016) der Bezug zu "authentischen Vorkommnissen" hergestellt oder in Verwirrnis die reale Existenz von Figuren kaum noch verhüllt. Heins Image als "Chronist" der deutsch-deutschen Geschichte lebt von diesem Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Mit seinem Gegenlauschangriff setzt er nun dem offiziellen historischen Narrativ seine persönliche Chronik entgegen, durch die sich wie ein roter Faden der Satz des bedeutenden Leipziger Germanisten Hans Mayer zieht: "Es war alles ganz anders" (19). Da, wie es in seinem Roman Trutz (2017) heißt, das "gute und genaue Gedächtnis" [2] nicht immer erwünscht ist, ist ein Erinnerungs-Fehler, und sei er auch noch so klein, ein willkommener Anlass, um die Glaubwürdigkeit eines Autors zu beschädigen, der mit unbequemen Wahrheiten, mit "Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege", aufwartet. Gemeint ist nicht wie bei Heinrich von Kleists berühmter Anekdote der Krieg auf offenem Feld, sondern der kalte Krieg nach Gründung der beiden deutschen Staaten, dessen Kämpfe aber "ebenso erbarmungslos wie in einem heißen Krieg" geführt wurden, "verschleiert und nahezu geräuschlos" (69). Der literarische Bezug weist ebenso auf den ästhetischen Anspruch wie auf das obrigkeitskritische dichterische Selbstverständnis.

Die Anekdoten spannen zeitlich den Bogen von den Nachkriegsjahren bis zur Gegenwart. Der Titel Gegenlauschangriff spielt assoziativ mit dem in der wiedervereinten Bundesrepublik heftig umstrittenen "großen Lauschangriff", dem Abhören und Überwachen von privaten Wohnungen, das 1998 per Grundgesetzänderung im Rahmen der Strafverfolgung sanktioniert wurde. Die Anekdote selbst schildert eine Episode aus DDR-Zeiten. Sie ist ein Paradestück mit Manfred Krug in der Hauptrolle, der 1976 nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns eine Diskussion mit Funktionären heimlich aufzeichnete, die den Protest der anwesenden Künstler dokumentierte. Ein solcher Mitschnitt hätte Krug in der DDR um Kopf und Kragen bringen können, zumal er aus seiner gegen die Staatsmacht gerichteten "Abhöraktion" keinen Hehl machte. Heute würde man ihn zu den "Whistleblowern" (37) zählen, so Heins Pointe.

Whistleblower sind bekanntlich bei der Obrigkeit nicht sonderlich beliebt, wie man spätestens seit Edward Snowden weiß, weil sie gut gehütete Fakten und Geheimnisse öffentlich machen. Hein selbst hat sich als "Enthüller" zu DDR-Zeiten einen Namen gemacht. Mehrfach beschrieb er vor 1989 in seinen Romanen und Stücken, erinnert sei an die Ritter der Tafelrunde, das Ende der DDR. Mit seiner inzwischen berühmten Rede 1987 auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR, in der er die Zensur brandmarkte ("Die Zensur ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar"[3]), bewies er Mut und Integrität. Seine Anekdote, die sich um diese Rede rankt, liest sich wie eine Eulenspiegelei. Unglaublich ist, wie ein couragierter Verleger, Elmar Faber vom Aufbau-Verlag, seinen Roman Horns Ende 1985 ohne offizielle Genehmigung in den Druck gehen ließ. Ein Beispiel, das zeigt, wie sich der Einzelne gegen das System behaupten konnte. Neben Repressalien und Zensur, die Hein in der DDR erlebte, wird in den pointiert zugespitzten Episoden zudem noch etwas Anderes erkennbar: die enorme Bedeutung, die der Literatur im gesellschaftspolitischen Diskurs der DDR zukam, die sie zu einer Instanz machte. Das änderte sich schlagartig mit ihrem Zusammenbruch. Die größte Demonstration in der deutschen Geschichte am 4. November 1989 mit knapp einer Million Teilnehmern und prominenten Kunst- und Kulturschaffenden als Rednern, darunter Christoph Hein, war der ARD schon keine Übertragung mehr wert. Man blieb "programmtreu" (68), so die Pointe, und strahlte das geplante Tennis-Turnier mit Boris Becker aus. Die DDR-Kulturlandschaft wurde auf "bundesdeutsches Niveau" (91) gebracht, was in der Anekdote für die Abwicklung zahlreicher Orchester steht, das Zerstörerische des Vorgangs sichtbar macht und dieses "Niveau" als Status Quo fragwürdig werden lässt. Die Übernahme des Staates DDR durch die "zurückkehrende alte Macht" (27), im Slogan des "Aufbau Ost" positiv besetzt, bedeutete im Klartext, es wurde "ausgeschlachtet, abgewickelt und plattgemacht" (77), wie ein Betriebsdirektor konstatiert. Das Gleiche erlebte die Kultur- und Wissenschaftslandschaft. Die Folge waren Massenentlassungen. Zwei Zahlen, die Hein nicht nennt, liefern das statistisches Beiwerk der beschriebenen Vorgänge: Von 9,8 Millionen Arbeitnehmern verloren im Gebiet der ehemaligen DDR 7,3 Millionen über Nacht ihre Arbeit. Der Einigungsvertrag markierte das "Ende des letzten deutsch-deutschen Krieges" (94). Um diesen geht es in Die allerletzte Schlacht des Krieges. Kriege enden bekanntlich mit Reparationszahlungen des Verlierers und drakonischen Strafen für die Besiegten. Der moderne Strafkatalog, so Hein, bevorzuge die "pekuniäre Bestrafung", die wesentlich "abschreckender" (84) sei. Sein Ausblick dreißig Jahre nach dem Mauerfall ist an Sarkasmus nicht zu überbieten: In weiteren dreißig Jahren könne ja vielleicht "endlich zusammenverwachsen, was zusammengehört" (123). Damit schließt sich der Kreis zur ersten Anekdote Nach Moskau, nach Moskau!, die von der geradezu naiven Sehnsucht dreier DDR-Aktricen Anfang der 1980er Jahre nach der Weltstadt Paris erzählt, denn diese Welt kann sich nur leisten, wer über die notwendigen Mittel verfügt.

Wer tatsächlich etwas über die DDR, ihren Beitritt zur Bundesrepublik und das wiedervereinte Deutschland erfahren will, der sollte diesen Anekdoten-Band unbedingt lesen.


Anmerkungen:
[1] Christoph Hein, Horns Ende, Roman, Berlin und Weimar 1985, S. 279.
[2] Christoph Hein, Trutz, Roman, Berlin 2017, S. 190.
[3] Christoph Hein, Als Kind habe ich Stalin gesehen, Essais und Reden, Berlin und Weimar 1990, S. 77.


Christoph Hein
Gegenlauschangriff
Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege
Berlin, Suhrkamp 2019
123 Seiten,
14,00 Euro,
ISBN: 978-3-518-46993-4

12. April 2019


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