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LITERATURBETRIEB/022: Sprache 2 (SB)


"Frühnebel in den Morgenstunden,

wunderwunderschön, offenbar am Tage, am heutigen Tage"


Geschwätzigkeit verschleiert den Inhalt

Haben Sie während des Lesens versucht, den Inhalt dieser Überschrift zu verstehen oder sich sogar Gedanken über die Absicht gemacht, die hinter diesem Satzfragment stecken könnte? Dann haben Sie sich in der Zeit des Talkens und Chattens und der Hits wie "Maschendrahtzaun" noch nicht von dem aussterbenden Reflex des Zuhörens verabschiedet, der bei diesem Beispiel ebenso wie beim Fernsehen oder Radiohören zu 'überflüssigen Aufwendigkeiten' führt.

Wer wenig zu sagen hat, aber viel sagen muß, benutzt sprachliche Tricks, um diesen Widerspruch zu vertuschen. Viele Wörter um ein Thema, deren inhaltliche Verknüpfung auch noch der Logik entbehren oder die alle das gleiche ausdrücken, sollen Eindruck schinden. Die Füllsel verdecken - für den aufmerksamen Zuhörer durchschaubar - Mängel in den dargestellten Fakten und in Quellenangaben. Klarheit wird nur vorgetäuscht. Selten findet man noch verbindliche Aussagen, stichhaltig recherchierte Fakten, an denen der Zuhörer den Sprecher oder Schreiber festmachen kann. Präzision oder eine argumentativ belegte Stellungnahme weichen zunehmend einer Distanzierung von den Inhalten, entweder weil eine gründliche Aufarbeitung angesichts des Produktions- und Leistungszwangs zeitlich nicht mehr machbar ist oder weil das Spektrum an sprachlichen Möglichkeiten für eine inhaltliche Auseinandersetzung immer kleiner wird.

Sie stören diffus in Berichterstattung, Unterhaltung und schriftlichen Ausarbeitungen, aber nicht so weit, daß man sie zu durchschauen strebt - gemeint sind die sprachlichen Mittel, mit denen eine inhaltliche Verflachung und Vereinheitlichung erreicht wird und die letztlich Qualität und Glaubwürdigkeit des Gesagten stark reduzieren. Mit ihrer zunehmenden Verwendung entwickelt sich nicht zuletzt eine Wortnot, eine Sprachlosigkeit, die sich hauptsächlich in den Wohnzimmern der Familien ausbreitet, wo die unreflektierte Dauerberieselung mit medialen Erzeugnissen am meisten Einfluß hat. Im folgenden werden zwei dieser stilistischen Übergriffe aufgeführt, um eine kleine Anregung zur Selbstreflexion zu geben und das Problem zu verdeutlichen.


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Verdoppelung und Wiederholung:

Nicht nur, daß man zum Beispiel Tante Frieda - in der Familie etwas unbeliebt - in einer Tischrede, in der man nichts über sie zu sagen weiß, zum Geburtstag "vielviel Glück für und für..." wünscht (Wortverdoppelungen), sondern auch inhaltliche Wiederholungen mit verschiedenen Wörtern schleichen sich schnell ein. Zum Beispiel der Wetterbericht: "Vorübergehend auch mal Regen, es wird geradezu nass werden" oder der oben zitierte "Frühnebel in den Morgenstunden" (um die immergleiche Ansage des grauen Einheitswetters etwas zu beleben). - Die Verdoppelung wird auch zu poetischen Zwecken verwendet; ob sie allerdings hier ihre Funktion erfüllt und die Aussage verstärkt oder die Dramatik der Situation erhöht, kann jeder für sich beurteilen. Ganymed beantwortet den Ruf der Nachtigall (in Goethes Hymne): Ich komm, ich komme! / Wohin? Ach, wohin? / Hinauf! Hinauf strebt's.


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Sogenannte Füllwörter, zum Beispiel "offenbar":

Das Wort "offenbar" verbreitet sich durch alle Medien. Es ist vielfach in Nachrichtensendungen zu hören und schleicht sich in Zeitungen besonders in den Unterüberschriften ein: Die Krebsforschung steht offenbar vor dem Durchbruch / Flugzeugabsturz - offenbar 44 Tote / Offenbar menschliches Versagen - Die Ursache des Zugunglücks steht noch nicht fest. Die Wortbedeutung ist seinem Gebrauch fast entgegengesetzt. "Offenbar" heißt so viel wie deutlich, klar, offenbart, offengelegt und wird in diesen Beispielen als "vielleicht", "vermutlich", "anscheinend", "möglicherweise" oder "wahrscheinlich" verwendet. Die Klarheit wird hier lediglich vorgetäuscht.

Von einer Vertiefung des inhaltlichen Verständnisses oder einer Erweiterung der Sprachkenntnisse kann hier keine Rede sein. Diese Form der Sprachverwendung hat eine gegenteilige zentrale Funktion: Informationen können unmerklich reduziert werden, Inhalte brauchen nur noch oberflächlich durchleuchtet zu werden, und man kann sie verschleiern. Diese Form der Geschwätzigkeit wird in Talkshows, Big-Brother-Events und durch das immer beliebtere Chatten im Internet regelrecht gefördert. Auf der Strecke bleibt die Fähigkeit, sich mit der unverschleierten Realität auseinandersetzen zu können oder sie überhaupt noch zu erkennen und zu benennen.


Erstveröffentlichung am 8. Januar 2001

29. Dezember 2006