Schattenblick →INFOPOOL →DIE BRILLE → FAKTEN

REZEPTION/022: Acht Jahre für 60.000 Verse (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 26 - April 2009 - Forum der Universität Tübingen

Acht Jahre für 60 000 Verse

Langzeitprojekt am Deutschen Seminar:
Märendichtung des 13. und 14. Jahrhunderts

Von Elsa-Laura Horstkötter


Die drei leitenden Professoren des neuen Langzeitprojekts "Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts" haben sich viel vorgenommen: In acht Jahren sollen 60 000 Verse deutscher Märendichtung digitalisiert und als gedrucktes mehrbändiges Werk herausgegeben werden. Die Verse sind oft durch anonyme Schreiber in Handschriften zusammengefasst worden. In dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Langzeitprojekt arbeiten die mediävistischen Abteilungen der Universitäten Tübingen und Köln zusammen. Hans-Joachim Ziegeler, Köln, und Paul Sappler, Tübingen, kamen als ehemalige Assistenten von Hans Fischer, der seinerzeit die Märendichtung des 15. Jahrhunderts erschlossen hat, auf die Idee, das Corpus zu vervollständigen.


Mittelalterliche Unterhaltungsliteratur

Prof. Klaus Ridder, der sich an der Universität Tübingen schon lange mit schwankhaften Erzählungen des Mittelalters befasst, gab dann nach mehr als zehn Jahren Überlegung den letzten Anstoß: "Wir haben großen Respekt vor dieser Masse an überlieferten Versen. Dass die Texte bis heute noch nicht vollständig erschlossen sind, liegt mitunter daran, dass die Erschließung bisher immer zur Lebensaufgabe der Beteiligten wurde", erklärt er. Das insgesamt neunköpfige Team, hinzu kommen Hilfskräfte, bleibt jedoch optimistisch - was nicht zuletzt mit der bewilligten Laufzeit von voraussichtlich acht Jahren zusammenhängt. Das Langzeitprojekt wird mit rund 1,5 Millionen Euro gefördert und kommt damit in die Nähe des Förderungsumfangs eines Sonderforschungsbereichs.

Anlass zu Optimismus geben auch bereits bewährte Programmierungen auf der Basis des Tübinger Systems TUSTEP. Sie machen eine Editions- und Kommentierungsarbeit dieses Umfangs überhaupt erst möglich. Anders als bei früheren Editionen sollen die Texte im neuen Projekt auch für Laien verständlich sein. "Gegenüber vorausgehenden Editionen soll mehr erklärt werden, es gibt ausführliche Erläuterungen und Fußnoten, die die Zusammenhänge verdeutlichen und die Sprachlogik des Mittelalters näher bringen sollen", so Ziegeler. Die Schwierigkeiten der Erschließung bestehen vor allem darin, dass die Texte in insgesamt 70 erhaltenen Handschriften mehrfach überliefert wurden. Sie gehören der Gattung Mären an und basieren inhaltlich meist auf einer Verwechslungsgeschichte, die sich zwischen Ehemann, Ehefrau und Liebhaber abspielt, wobei der Liebhaber im Regelfall der lachende Dritte ist. "Der Leser sollte nicht zu viel Anspruch in den Mären suchen, sondern einfach mitlachen ", erklärt Sappler, "im Grunde sind die Verse als spaßige Unterhaltungsliteratur zu begreifen."

Ein gutes Beispiel ist die Versnovelle "Der Sperber": Ein im Kloster lebendes Mädchen sieht eines Tages vor der Klostermauer einen Ritter mit einem Sperber vorbeireiten und verliebt sich sofort in sein Vögelchen. Der Ritter hingegen ist sehr an dem Mädchen interessiert und verlangt ihre Minne als Gegenleistung für den Vogel. Minne ist ein Begriff aus dem Mittelalter und heute mit der zwischenmenschlichen Liebe gleichzusetzen, steht manchmal aber auch in einem rein erotischen Kontext. Als alles auffliegt, bezieht das Mädchen heftige Prügel von den Nonnen des Klosters. Das bringt sie nicht zur Einsicht, im Gegenteil: Sie will ihre Minne, wiederum durch Minne, beim Ritter zurückholen. Und so nehmen die Prügel der Nonnen kein Ende. "Der Sperber" ist ein typischer Fall in der geplanten Edition: Elffach überliefert, gab es in dieser Erzählung viele grammatikalische, inhaltliche oder auch rein formale Unterschiede, die alle erfasst werden mussten. Mit einer Inhaltszusammenfassung sowie dem Abdruck einer Originalversion plus Erläuterungen erreicht "Der Sperber" jetzt einen mehr als zehnseitigen Eintrag.

Die Geschichten der Mären sind entgegen heutigem Verständnis nicht mit dem erhobenen Zeigefinger geschrieben worden, vielmehr sollten sie mit dem etwas derberen mittelalterlichen Sinn für Humor gelesen werden. International sind sie mit Giovanni Boccaccios Novellen des "Decamerone" oder den "Canterbury Tales" von Geoffrey Chaucer zu vergleichen. Mit dem Projekt wird an eine lange Tübinger Forschungstradition angeknüpft. Sie reicht mit Adelbert von Keller, der für den Beginn der Edition und Übersetzung frühneuzeitlicher Literatur steht und sich zeitlebens auch mit schwäbischer Mundart beschäftigte, bis ins 18. Jahrhundert zurück. Zudem wird durch die Edition auch ein interessanter Zugang für die Lehre geschaffen: Wegen der unbescheidenen Sprache und Pointen der Texte werden sie in Zukunft Verwendung im akademischen Unterricht finden.


*


Quelle:
attempto! 26 - April 2009, Seite 25
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.
(Universitätsbund)
Wilhelmstr. 5, 72074 Tübingen
Redaktion: Michael Seifert (verantwortlich)
Telefon: 07071/29-76789
Telefax: 07071/29-5566
E-Mail: michael.seifert@uni-tuebingen.de
Internet: www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/

attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2009