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FRAGEN/008: Ingo Schulze - Widerstand beginnt mit Wahrnehmung (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 3 vom 14. Februar 2012

Widerstand beginnt mit Wahrnehmung
Die Sächsische Akademie der Künste will sich künftig mehr einmischen.
Schriftsteller und Akademiemitglied Ingo Schulze im UJ-Interview

Gespräch: Michael Ernst


Anlässlich einer Podiumsdiskussion zur Autonomie der Kunst Ende Januar in Dresden hatte die Sächsische Akademie der Künste (SAdK) angekündigt, sich im Lande mehr "einzumischen", um "Impulsgeber und Anreger in Zukunftsfragen zu sein", wie die DNN den SAdK-Präsidenten Peter Gülke zitierte. Bisher hatte die Akademie nämlich der Sächsischen Zeitung zufolge Einfluss auf kulturpolitische Entwicklungen nicht genommen. In einer öffentlichen Veranstaltung der Reihe "Zur Person" am 6. Februar 2012 stellte dann Peter Gülke den Schriftsteller Ingo Schulze, Mitglied der Klasse "Literatur und Sprachpflege" der Sächsischen Akademie der Künste, und dessen derzeit viel diskutierte - eingreifende - Auffassungen vor. Zuvor hatte das Universitätsjournal Gelegenheit für ein Interview mit dem aus Dresden stammenden Schriftsteller.


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Der in Dresden geborene Autor Ingo Schulze mischt sich ein. Nicht nur mit seinen literarischen Texten ("Simple Storys", "Adam und Evelyn"), den gesammelten Reden und Essays ("Was wollen wir?"), sondern auch mit öffentlichen Auftritten und jüngst mal wieder einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung. Er nimmt darin Stellung gegen fortschreitenden Demokratieabbau. Seine Polemik war Anlass zu folgendem Interview mit dem in Berlin lebenden Schriftsteller, der seine Geburtsstadt schon bald mit einem Beitrag zu den "Dresdner Reden" beehrt.


UJ: Ihr Statement (Süddeutsche Zeitung vom 12. Januar) fügt sich ein in die Kapitalismuskritik etwa von Stéphane Hessel, der ein "Empört Euch" als Aufforderung zu "Engagiert Euch" verstanden haben will. Sind Ihre Thesen im Blatt, wird Ihre Dresdner Rede am 26. Februar eine solche Form von Engagement und Widerstand?

INGO SCHULZE: Ich habe das Glück, dass ich ab und zu nach meiner Meinung gefragt werde, und dann hisse ich halt meine Flagge. Wie man die Dinge benennt, wie man Wirklichkeit darstellt, hat Einfluss auf unser Handeln. Das ist im Alltag so wie im Roman oder im Gedicht. Den Satz von Peter Weiss, dass Widerstand mit Wahrnehmung beginnt, kann man gar nicht oft genug wiederholen.

UJ: Nicht zuletzt aufgrund Ihrer Sozialisation hätten Sie wissen müssen, dass es im Kapitalismus um ein zunehmendes Auseinanderdriften von Arm und Reich geht. Dass dafür keine Demokratie gebraucht wird, dürfte Sie nicht überrascht haben?

INGO SCHULZE: Doch, das hat mich überrascht. Denn das, was ich in der DDR über den Kapitalismus gehört habe, ging mich damals nichts an, es war so ein vormundschaftliches Wissen, das ich ablehnte. Es stand für mich a priori unter Verdacht, falsch zu sein, weil es die Mauer gab, mir also nicht zugebilligt wurde, dass ich mir selbst ein Urteil bilde. Als ich in dem Roman "Neue Leben" dann Zitate aus meinem Staatsbürgerkundehefter der 9. Klasse einbaute - das hatte ich im Herbst 1977 von der Tafel abgeschrieben oder diktiert bekommen - erschien mir das brennend aktuell. Damals war es einfach nur lästig. Zudem ist der Westen heute ein anderer als vor 1989, zumindest gab es vorher noch eine andere Teilhabe am Reichtum in den westeuropäischen Ländern, obwohl es auch damals schon auf Kosten der sogenannten Dritten Welt ging. Es gab soziale Standards, die enorm waren. Von heute aus wirkt dies schon paradiesisch.

UJ: Die derzeit sehr "freche" Ökonomisierung aller Lebensbereiche, für deren soziale Absicherung bislang ausreichend Steuern erhoben worden sind, die offenbar zweckentfremdet werden, ist manchen Kritikern zufolge nur machbar, weil kein Gegenmodell mehr vorhanden ist. Teilen Sie diese Auffassung?

INGO SCHULZE: Das Gegenmodell besteht in der Forderung, die Ungerechtigkeit in der Verteilung von Arbeit und Entlohnung zu bekämpfen. Unser Alltag hat einen doppelten Boden. Es gibt beispielsweise eine Sorte von Agrarsubventionen, die vor allem zur Folge haben, dass in anderen Weltgegenden - zum Beispiel in Lateinamerika - enorme Umweltschäden entstehen und in vielen Ländern Afrikas der einheimische Markt keine Chance hat, weil europäische Produkte die Anbieter vor Ort unterbieten, weshalb die Bauern aufgeben müssen - mit den bekannten Folgen. Oder denken Sie an die Spekulation mit sogenannten nachwachsenden Rohstoffen, was den Tod von Hunderttausenden bedeutet. Es fehlt der politische Wille, das zu ändern. Genauer gesagt: Wir wählen Politiker, denen Menschenleben in anderen Weltgegenden nicht so wichtig sind wie die ökonomischen Interessen ihrer Klientel.

UJ: Die deutsche Bevölkerung (anderswo in Europa gäbe es ähnliche Beispiele) wird derzeit flächendeckend "zugewulfft" - ist das Ihrer Meinung nach noch ablenkende Beeinflussung mit Absicht oder schlicht schon pure Gewohnheit?

INGO SCHULZE: Die Frage für mich ist eher, wie wird über etwas berichtet. Die Präsentation der Börsendaten des Tages ist für mich so ein Fall. Es wird präsentiert wie das Wetter, nur meistens witziger, sprachgewandter. Was aber bedeutet es, wenn dieser Kurs steigt, jener fällt. Das wäre interessant. Es ginge darum, die Folgen von Entscheidungen klarzumachen. Und wenn das nicht passiert, bleibt es zweitrangig, worüber berichtet wird. Die Affäre um den Bundespräsidenten illustriert nur ziemlich gut, auf welch simplem Niveau man sich die Einflussnahme auf Politiker vorstellen muss. Wie leicht muss es ein intelligenter Lobbyist haben.

UJ: Die Intellektuellen schweigen, lautet einer Ihrer Vorwürfe. Sie und wenige andere dürften als Gegenbeispiele gelten. Glauben Sie, dass dies ausreicht und überhaupt noch Gehör findet?

INGO SCHULZE: Das wird sich zeigen. Als vor einem Jahr in Berlin das Volksbegehren stattfand, das sich für eine Rekommunalisierung der Wasserbetriebe einsetzte, glaubten nicht mal die Initiatoren an einen Erfolg, weil sie kein Geld hatten und die Medien sie praktisch nicht beachteten, und dann war es der erste Volksentscheid, der im Sinne der Organisatoren glückte. Selbst der damalige rot-rote Senat war dagegen. Die demokratisch gewählten Volksvertreter mussten sozusagen zu ihrer Arbeit getragen werden.

UJ: Warum sind privatisierte Gewinne und sozialisierte Verluste etwas derart Selbstverständliches geworden, obwohl dieser Zustand doch eigentlich Ausdruck einer völlig absurden Situation ist?

INGO SCHULZE: Ja. Aber wenn mir das täglich als Naturnotwendigkeit vorgeführt wird, wenn eine Verkäuferin im Supermarkt sagt, wie richtig sie ihre Lohnkürzung findet, weil das ihr Unternehmen wettbewerbsfähig mache - diese Internalisierung von Ausbeutung ist ziemlich verbreitet. Und das liegt hauptsächlich an den Medien.

UJ: Wagen Sie eine Antwort auf Ihre eigene Frage: Warum musste Angela Merkel nicht zurücktreten, als sie von "marktkonformer Demokratie" sprach?

INGO SCHULZE: Es hat kaum jemand bemerkt, es wurde in keiner Zeitung, keiner Talkshow aufgegriffen, es kam meines Wissens durch ein paar Publikationen im Internet - zum Beispiel auf www.nachdenkenseiten.de. Ich musste auch erst darauf aufmerksam gemacht werden. Wenn Angela Merkel nicht in der Öffentlichkeit mit ihrer Aussage konfrontiert wird, wenn sie nicht gezwungen wird, sich zu rechtfertigen, wenn es in der Öffentlichkeit nicht mal als Fehler bezeichnet wird, warum sollte sie dann zurücktreten? An dieser entscheidenden Stelle nachzuhaken, wäre eines Journalisten würdig gewesen.

UJ: Sie geben dem Gemeinwesen die Schuld dafür, dass seine Interessen nicht vertreten werden - und das in einem Staat, der sich vor gut zwanzig Jahren durch öffentlichen Widerstand grundlegend veränderte. Sind die Hungernden schon wieder zu satt? Oder zu sehr mit dem Hunger beschäftigt?

INGO SCHULZE: Das kann man nicht mit ein paar Sätzen beantworten. Es hat aber auch mit dem Weltenwechsel von 1989/90 zu tun, mit dem Wechsel von Selbstverständlichkeiten. Es gab genug Rechte einzuklagen, und das ist ja zum Glück gelungen. Aber zumindest ein wichtiges Recht ist uns dabei abhanden gekommen, das Recht auf Arbeit. Wenn es uns Deutschen gelungen wäre, beide Länder tatsächlich zu vereinigen, statt dass man nur den Osten beitreten ließ, hätte der Westen die Chance gehabt, auch über sich nachzudenken. So gab es nur Bestärkung, weiter so. Und was unter Reagan und Thatcher begonnen hatte, eben jene Privatisierung aller Lebensbereiche, bekam durch die Globalisierung einen Schub, der praktisch jeder Lebensäußerung nun einen Wettbewerbscharakter verleiht. Das hat eine ungeheure Vereinzelung zur Folge, man empfindet sich gar nicht mehr als Teil des Gemeinwesens.


Ingo Schulze ist Mitglied der Klasse "Literatur und Sprachpflege" der Sächsischen Akademie der Künste. Zu Schulzes Veröffentlichungen, weiteren Akademiemitgliedschaften sowie seinen Auszeichnungen hier: http://www.sadk.de/i_schulze.html


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 23. Jg., Nr. 3 vom 14.02.2012, S. 6
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2012