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FRAGEN/001: Johano Strasser im Gespräch mit Günter Grass (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2007

"Als wir noch Götter waren im Mai"

Johano Strasser im Gespräch mit Günter Grass


Johano Strasser, der Vorsitzende des deutschen PEN-Clubs, hat im Frühjahr 2007 seine Autobiografie vorgelegt. Zusammen mit Günter Grass stellte er das Buch am 21. März in Hamburg vor. Wir dokumentieren Auszüge aus diesem Gespräch.


GÜNTER GRASS: Ich habe das Buch in den Fahnen gelesen, es ist ein anrührendes, ein informierendes Buch, das neben dem Lebenslauf des Autors auch die Geschichte der Bundesrepublik miterzählt. Geboren in Holland, aus einer Esperanto sprechenden Familie - daher der Vorname "Johano" -, wächst der Autor in der Nähe von Rotenburg an der Wümme auf. Am Anfang des Buches stehen zwei einfühlsame Porträts der Eltern: die Mutter eine protestantische Ausgabe der "jiddischen Mamme", der Vater ein romantischer Rationalist. Von deinen politischen und gesellschaftlichen Prägungen, in der Art und Weise, wie du auf gesellschaftliche Fragen reagierst, hast du vieles von daher übernommen.

JOHANO STRASSER: Ja. Von meiner Mutter blieb die Forderung hängen: "Wenn ihr irgendwo Unrecht seht, müsst ihr den Mund aufmachen, und wenn es ganz schlimm kommt, dann haue ich Euch raus." Das war die Grundregel, mit der wir ins Leben und in die Schule geschickt wurden. Diese Prägung, dass man den Mund aufmachen muss und dafür verantwortlich ist, die Dinge nicht einfach geschehen zu lassen, habe ich, wie ich glaube, sehr stark von meiner Mutter übernommen.

G.G.: Du hast dein Studium selbst finanziert, hast gearbeitet in einem Betonwerk, auf dem Bau, in Köln bei FORD und bei MAGIRUS in Mainz. Du hast also früh Umgang mit Arbeitern und Kenntnis von Arbeitsbedingungen gehabt. Inwieweit hat das Einfluss auf dein späteres Tun gehabt? Du bist ja nach relativ kurzer Zeit in die SPD eingetreten und warst bei den Jusos tätig, von denen viele, oft die radikalsten, aus mittelständischen, ziemlich begüterten Haushalten kamen und sich deshalb diese Radikalität leisten konnten.

J.S.: Sie konnten sich diese Radikalität leisten und brauchten sie auch, weil sie sich der Avantgarderolle nicht sicher sein konnten. Wenn man aus einem privilegierten Haus kam, wie die meisten, musste man ständig beweisen, wie links man war. Daher diese Übertrumpfungsdynamik in vielen Diskussionen. Als ich 1967 in die SPD eintrat, habe ich einen verhängnisvollen Fehler gemacht: In der ersten Sitzung des Ortsvereins habe ich bei dem Vorsitzenden beantragt, dass erst einmal über die Notstandsgesetzgebung diskutiert werden müsse. Da hat er gesagt, da haben wir uns schon eine Meinung zu gebildet, das diskutieren wir jetzt nicht. Ich habe aber nicht locker gelassen, und als er mich schließlich abwürgen wollte, ist mir rausgerutscht, was damals vielen rausgerutscht ist: "Faschistoide Methode". Damit lag ich bei ihm nun völlig falsch. Der Mann war in der Nazizeit im Widerstand gewesen, er sagte: Was weißt du schon vom Faschismus? Alle rundherum schwiegen und ich war völlig draußen. Da habe ich gemerkt, du hast danebengegriffen, und bin dann hingegangen und habe mich entschuldigt. Da hat er mir etwas gesagt, was damals sehr wichtig war - ein Großteil der 68er waren ja Hyperliberale, die Selbstverwirklichung usw. suchten -, er hat gesagt: Freiheit ohne Solidarität ist nichts wert. Das habe ich mir dann überlegt, und der Mann hatte ja im Prinzip Recht. Wenn Freiheit universelle Freiheit heißt und nicht Privileg für diejenigen, die die besseren Voraussetzungen haben oder zufällig ein günstiges Los gezogen haben, dann muss man die Bedingungen dafür schaffen, dass alle Menschen von ihren Freiheitsrechten konkreten Gebrauch machen können. Das war die Lebenserfahrung dieser Leute. Und mir hat es gut getan, dass ich in einen richtigen Arbeiter-Ortsverein reinkam und mit dem Realitätsprinzip konfrontiert wurde. Es hat mich davor bewahrt, in die möglichen Extreme abzuwandern.

G.G.: Mehrfach lässt sich in deinem Buch beobachten, dass du die Zeit der Resolutionen, Aufrufe und Sit-ins kritisch betrachtest. An einer Stelle schreibst du, dass dir die Schamröte ins Gesicht steigt, wenn du Flugblätter und Verlautbarungen, die du damals unterschrieben oder selbst verfasst hast, heute wieder liest.

J.S.: Es gab eine Klischeesprache des Protests. Bei gewissen Gelegenheiten kamen immer die Klischees. Das ist mir, je länger es ging, immer unangenehmer gewesen, zwischendurch habe ich gedacht, was machst du eigentlich hier? Das war das Eine. Und das Andere war die unglaubliche Selbstüberforderung, die damals verbreitet war, die Vorstellung, für die Lösung aller Weltprobleme zuständig zu sein. So etwas kann natürlich nicht funktionieren.

G.G.: Ich war 1967 vierzig Jahre alt und hatte im Grunde eine Sympathie für das Ganze. Nichts war ja dringlicher und notwendiger als ein gesellschaftspolitisches Engagement der jungen Generation. Es gab zu dieser Zeit ja eine völlige Windstille an den deutschen Universitäten. Und ich glaube, dass der Studentenprotest viel in der deutschen Gesellschaft verändert hat, auch im positiven Sinne. Ist das für dich der Grund gewesen, im Sommer '67, also zu einem sehr frühen Zeitpunkt, in die SPD einzutreten?

J.S.: Ja, das war ganz sicher ein Grund. Ich stellte zunehmend fest, dass es, ganz unabhängig von den vielen Spaltungen und unterschiedlichen theoretischen Orientierungen, viele Jüngere gab, die wirklich etwas verändern wollten, dabei sicherlich auch Fehler machten. Und es gab diejenigen, die vor allem Identitätssucher waren; die debattierten und so lange draufsattelten, bis keine Möglichkeit mehr vorhanden war, irgend etwas praktisch zu unternehmen. Ich glaube, diese Differenz, die bei allen neuen sozialen Bewegungen wieder hochkommt und die auch bei den GRÜNEN eine große Rolle gespielt hat, war sehr entscheidend. Dennoch meine ich, dass der antiautoritäre Impuls dem Land gut getan hat. Es war in den 50er Jahren völlig unüblich, dass man widersprach, wenn einem etwas nicht gefiel. Es war sogar unüblich, in den Parteien und Gewerkschaften Gegenkandidaten aufzustellen. Die einfachsten, geläufigsten demokratischen Dinge waren nicht bekannt oder wurden nicht praktiziert. Und diese Bewegung - davon bin ich fest überzeugt - hatte einen wesentlichen Anteil daran, dass aus diesem Deutschland eine halbwegs normale westliche Demokratie wurde. Das sollte man bei all den merkwürdigen Nebenerscheinungen nicht in Abrede stellen.

G.G.: Du warst damals bei den Jungsozialisten tätig, ich machte 'Die Sozialdemokratische Initiative', und es herrschte eine gewisse Distanz zwischen meinem Pragmatismus und dem, was die Jusos vorhatten, obgleich die Ziele gar nicht so weit auseinander lagen. Damals habe ich dich gefragt, wie eigentlich das Kulturverständnis der Jungsozialisten aussieht. Das hat dich in Verlegenheit gebracht...

J.S.: Ich dachte, ich höre nicht richtig. Es gab auf unserer Seite natürlich nichts, und ich habe die weiße Flagge gehisst. Das war wieder so ein Punkt, wo ich ins Nachdenken kam. Wenn man sich die Geschichte von Emanzipationsbewegungen anschaut, erkennt man, dass es immer auch Kulturbewegungen waren. Die Verengung des Kulturverständnisses auf reine Theorie ergab natürlich keine kulturell tragfähige Basis.

G.G.: Ein Kapitel deines Buches hat die Überschrift "Politik nicht den Politikern überlassen". Das war 1969 ein Slogan der Jusos, und von da an bist du all die Jahre und Jahrzehnte hindurch immer im Verhältnis zu den Sozialdemokraten tätig gewesen, oft an der Grenze des Existenzminimums. Dennoch hast du nie ein Parteiamt angestrebt, und es ist dir auch nie eines angetragen worden. Das ist sehr typisch für dich, sicher eine Erbschaft deines Vaters, aber es hat dich - aus meiner Sicht - auch vor vielem bewahrt.

J.S.: Ja, das sage ich mir jetzt auch. Zweimal ist mir ein Bundestagswahlkreis angeboten worden. Einmal sollte ich gegen Rainer Barzel antreten, in Paderborn, ein richtiger Kamikaze-Auftrag, nicht wahr? Da war es leicht, 'nein' zu sagen. Das andere Mal war es ein sicherer SPD-Wahlkreis in Wiesbaden. Beide Male habe ich nach kurzem Überlegen nein gesagt und bin im Nachhinein froh darüber. Mich hat immer die programmatische Seite am meisten interessiert, und ich bin fest davon überzeugt, dass Demokratie nur funktionieren kann, wenn es auch diese Liberos gibt, die durch kulturelle Intervention Entscheidungen mit vorbereiten. Nicht alles kann über professionelle Politik laufen, die Demokratie lebt davon, dass sich auch der 'citoyen', nicht nur der Profi des Politikbetriebs, in die Arena begibt. Das sehe ich im Nachhinein als großes Glück. Wahrscheinlich wäre ich auch kein besonders guter Abgeordneter geworden, weil man da so viele Dinge machen muss, bei denen ich wahrscheinlich immer gedacht hätte: Ist das nun dein Leben? Es gibt ja den faulen Abgeordneten nicht mehr, die Betriebsamkeit ist ungeheuer groß, die müssen überall Rechenschaft ablegen, müssen jedes Feuerwehrhaus einweihen und sind jeden Abend weg. Das hätte mir sicherlich nicht behagt.

G.G.: Wir haben 1968 nicht nur als Jahr des Studentenprotests erlebt, sondern auch als das Jahr, in dem der demokratische Sozialismus durch die sowjetischen Panzer niedergewalzt wurde. Als Reaktion darauf haben wir - gemeinsam mit Heinrich Böll und Carola Stern - eine Zeitschrift gegründet, die 1976 endlich herauskam und den Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei und anderen Ostblock-Ländern ein Forum bieten sollte. Kannst du etwas über die Redaktionsarbeit erzählen, weil das doch eine sehr wichtige Phase gewesen ist und dieses L'80, Wie wir es dann bei der Neugründung genannt haben, auch als Schmuggelware in der DDR eine ziemliche Rolle gespielt hat.

J.S.: Was die Zeitschrift auszeichnete, war, dass darin auf der einen Seite politische Beiträge enthalten waren, auf der anderen Seite Lyrik, Prosa, Vorabdrucke aus Theaterstücken usw. Es war diese besondere Kombination. Ungewöhnlich besonders für die Linke war, dass eigentlich alle Dissidenten des Ostblocks dort schrieben: Václav Havel, Lev Kopelev und die vielen bekannten und auch weniger bekannten Dissidenten aus der DDR. Diese Zeitschrift hat so etwas wie Europa als Ganzes wiederhergestellt, jedenfalls auf dem Papier, noch bevor jemand daran dachte, dass es zu einer politischen Wiedervereinigung Europas kommen könnte. Die Arbeit war sehr schön und sehr strapaziös, das gehört ja häufig zusammen. Und der Redaktionssitz in der Niedstraße 13 in Berlin-Friedenau war auch eine Anlaufstätte für Schriftsteller. Jeder, der aus dem Ostblock eine Ausreisegenehmigung hatte, kam prompt in die Niedstraße. Es war eine sehr intensive Zeit, und das Merkwürdige ist, dass man sich im Rückblick gar nicht richtig vorstellt, dass wir auch wahnsinnigen Spaß gehabt und unglaublich viel gearbeitet haben.

G.G.: Ich habe im letzten Jahr selber etwas Autobiografisches geschrieben, das hatte ein ziemliches Echo, wie alle wissen. Bei deinem Buch geht es ruhiger und sachlicher zu, ich beneide dich darum. Ich habe lange gezögert, eine Autobiografie zu schreiben, denn ich bin misstrauisch gegenüber der Form, auch gegenüber dem eigenen Erinnerungsvermögen. Deshalb die Frage: Was hat dich dazu gebracht, autobiografisch zu schreiben?

J.S.: Der Verleger, der ein Charismatiker ist und dem man praktisch nicht widerstehen kann, kam zu mir. Ich habe trotzdem zu widerstehen versucht, denn da, wo ich aufgewachsen bin, in Holland und in Norddeutschland, hielt man sich immer bedeckt beim 'Über-sich-selbst'-Reden. Aber er hat zu mir gesagt, es wäre doch nützlich darzustellen, wie man zu seinen politischen Auffassungen kommt, nämlich nicht durch Lektüre usw., sondern dass sie tiefer gegründet sind und mit Erfahrungen, Lebenserfahrungen, existenziellen Fragen zu tun haben. Und dann habe ich es eben geschrieben.

G.G.: Es ist ein wichtiges Buch. Es berichtet von Zeiten, in denen es notwendig war, junge Menschen dazu zu bringen, sich politisch zu engagieren, überhaupt Bürger oder Citoyen zu sein in einem Staat. Aber wenn wir jetzt auch fast nur über Politik gesprochen haben, so vergesse ich doch nicht, dass Johano Strasser auch ein wunderbarer literarischer Autor ist. In vielen Passagen des Buches, wenn er sich zum Beispiel in Landschaften verliert, kommt dieser literarische Schriftsteller zum Vorschein. Das wollte ich zum Schluss noch sagen.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2007, S. 61-64
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2007