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HINTERGRUND/188: Bildungsarmut im reichen Deutschland


die zeitung - terre des hommes, 01/2012

Bildungsarmut im reichen Deutschland
Wie die Zukunftschancen von Kindern verbessert werden können

von Albert Recknagel



»Ich wurde ins kalte Wasser geworfen, denn ich konnte damals kein Wort Deutsch«, sagt die heute 22-jährige Seijla. Im Jahre 1996 kam sie mit ihren Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Weiden in Deutschland. Zuhause wurde nur serbisch gesprochen. Auch bei der Eingliederung in das deutsche Schulsystem konnten ihr die Eltern nicht helfen. Trotzdem schaffte sie es. Heute studiert sie Wirtschaftsrecht an der Universität Hof. Hilfe und Unterstützung erhielt sie damals durch den Arbeitskreis Asyl e.V. in Weiden (siehe unten: "Arbeitskreis Asyl in Weiden").

Seijla hatte Glück: Viele Kinder wachsen in schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen auf, ihre Familien sind oft Flüchtlinge oder Migranten, die Eltern arbeitslos und sozial ausgegrenzt. Experten sprechen in diesem Fall von einem erhöhten Armutsrisiko. Was sich dahinter verbirgt, zeigen neuste Untersuchungen: Fast die Hälfte aller Familien mit Migrationshintergrund leben unterhalb der Armutsgrenze, bei kinderreichen Familien sind es sogar mehr als die Hälfte. Laut Statistischem Bundesamt ist die Kinderarmutsquote in Deutschland allein von 2009 auf 2010 von 15 auf 17,5 Prozent gestiegen.


Fördermöglichkeiten ausbauen!

Armut ist der Hauptgrund für geringe Bildungschancen. Von 100 Kindern, die einen Kindergarten besuchten und deren Eltern als arm gelten, schaffen nur vier den Sprung von der Grundschule zum Gymnasium, in wohlhabenderen Schichten sind es hingegen 30 Kinder. Die Bildungsmisere ist somit nicht das Ergebnis mangelnden Fleißes oder fehlender Leistungsbereitschaft, sondern Folge mangelnder Chancen. Mangelhafte Deutschkenntnisse sind gerade bei Migrantenkindern ein entscheidendes Problem.Offenbar kann das deutsche Bildungssystem die herkunftsbezogenen Unterschiede nicht ausgleichen, weil es an Sprach- und Integrationsförderung fehlt. Beispiele wie das von terre des hommes geförderte Projekt des Arbeitskreises Asyl in Weiden belegen, dass individuelle Hilfsangebote die Bildungschancen von Kindern aus sozial schwachen Schichten erheblich verbessern.

Um die Defizite im deutschen Bildungssystem zu beheben, muss bereits bei der Förderung und Betreuung von Kleinkindern angesetzt werden. Angebote zur kostenlosen Früherziehung sind ein weiterer Aspekt. Untersuchungen zeigen, dass insbesondere Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien mit Migrationshintergrund vom Besuch guter Kindertagesstätten profitieren. Ergänzt werden müssen diese Angebote durch eine gezielte Sprachförderung, Reformen beim bestehenden schulischen Einstufungssystem, den Wegfall von Studiengebühren sowie die Ausweitung der BaFöG-Förderung für Studenten aus einkommensschwachen Familien. Es geht um eine nachhaltige Gesellschaftspolitik, deren Ziel es sein muss, einen möglichst hohen Grad an Bildungsbeteiligung für alle sozialen Schichten zu erreichen. Hier hat Deutschland einen klaren Nachholbedarf.

Der Aktionsrat Bildung der »Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft« hat errechnet, dass unsere Bildungsausgaben um 25 Prozent steigen müssten, um diese Ziele zu erreichen. Projekte wie der Arbeitskreis Asyl in Weiden leisten auf lokaler Ebene einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Bildungschancen. Deshalb unterstützt terre des hommes dieses und ähnliche Projekte für besonders benachteiligte Kinder in Deutschland. Es ist aber Aufgabe der Politik, solche Pilotprojekte landesweit anzubieten und zu fördern.

Albert Recknagel, Leiter des Referates Kinderrechte bei terre des hommes

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Arbeitskreis Asyl in Weiden

Der 1985 von den beiden terre des hommes-Aktivisten Ursula und Jost Hess gegründete Arbeitskreis Asyl Weiden e.V. ist die Anlaufstelle für Kinder von Flüchtlingen, Asylsuchenden, Aussiedlern, Migranten und Alleinerziehenden. Dort erhalten sie Hilfe und Unterstützung durch ein derzeit 29-köpfiges Betreuungsteam, das sich jeden Tag um 210 Kinder und Jugendliche kümmert. 130 Kinder erhalten mittags auch eine warme Mahlzeit.

Bildung und die Vermittlung von Sprachkompetenz sind der Schlüssel zur Integration, so die Philosophie des Arbeitskreises Asyl. Mit diesem Konzept und einer individuell abgestimmten Hausaufgabenhilfe wurde erreicht, dass keines der betreuten Kinder ein Schuljahr wiederholen musste oder auf eine Förderschule überwiesen wurde. Auch der Anteil der Schulabbrecher ist nicht höher als bei deutschstämmigen Kindern. Unterstützung erfahren die Kinder auch bei der Lösung familiärer Problemen. Hier werden auch die Eltern einbezogen. Und auch an Abwechslung fehlt es den Kindern nicht. Gemeinsame Schwimmbadbesuche, Ferienlager, Radausflüge oder Kinobesuche gehören deshalb ebenfalls zum Angebot für die Kinder.

Der Arbeitskreis Asyl e.V. wird von terre des hommes im Jahre 2012 mit 10.200 Euro unterstützt.

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Quelle:
die zeitung, 01/2012, S. 6
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de
 
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Der Verkaufspreis wird durch Spenden abgegolten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2012