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HINTERGRUND/173: Haiti - Leben mit der Katastrophe - Wiederaufbau in einem zerstörten Land


die zeitung - terre des hommes, I. Quartal 2011

Leben mit der Katastrophe
Haiti: Wiederaufbau in einem zerstörten Land

Von Athanasios Melissis (a.melissis@tdh.de)


Am 12. Januar 2010 erschütterte ein verheerendes Erdbeben den Karibikstaat Haiti. Etwa 230.000 Menschen starben, weitere 300.000 wurden verletzt und 1,2 Millionen obdachlos. Schnell nach dem Beben leitete die internationale Staatengemeinschaft Hilfsmaßnahmen in die Wege, auf der ganzen Welt spendeten Menschen und drückten auf diese Weise ihre Solidarität und Anteilnahme für die Opfer aus. Doch mehr als ein Jahr nach der Katastrophe sind noch immer die Trümmer nicht weggeräumt, es gibt nur wenig funktionierende Infrastruktur, und im Land tobt eine Cholera-Epidemie. Auch wenn sich in den letzten Monaten viel getan hat - viel mehr bleibt noch zu tun.


»Ich war zu Hause, als das Erdbeben kam, und meine Mutter auch. Unser Haus war aus Stein mit einem Dach aus Wellblech«, erzählt die sechsjährige Sheila. »Meine Mutter hatte ein Baby von einer Nachbarin im Arm. Sie hat am Nachmittag immer darauf aufgepasst. Als die Erde wackelte, rannten wir los, und das Haus fiel über mir zusammen. Wir fielen beide hin. Meine Mutter weinte, weil sie glaubte, ich sei tot. Doch ich habe mich bloß ein bisschen an der Hand verletzt. Aber ich habe danach furchtbare Kopfschmerzen bekommen, viele Tage lang. Und Fieber.«

Sheila und ihre Familie hatten Glück im Unglück. Zwar verloren sie alles, was sie besaßen, doch schwer verletzt wurden sie nicht. Die Mitarbeiter der Organisation Uramel versorgten das verletzte und kranke Mädchen. Uramel ist seit vielen Jahren in Haiti im Gesundheitssektor tätig. Nach dem Beben reagierte die von terre des hommes unterstützte Organisation schnell. In einer Klinik wurde erste medizinische Versorgung gewährleistet, im Umfeld größerer provisorischer Zeltstädte entstanden mehrere Gesundheitsstationen. Zusätzlich wurden mobile Teams mit Ärzten, Krankenschwestern und Apothekern gebildet, die an wechselnden Standorten in den Camps arbeiten. Auch mehr als ein Jahr nach der Katastrophe stellen sie die medizinische Grundversorgung der Erdbebenopfer sicher.


Trümmer noch nicht weggeräumt

Wer heute in die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince kommt, wird immer noch ganze Stadtviertel in Trümmern sehen. Nur wenig ist weggeräumt. Viele Menschen stellen sich die Frage, warum der Neuaufbau so schleppend vorangeht und ob die internationale Hilfe überhaupt ankommt. Doch derzeit hat das Land keine funktionierende Verwaltung und keine Regierung, die den Wiederaufbau entschlossen vorantreiben könnte. Die Korruption ist immens. Hilfsgüter lagern oft wochenlang im Hafen, wenn die Hafenbehörden versuchen, Bestechungsgelder zu bekommen. Sind die Hilfsgüter endlich an Land, werden Baumaßnahmen oft durch eine quälend ineffektive Bürokratie verschleppt. Hilfsorganisationen haben darauf nur wenig Einfluss. Dazu kommt, dass viele Staaten direkt nach dem Beben zwar hohe Summen versprochen, aber ihre Zusagen bisher nicht eingehalten haben - Geld, das der Karibikstaat bitter nötig hätte: Haiti ist seit Jahrzehnten das ärmste Land Lateinamerikas und von internationaler Hilfe abhängig. Auch vor dem Erdbeben lag das staatliche Gesundheitssystem am Boden und reichte bei weitem nicht aus, um die Bevölkerung zu versorgen. In den Jahren 1990 bis 2000 betrug der Anteil des Staates am Gesundheitssystem 0,7 Prozent des BIP. Zum Vergleich: In Deutschland sind es etwa 10,5 Prozent, in Mexiko etwa sechs Prozent (Quelle: OECD). Die Lebenserwartung der Haitianer sank in dieser Zeit von 55 auf 51 Jahre. Durch das Beben haben sich die Bedingungen noch verschärft. Dass sich ein marodes System innerhalb von 14 Monaten nicht grundlegend reformieren lässt - insbesondere in einer Notsituation - scheint verständlich. Führt man sich vor Augen, dass Hamburg und Berlin, die 1945 in Trümmern lagen, selbst mit Rückendeckung durch Marshallplan und schnellen Wirtschaftsaufschwung noch Jahre später Spuren des Krieges aufwiesen, lässt sich verstehen, dass auch der Wiederaufbau Haitis lange Zeit brauchen wird. Edmond Mulet, Chef der UN-Mission »MINUSTAH« in Haiti, schätzt sogar, dass es bis zu 100 Jahre dauern könne. Er meint damit nicht die Rekonstruktion der Verhältnisse von vor dem Erdbeben, wo die Mehrheit der Haitianer unter Armut, Korruption und einem unfähigen Staatswesen litt, sondern den Aufbau einer Gesellschaft, in der Menschen die Chance auf ein Leben in Würde haben.


Hilfe im Epizentrum

Das Epizentrum des Bebens lag südwestlich von Port-au-Prince. Die Provinzstadt Leogane, 30 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Viele Menschen flohen von hier und aus Port-au-Prince weiter nach Westen, wo die Verwüstung nicht so stark war. Die Schweizer terre des hommes-Schwesterorganisation aus Lausanne arbeitet seit vielen Jahren in der Stadt Les Cayes auf der südwestlichen Halbinsel, wo sie ein Krankenhaus betreibt. Direkt nach dem Beben wurden die ersten Opfer mit Medikamenten, Trinkwasser und Lebensmitteln versorgt. Kurze Zeit später begann terre des hommes in Leogane sowie in den Gemeinden Petit und Grand Goave mit der humanitären Hilfe. Decken, Medikamente, Versorgung von Verletzten waren die Priorität der ersten Wochen. Zelte, Baumaterial und Matratzen für Notunterkünfte wurden verteilt. Um Infektionen vorzubeugen, erhielten Familien Lebensmittel, Moskitonetze und Seife. Inzwischen werden die Zelte nach und nach durch stabilere Übergangsunterkünfte ersetzt, die den Bewohnern für mehrere Jahre als Zuhause dienen können. terre des hommes Lausanne und die Organisation Uramel haben mit ihren Maßnahmen innerhalb eines Jahres etwa 125.000 Menschen erreicht.


Choleraprävention und Kinderschutz

Neben der Versorgung der Bevölkerung mit dem Allernötigsten liegt ein Schwerpunkt der Arbeit von terre des hommes auf dem Kinderschutz. Viele Kinder in Haiti lebten schon vor dem Erdbeben in dramatischen Verhältnissen. Das Beben hat die Situation weiter verschärft. Viele Kinder wurden von ihren Eltern getrennt und litten in der Folge auf der Straße, in Notlagern oder bei Angehörigen unter Gewalt, fehlender Hygiene und Mangel an gesundheitlicher Betreuung. In diesem Umfeld wuchs für die Kinder die Gefahr, Opfer sexuellen Missbrauchs oder Kinderhandels zu werden. terre des hommes Lausanne hat neun Schutzzentren für bedürftige sechs- bis zwölfjährige Kinder eingerichtet. Etwa 2.600 Kinder sind hier registriert und werden täglich durch geschultes Personal betreut, beispielsweise mit gemeinschaftlichen Freizeitaktivitäten wie Spiel und Sport. Die Kinder kommen nach der Schule ins Zentrum und verbringen ihre Freizeit in einem sicheren Raum. Sie tauschen sich mit den Betreuern aus und arbeiten ihre Ängste auf. Mitarbeiter gehen bei Problemen in die Familien, suchen gemeinsam mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen nach Lösungen und bieten erzieherische Unterstützung.

Mehrere Monate nach dem Erdbeben brach in Haiti die Cholera aus. Sie stellt die Menschen des gebeutelten Landes vor große Probleme. Die Choleraprävention ist inzwischen ein wichtiger Teil der Hilfsmaßnahmen. Die Familien infizierter Personen werden versorgt: Mobile Teams besuchen die Angehörigen, informieren die Familienmitglieder, desinfizieren Wasserstellen und Häuser. Zudem untersuchen sie Wasserversorgungsstellen auf Cholera-Erreger. Aufklärung durch Kampagnen und Schulungen zum Thema Cholera werden insbesondere für Gemeindevorstände abgehalten. terre des hommes hat in vielen Waisenhäusern das Personal fortgebildet. Außerdem wurden Seifen, Chlortabletten und Eimer zur Wasseraufbewahrung verteilt.


Zurück ins Leben

Wieder zurück in der Hauptstadt Port-au-Prince. Auf dem Hinterhof der Räumlichkeiten von Uramel steht ein ausrangierter, umgebauter Bus. Therapeuten kümmern sich hier um die traumatisierten Kinder und helfen ihnen dabei, ihr Erlebtes zu verarbeiten und sich wieder im Leben zurechtzufinden. Mit sinnvoller Beschäftigung oder Gesprächsmöglichkeiten, in Gruppen und in Individualtherapie. Ein Dutzend Kinder sitzt im Bus, sie malen. Die Katastrophe ist dabei immer präsent. »Wenn viele Kinder im Bus hüpfen, so dass er anfängt zu schaukeln, dann habe ich Angst«, sagt Sheila. »Obwohl ich eigentlich weiß, dass das bloß der Bus ist und nicht schon wieder ein Erdbeben.« Auch sie hat ein Blatt Papier und Buntstifte vor sich. »Vor dem Erdbeben habe ich immer gerne gemalt«, erzählt das Mädchen. »Danach nicht mehr. Erst jetzt habe ich wieder damit angefangen, in diesem Bus.« Mag der Wiederaufbau des Landes noch lange Zeit in Anspruch nehmen: Wer Sheila und ihren langsam wieder erwachenden Lebensmut erlebt, sieht, dass es gelingen kann, den Kindern Haitis neue Hoffnung zu geben.


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Quelle:
die zeitung, I. Quartal 2011, S. 3
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2011