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HINTERGRUND/161: Die Situation von Flüchtlingskindern auf Malta


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2010

»Diese Insel ist ein großes Gefängnis«
Die Situation von Flüchtlingskindern auf Malta

Von Andreas Meißner


Die Länder der Europäischen Union, deren Grenzen gleichzeitig EU-Außengrenzen sind, sehen sich seit Jahren mit einer hohen Zahl an Flüchtlingen konfrontiert. Allzu präsent sind die Fernsehbilder aus Griechenland, Italien oder Spanien, wo regelmäßig völlig überladene Boote mit halb verdursteten Menschen die Strände erreichen. Selten in den Nachrichten hingegen ist Malta, obwohl die Situation auf der kleinen Insel ebenfalls sehr dramatisch ist. Hier leben derzeit ca. 4.500 Flüchtlinge. Damit ist Malta gemessen an der Einwohnerzahl das Land mit der höchsten Flüchtlingsrate weltweit.


Einer von ihnen ist Ahmed*. Der Somali hält seinen neun Monate alten Sohn auf dem Arm; er wirkt verloren in dem trostlosen, überfüllten maltesischen Flüchtlingslager. In Somalia hatte der 26-Jährige ein gut laufendes Restaurant, das während der Kämpfe zerstört wurde. Für ihn und seine Frau Amina* (19) gab es danach keinen Grund mehr, in ihrer vom Krieg ausgebluteten Heimat zu bleiben. Sie schnürten ein Bündel mit Kleidung und kratzten ihr letztes Geld zusammen, um nach Europa zu fliehen. Auf einem überfüllten Pick-up durchquerten sie die Sahara und erreichten nach langer, strapaziöser Fahrt die libysche Hauptstadt Tripolis. Hier mussten sie sich mehrere Monate illegal durchschlagen, bis sie eines der überfüllten Flüchtlingsboote besteigen konnten, das sie nach Italien bringen sollte. Doch das Boot hatte nicht genug Benzin im Tank, sie gerieten in Seenot. »Wir hatten nichts mehr zu essen und zu trinken«, berichtet Ahmed. »Fünf Menschen sind auf dem Boot gestorben.« Nach vielen Tagen auf hoher See wurden die Schiffbrüchigen von der libyschen Marine aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht. Ahmed, seine damals noch minderjährige Frau und alle anderen ausgemergelten Flüchtlinge kamen in Haft. Ahmed erzählt, wie sie gefoltert wurden; immer wieder zeigt er auf sein rechtes Auge: »Hier haben mir Polizisten draufgeschlagen, seitdem bin ich auf diesem Auge blind. Ich habe auch ständig Kopfschmerzen und Alpträume.« Zwei Jahre saßen sie im Gefängnis. Nach ihrer Entlassung wurde Amina schwanger. Doch sie wollten auf keinen Fall zurück nach Somalia. Es dauerte eine Weile, bis sie es wieder auf ein Boot schafften; Amina war bereits im neunten Monat. Nach drei Tagen auf See griff sie die maltesische Marine auf. Auf Malta wurden sie - wie alle neu ankommenden Flüchtlinge - zunächst inhaftiert, aber nach zwei Tagen aufgrund der Schwangerschaft entlassen. Noch am selben Tag brachte Amina ihren Sohn zur Welt.


Ungewollt auf Malta

Die größte Zahl der Flüchtlinge auf Malta stammt aus Somalia, Eritrea oder Äthiopien, die meisten sind als schutzbedürftig anerkannt. Familien mit kleinen Kindern wie Ahmed und Amina sind nicht die Regel - die meisten Flüchtlinge sind junge Männer, dazu kommen offiziell 43 unbegleitete Minderjährige. Deren Anzahl dürfte in Wirklichkeit jedoch wesentlich höher sein, da viele Jugendliche von den Behörden als volljährig eingestuft werden. Alle haben ähnlich dramatische Fluchtgeschichten wie Ahmed zu erzählen. Und alle sind durch Zufall in Malta gelandet. »Ihr Ziel ist normalerweise Italien. Von dort wollen sie weiter nach Norden, wo viele Angehörige haben«, erzählt Jon Hoisaeter vom UNHCR in Malta. »Hier landen sie eigentlich nur, wenn sie auf See einen Motorschaden haben, vom Wind abgetrieben werden oder weil sie denken, hier sei Italien.« In den letzten beiden Jahren kamen 4.000 Flüchtlinge auf Malta an. Die kleine Insel mit den Ausmaßen des Bundeslandes Bremen und ihren 450.000 Einwohnern war damit hoffnungslos überfordert. Zunächst wurden alle Flüchtlinge für viele Monate inhaftiert, während die maltesischen Behörden ihre Asylanträge überprüften. Minderjährige und Schwangere sollten eigentlich so schnell wie möglich freigelassen werden. Dass dies nur Theorie war, zeigte der Fall eines 15-Jährigen, der 2009 fast ein Jahr lang im Gefängnis saß.

»2009 herrschten hier schlimme Zustände. Wir hatten zeitweise 1.600 Gefangene, obwohl das Gefängnis nur für 1.400 Menschen ausgelegt ist«, erzählt Captain Borg vom maltesischen Militär, der eines der Gefängnisse leitet. »Es gab häufig kleine Revolten und viele Selbstmordversuche. Derzeit befinden sich nur noch 170 Menschen hier. Alle anderen mussten entlassen werden, weil man nach europäischem Recht keinen illegal Eingereisten länger als 18 Monate inhaftieren darf.« Die Flüchtlinge, die derzeit noch einsitzen, sollen abgeschoben werden oder wurden aus anderen europäischen Staaten nach Malta zurückgeschickt, weil der Inselstaat für ihre Aufnahme verantwortlich ist - gemäß der europäischen Dublin II-Verordnung ist der Staat, in dem der Flüchtling zuerst seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, für diesen zuständig. Anerkannte Flüchtlinge dürfen für drei Monate legal in andere europäische Staaten reisen. Werden sie nach Ablauf der drei Monate oder ganz ohne Erlaubnis in einem anderen europäischen Land aufgegriffen, werden sie nach Malta zurückgeschickt.


Keine Arbeit, keine Perspektive

Auch Ahmed und Amina leben seit inzwischen neun Monaten als anerkannte Flüchtlinge in einem Lager für Flüchtlingsfamilien. Sie sind dankbar, überlebt zu haben, möchten aber nicht auf Malta bleiben. »Hier gibt es keine Zukunft. Ich darf zwar arbeiten, aber es gibt keine Jobs. Wir hängen den ganzen Tag nur rum«, klagt Ahmed. Aufgrund dieser extremen Perspektivlosigkeit versuchen die meisten Migranten, von Malta wegzukommen - oftmals genauso illegal, wie sie gekommen sind. Viele haben in anderen EU-Staaten Verwandte, zu denen sie möchten. Ein 19-jähriger Flüchtling erzählt: »Als ich 17 war, habe ich mir Geld geliehen und bin von Malta nach Nordeuropa. Dort habe ich Verwandte, ich konnte sofort zur Schule gehen. Ich war einige Monate dort. Das war die schönste Zeit meines Lebens. Doch dann wurde ich kontrolliert und wieder zurückgeschickt. Nun erhalte ich hier nur 80 Euro im Monat zum Leben. Ich sitze herum und warte; Arbeit und Schule gibt es nicht.« In Malta wird jungen unbegleiteten Flüchtlingen ab 16 Jahren kein Schulbesuch mehr ermöglicht. An ihrem 18. Geburtstag müssen sie die Jugendhilfeeinrichtung verlassen und in eines der großen Lager ziehen.


Verantwortung für Flüchtlinge ausgelagert

In den letzten Monaten hat sich die Situation auf Malta jedoch völlig geändert. Seit Oktober 2009 ist kein Boot mehr auf der Insel gelandet. »Das liegt unter anderem an einem Abkommen zwischen Libyen und Italien, in dem ein effektiverer Schutz der Seegrenzen sowie die Rücknahme von Flüchtlingen durch Libyen geregelt sind«, sagt Edwin Vassallo, ein maltesischer Politiker von der Regierungspartei. Er ist ganz offenbar nicht unglücklich über die Auswirkungen des Abkommens. Jon Hoisaeter vom UNHCR sieht darin allerdings genau hier ein Problem: »Vermutlich Hunderttausende Flüchtlinge stecken in Libyen fest - in einem Staat, der die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat.« Der europäische »Flüchtlingsschutz« wird so ganz bewusst in ein Land ausgelagert, das international für schwere Menschenrechtsverletzungen bekannt ist und von dem praktisch alle Flüchtlinge über katastrophale Bedingungen berichten.

Die Verantwortung dafür tragen nicht alleine die maltesische und die italienische Regierung. Für die Situation der Flüchtlinge im Mittelmeerraum sind alle Staaten der Europäischen Union zuständig. Sie beschließen Richtlinien, die die Inhaftierung von Schutz suchenden Flüchtlingen erlauben und den Flüchtlingsschutz an die EU-Außengrenzen verlagern. Flüchtlingspolitik erscheint oft eher als ein Schutz vor Flüchtlingen als ein Schutz für Flüchtlinge. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung. Kürzlich hat die Bundesregierung erklärt, 100 Flüchtlinge aus Malta aufzunehmen - ein bescheidener erster Schritt. Die EU-Kommission hat einen »Aktionsplan für unbegleitete Minderjährige« entwickelt und neue Vorschläge für Asylrichtlinien erarbeitet, die wesentliche Kernforderungen von Menschrechtsorganisationen beinhalten. Noch ist allerdings offen, ob auch der EU-Ministerrat als letztlich entscheidendes Gremium den Vorschlägen zustimmt. Hier werden öffentlicher Druck und die politische Lobbyarbeit von Organisationen wie terre des hommes auch weiterhin nötig sein.


* Namen geändert


Die Arbeit von terre des hommes im Bereich Flüchtlinge

Mehr als 43 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Krieg, Konflikten und Verfolgung. Doch aufgrund einer restriktiven europäischen Asylpolitik kommen immer weniger Flüchtlinge nach Europa und Deutschland. Die deutsche Flüchtlingspolitik wird mehr und mehr von Entscheidungen auf EU-Ebene bestimmt. Unzählige Flüchtlinge bleiben in EU-Außenstaaten wie Griechenland, Italien, Spanien und Malta. terre des hommes setzt sich auf deutscher und europäischer Ebene für die Rechte von Flüchtlingskindern ein. Nicht zuletzt als Ergebnis jahrelanger politischer Lobbyarbeit vieler Organisationen, darunter auch terre des hommes, wurde im Juli der Vorbehalt Deutschlands zur UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen, der Flüchtlingskinder benachteiligte. In Deutschland und anderen Ländern fördert terre des hommes seit den 70er Jahren zahlreiche Hilfsprojekte für Flüchtlingskinder. terre des hommes-Experte Andreas Meißner reiste im Frühjahr 2010 nach Malta.


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2010, S. 3
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2010