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HINTERGRUND/139: Arbeit mit obdachlosen Kindern und Jugendlichen


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2008

Leben auf der Straße
Arbeit mit obdachlosen Kindern und Jugendlichen

Von Athanasios Melissis


Der Bahnhofsvorplatz ist in das trübe Licht der Straßenlaternen und Leuchtreklamen getaucht. In der Nische eines Seiteneingangs schläft jemand auf Pappkartons, eingehüllt in eine löchrige Decke. Ein paar Meter abseits steht eine kleine Gruppe Jugendlicher beisammen, eine flasche Schnaps geht herum. Ab und zu fragen sie Passanten nach Kleingeld; einer versucht, Zeitungen zu verkaufen, die er auf dem Arm trägt. "Ich wohne mal hier und mal da", sagt Victor und nimmt einen Schluck aus der flasche. "Aber wenn es warm ist, lege ich mich auch einfach draußen hin."


Straßenkinder in einer Bahnhofsgegend mancher mag bei dieser Szene an eine Metropole in Südamerika oder Asien denken. Doch in diesem Fall ist es der Berliner Bahnhof Zoo, in Deutschland. Längst sind Straßenkinder auch hierzulande Realität. Schätzungsweise 9.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland leben in Obdachlosigkeit oder sind von dieser bedroht.

Viel wird in jüngster Zeit über die neue Armut in Deutschland diskutiert, und sicherlich klafft die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Doch zeigen die Erfahrungen aus den Projekten, die sich in Berlin, Frankfurt oder München um Straßenkinder kümmern, dass Jugendliche aus allen sozialen Schichten in der "Szene" zu finden sind. Nicht mangelnde Bildungschancen zwingen die Kinder zu einem Leben auf der Straße. Vielmehr sind es persönliche und innerfamiliäre Probleme, die Heranwachsende dazu bringen, das Leben in der Familie und die Schule hinzuschmeißen und abzuhauen. So auch bei Victor. Seinen Vater kannte er nicht. Der Freund der Mutter war Alkoholiker und verprügelte ihn, die Mutter schlug sich immer auf die Seite ihres Freundes. Mit 13 hatte er schon mehrere Heimaufenthalte hinter sich. Er landete am Zoo, prostituierte sich, um über die Runden zu kommen. Zurück in sein von Gewalt geprägtes Zuhause wollte er auf keinen Fall. Victor ertrug seine Situation nur schwer, begann zu saufen und zu kiffen. Dann kam das Heroin; seit mehreren Jahren ist er abhängig.

Eine typische Vita. In den Lebensgeschichten von Kindern, die ihr Zuhause gegen ein Leben auf der Straße eintauschen, spielen die Erfahrung mit Gewalt sehr oft eine beherrschende Rolle. Das ist kein deutscher Sonderfall: Untersuchungen beispielsweise in Lateinamerika haben gezeigt, dass fast alle Straßenkinder in irgendeiner Form Gewalt erleiden mussten. Bei Mädchen kommen oft Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch hinzu. Auch um besser mit solchen negativen Erlebnissen fertig zu werden, konsumieren viele Kinder und Jugendliche Drogen. Klebstoff oder Alkohol machen den tristen Alltag für ein paar Stunden erträglicher und helfen außerdem, den Hunger nicht mehr zu spüren. Einer der ersten Schritte in den meisten Projekten, die sich um Straßenkinder kümmern, ist, die Kinder und Jugendlichen von den Drogen zu entwöhnen und ihnen einen geregelten Tagesablauf anzubieten. Das wichtigste Gebot ist, dass kein Druck ausgeübt werden darf, sondern die gemeinsame Arbeit auf Freiwilligkeit beruhen muss. Die Mädchen und Jungen, die in ein Projekt kommen, müssen immer das Gefühl haben, dass sie es aus freien Stücken tun, dass sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen.

Sein Leben wieder in die Hand nehmen, das will auch Victor. Er würde gerne noch mal neu anfangen, hofft auf einen Therapieplatz. "Dann würde ich es anders versuchen, als ich es jetzt gemacht habe!"


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2008, S. 1
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2008