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BERICHT/096: Das Jahr 2011 im Rückblick (frauensolidarität)


TERRE DES FEMMES in der frauensolidarität - Nr. 118, 4/11

Das Jahr 2011 im Rückblick
Mythos "falscher Vergewaltigungsvorwurf" und die Frage nach Gerechtigkeit für die mutmaßlichen Opfer

Von Birte Rohles


Die Prozesse gegen Jörg Kachelmann und Dominique Strauss-Kahn wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung sorgten 2011 für kontroverse Diskussionen in der medialen Berichterstattung und der Öffentlichkeit. Das Leid der mutmaßlichen Opfer kam dabei kaum zur Sprache. Stattdessen brachten die Debatten ein neues Bild hervor: das des männlichen Opfers und der weiblichen Täterin. Mythos Vergewaltigung?

Rückblick

Der Journalist und Wettermoderator der ARD Jörg Kachelmann wurde am 19. Mai 2010 wegen des Verdachts der besonders schweren Vergewaltigung angeklagt. Er soll seine damalige Lebensgefährtin mit einem Messer bedroht, verletzt und vergewaltigt haben. In der Öffentlichkeit bildeten sich schnell zwei Lager - das der Kachelmann-Fans und das derer, die der Frau glaubten. Mit der Zeit wurden immer mehr Details über das Intimleben des Angeklagten veröffentlicht, ehemalige Geliebte meldeten sich zu Wort, und das Image von Kachelmann litt zunehmend. Doch nachdem einige Aussagen der Exfreundin widerlegt wurden, geriet die zuständige Staatsanwaltschaft ins Kreuzfeuer der Kritik. Ihr wurde vorgeworfen, nicht neutral zu sein. Die Kachelmann-UnterstützerInnen fanden zunehmend Gehör mit der These, die Vergewaltigung sei von der Klägerin erfunden, um dem Exgeliebten eins auszuwischen. Schließlich, am 31. Mai 2011, wurde Kachelmann vom Landgericht Mannheim aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte zunächst Revision ein, zog den Antrag jedoch am 7. Oktober 2011 zurück. Der Freispruch vom 31. Mai 2011 ist damit rechtskräftig.

Der Fall Kachelmann war noch nicht abgeschlossen, da beschäftigte die Öffentlichkeit ein weiterer Vergewaltigungsvorwurf gegen einen Prominenten: Am 14. Mai 2011 wurde der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Dominique Strauss-Kahn von der New Yorker Staatsanwaltschaft verhaftet und wegen versuchter Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Freiheitsberaubung einer Angestellten des New Yorker Hotels Sofitel angeklagt. Auch in diesem Fall war die Strategie der Verteidigung, die Glaubwürdigkeit der Klägerin in Zweifel zu ziehen. Die Staatsanwaltschaft ließ schließlich am 23. August die Anklage gegen Strauss-Kahn aus Mangel an Beweisen fallen.


Was hängen bleibt

Die öffentlichen Diskussionen um die Vergewaltigungsvorwürfe decken Rollenbilder auf, die von einem neuen Antifeminismus geprägt sind: Männer als Opfer, Frauen als potenzielle mächtige Lügnerinnen. Die möglichen Vergewaltigungen wurden in anerkannten Medien als "Sex-Affäre" bezeichnet, womit ein Einverständnis suggeriert wurde, das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vorhanden war. Anerkannte JournalistInnen schlugen sich bereits zu Beginn des Verfahrens auf Kachelmanns Seite und diffamierten die gesamte Wissenschaft der Traumatologie als eine "Glaubensgemeinschaft". Offenbar besteht noch immer kein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass ein sexueller Akt ohne Einverständnis beider Beteiligten eine Vergewaltigung und damit ein Verbrechen ist.

TERRE DES FEMMES hat nach der Urteilsverkündung im Kachelmann-Prozess der Sorge Ausdruck verliehen, dass wegen der öffentlichen Demontierung der Glaubwürdigkeit der Klägerin sich Frauen in Zukunft noch weniger trauen werden, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Und neben den finanziellen Belastungen bei einem Gerichtsverfahren müssen Frauen erleben, dass ihnen von der Öffentlichkeit die Verantwortung für das Geschehen zugewiesen wird oder dass sie verdächtigt werden, ihr Vergewaltigungsvorwurf sei eine Lüge.


Weniger als ein Prozent Verurteilungen!

Dabei sind nicht die Falschaussagen das Problem, sondern die Vergewaltigungen. Laut Dunkelfeldforschung geschehen in Deutschland etwa 160.000 Vergewaltigungen pro Jahr! Das sind mehr als 438 Vergewaltigungen pro Tag. Dem gegenüber stehen etwa 1.000 Verurteilungen jährlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann für eine Vergewaltigung bestraft wird, ist somit geringer als ein Prozent. Über diese Zahlen muss in der Öffentlichkeit gesprochen werden. Stattdessen wird die Debatte verlagert auf angebliche Falschbeschuldigungen von Frauen, deren Anzahl nicht nur in Deutschland verschwindend gering ist.(1)

Neben der erschreckend hohen Zahl von Vergewaltigungen sollte ebenfalls im Zentrum der Debatte stehen, warum lediglich 5% der Sexualstraftaten (etwa 8.000 Fälle jährlich) überhaupt zur Anzeige gebracht werden.(2) Die Gründe für die geringe Anzeigenbereitschaft sind vielfältig: Die Hälfte der Vergewaltigungen passiert innerhalb einer Beziehung, innerhalb der Familie oder innerhalb des Freundes- und Bekanntenkreises. Außerdem erwartet die Frau, sobald sie den Schritt zu einer Anzeige gewagt hat, eine langwierige Prozedur von Verhören und Gerichtsterminen. Durch die Befragungen können bei ihr traumatische Gefühle wie Ohnmacht, Angst, Hilflosigkeit und Scham reaktiviert werden, sie erlebt die Vergewaltigung quasi ein zweites Mal.


Forderung nach rechtlichen Verbesserungen

Nicht für jede Frau ist es der richtige Weg, Anzeige zu erstatten. Für andere hingegen kann es sogar heilsam sein, dass ihr Fall vor Gericht gebracht wird - wenn die Umstände stimmen. Neben juristischer Begleitung sollte es daher zum Standard gehören, dass Frauen eine psychosoziale Prozessbegleitung für die Zeit des Verfahrens erhalten. In Österreich besteht seit 2006 ein gesetzlicher Anspruch auf Prozessbegleitung. Das sollte ein Vorbild für Deutschland sein.

Vielen Frauen fällt es schwer, direkt nach einer Vergewaltigung zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Manchmal braucht es einige Jahre, bis eine Frau sich dazu entschließt , Anzeige zu erstatten. In ersten Modellprojekten erhalten Frauen die Möglichkeit, auch ohne Anzeigenerstattung die Spuren einer Vergewaltigung gerichtsrelevant dokumentieren zu lassen. Bis zu 20 Jahre werden die Beweise aufgehoben, so dass die Frau in Ruhe überlegen kann, ob sie später Anzeige erstatten möchte oder nicht. TERRE DES FEMMES fordert, dass diese Möglichkeit der so genannten "Anonymen Spurensicherung" gesetzlich verankert wird und Frauen in allen Bundesländern zur Verfügung steht.

Um noch Jahre später den Vergewaltiger zur Verantwortung ziehen zu können, bedarf es einer Anhebung der Verjährungsfrist. Laut aktueller Rechtslage ist eine Vergewaltigung in der Regel nach fünf Jahren verjährt. Eine Frist, die für viele Frauen viel zu kurz ist. TERRE DES FEMMES fordert hier äquivalent zur Verjährungsfrist im Falle von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen eine Verjährungsfrist von 20 Jahren.


Anmerkungen:

(1) "Auch in anderen Ländern ist das Problem der Falschanschuldigung marginal und rangiert zwischen 1% und 9%." Aus: Unterschiedliche Systeme, ähnliche Resultate? Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern. Länderbericht, vgl. Deutschland. Corinna Seith, Joanna Lovett & Liz Kelly (2009): Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases across Europe. S. 9.

(2) Vgl. Grieger et al.: Streitsache Sexualdelikte - Thematische Einführung, in: Streitsache Sexualdelikte. Frauen in der Gerechtigkeitslücke. Tagungsdokumentation, hrsg. v. Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (2010), S. 10.


Zur Autorin:

Birte Rohles ist seit Februar 2011 bei TERRE DES FEMMES Referentin für das Thema Häusliche Gewalt.


TERRE DES FEMMES
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Internet: www.frauenrechte.de


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 118, 4/2011, S. 20-21
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2012