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BERICHT/095: Gemeinsam erfolgreich im Kampf gegen Zwangsverheiratung (frauensolidarität)


TERRE DES FEMMES in der frauensolidarität - Nr. 117, 3/11

Gemeinsam erfolgreich im Kampf gegen Zwangsverheiratung
Bilanz eines Pilotprojektes von TDF zu Zwangsverheiratung und Gewalt im Namen der Ehre

Von Nathalie Rajevic


"Zwangsheirat - was ist das eigentlich?"
"Worin besteht der Unterschied zwischen einer arrangierten Ehe und Zwangsverheiratung?"
"Können auch Männer betroffen sein?"
"Welche Hilfen kann ich anbieten, wenn sich eine Betroffene an mich wendet?"


Diese und andere Fragen beschäftigten die Teilnehmenden der Workshopreihe "Zwangsverheiratung erkennen - richtig handeln", die zwischen September 2010 und Februar 2011 in zehn Städten Baden-Württembergs stattfand. Finanziell ermöglicht wurde das Projekt durch den Europäischen Integrationsfonds sowie das Arbeits- und Justizministerium des Landes Baden-Württemberg. An der eintägigen Veranstaltung konnten MitarbeiterInnen unterschiedlicher Behörden landesweit kostenfrei teilnehmen. Die Nachfrage überstieg die vorhandenen Kapazitäten jedoch bei weitem. "Wir haben offene Türen eingerannt", so Projektkoordinatorin Monika Michell. "Das Interesse an den Workshops war immens und verdeutlicht die Notwendigkeit der Information und Sensibilisierung in diesem Bereich."


Zwangsverheiratung - eine traurige Realität

Auch in Deutschland ist die Zwangsverheiratung von Mädchen und jungen Frauen traurige Realität. In den letzten drei Jahren haben sich allein bei der Beratungsstelle von TERRE DES FEMMES über 500 Mädchen und Frauen gemeldet, die von Zwangsheirat/Gewalt im Namen der Ehre bedroht oder betroffen waren. Doch die Dunkelziffer ist bei weitem höher, da sich die meisten Betroffenen nicht an Beratungsstellen wenden. Aus Unwissenheit oder Angst vor möglichen Konsequenzen erleiden sie stillschweigend die Gewalt und Unterdrückung. Genau an dieser Stelle setzt die Idee des Workshops an: Anders als das bewusste Aufsuchen einer Beratungsstelle ist der Besuch einer Behörde (Jobcenter, Ausländerbehörde etc.) notwendiger Alltag. Somit sind die MitarbeiterInnen dort oft die ersten Kontakt- und Ansprechpersonen für Frauen und Mädchen. Zugleich verfügen sie, je nach Arbeitsbereich, über vielfältige Handlungsmöglichkeiten, Mädchen und Frauen Hilfe zukommen zu lassen.

Die Workshops hatten eine praxis- und prozessorientierte Ausrichtung, bei der die Erwartungen der Teilnehmenden und ausreichende Diskussions- und Austauschmöglichkeiten im Mittelpunkt der Veranstaltungen standen. Darüber hinaus wurden grundlegende Informationen zum Thema ehrbezogene Gewalt und Zwangsverheiratung vermittelt.

Die Referentin Collin Schubert, TERRE DES FEMMES-Fachfrau für Frauenrechte im Islam, führte mit einem Impulsreferat in die Thematik ein. Im Rahmen ihres Vortrags hob sie u. a. hervor, dass Verbrechen im Namen der Ehre kein explizit religiöses Phänomen seien, sondern vielmehr ein Kennzeichen streng patriarchalisch organisierter Gesellschaften. In einigen bekannt gewordenen Fällen von Gewalt im Namen der Ehre begründeten die Täter ihr Handeln dennoch mit ihrer Religion. Schubert unterstrich zudem, dass auch Jungen und Männer von Zwangsverheiratung betroffen seien.

Das zweite Impulsreferat wurde von Fatma Sonja Bläser gehalten, die mit der Geschichte ihrer eigenen Zwangsverheiratung das Thema eingängig und persönlich darstellte. Von ihrer eigenen Lebensgeschichte spannte sie den Bogen zur aktuellen Situation von Frauen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die sie mit ihrem Verein Hennamond unterstützt und begleitet. Ihr Fazit: Vielen Mädchen und Frauen, auch jenen, die bereits in dritter Generation in Deutschland leben, geht es heute nicht besser als ihr selbst vor 30 Jahren: Sie sind immer noch Kontrolle, Druck und Gewalt von Seiten ihrer eigenen Familie ausgesetzt.


Sensiblen Umgang mit Betroffenen fördern

Die TeilnehmerInnen erwarteten einen Zuwachs an thematischem Fachwissen sowie die Vermittlung konkreter Handlungskompetenzen. Vor allem wurde der Wunsch geäußert, konkrete Merkmale und Anzeichen von Zwangsverheiratung aufgezeigt zu bekommen. "Leider kann man Zwangsheirat nicht an abzählbaren Kriterien erkennen", so die Referentin Fatma Sonja Bläser, "jedoch häufen sich oft die Anzeichen, die auf eine bevorstehende Zwangsverheiratung oder eine bestehende Zwangsehe hindeuten." Die Expertin ist sich sicher, dass grundlegende Kenntnisse der Problematik und ein sensibler Umgang mit möglicherweise betroffenen Frauen und Mädchen das Schlimmste verhindern können.

Anzeichen können beispielsweise ungewöhnliche Verhaltensänderungen sein: Ein Mädchen oder eine Frau, das/die vorher aufmerksam und aktiv war, wirkt jetzt unkonzentriert, ist sehr zurückgezogen oder aber auffallend aggressiv. Ein weiterer Hinweis kann sein, dass sie mit einem Mal nur in Begleitung zu Terminen erscheint oder aber bereits gemachte Andeutungen wieder herunterspielt und verharmlost. In solchen Momenten ist es unerlässlich, der Betroffenen weiterhin Vertrauen entgegenzubringen, betont Bläser weiter. In der Praxis erlebe sie häufig, dass das Fachpersonal nicht richtig mit der Ambivalenz der Frauen und Mädchen umzugehen weiß. Diese könnten nicht mehr mit ihrer Familie, aber auch nicht ohne sie leben. Frau Bläser schilderte diese schwierige Situation eindrücklich und warnte davor, ohne Absprache mit der Betroffenen zu handeln. Vielmehr sollte diese als Expertin für ihre eigene Familie anerkannt werden.

Während der Vormittag die Vermittlung theoretischer Grundlagen zum Schwerpunkt hatte, bot der Nachmittag die Möglichkeit, diese in einer praktischen Fallbearbeitung zu erproben. In vier bis fünf Gruppen bearbeiteten die TeilnehmerInnen unterschiedliche Fallbeispiele, die sie anhand von vier Leitfragen strukturierten. Diese richteten sich nach den Handlungsmöglichkeiten der jeweils eigenen Behörde sowie nach den Schwierigkeiten und Konsequenzen der Zusammenarbeit unterschiedlicher Stellen. In den einzelnen Gruppen waren MitarbeiterInnen verschiedener Behörden vertreten, um ein breit gefächertes Fachwissen zu gewährleisten und den Austausch untereinander zu fördern.


Netzwerke sind wichtig

Die Teilnehmenden diskutierten ihre Ergebnisse im Plenum und wurden dabei immer wieder dazu animiert, auch über die Veranstaltung hinaus in Kontakt zu bleiben und Netzwerke zu bilden, um in konkreten Fällen schneller und effizienter agieren zu können. Im Rahmen der Workshop-Evaluation wurde deutlich, dass beinahe alle Teilnehmenden von den Informationen profitiert haben und sich in ihrer Handlungskompetenz gefestigt fühlen. So hebt eine Teilnehmerin hervor: "Ich fühle mich jetzt viel sicherer in der Thematik und habe das Gefühl, einer Frau wirklich weiterhelfen zu können. Mir ist nun viel klarer, wie viele Möglichkeiten ich habe, auch wenn ich sie beispielsweise anfangs nur an eine passende Beratungsstelle weitervermitteln kann."

"Mit den Workshops hat TERRE DES FEMMES einen wichtigen ersten Schritt zur Sensibilisierung von EntscheidungsträgerInnen getan", unterstreicht Projektkoordinatorin Monika Michell abschließend. "Und diesen Weg werden wir weitergehen, damit Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsverheiratung bald der Vergangenheit angehören."


Informationen:
Den Hilfsleitfaden für Fachkräfte "Im Namen der Ehre - misshandelt, zwangsverheiratet, ermordet" und weitere Materialien zum Thema finden Sie unter www.frauenrechte.de


Zur Autorin:
Nathalie Rajevic war bis August 2011 Praktikantin im Referat Gewalt im Namen der Ehre in der Bundesgeschäftsstelle von TERRE DES FEMMES.


TERRE DES FEMMES
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Telefon: 030/40504699-0, Telefax: 030/40504699-99
E-Mail: info@frauenrechte.de
Internet: www.frauenrechte.de


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 117 03/2011, S. 20-21
Herausgeberin: Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, 1090 Wien
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro plus Porto;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2011