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BERICHT/084: Der Mythos vom Jungfernhäutchen (frauensolidarität)


Terre des Femmes in der frauensolidarität - Nr. 108, 2/09

Der Mythos vom Jungfernhäutchen
Trends über die Jahrhunderte bis heute

Von Cornelia von Streit


Die Autorin geht der Frage nach, was Jungfrau sein bedeutet und wie sich die Blickwinkel darauf über die Epochen und Regionen hinweg gewandelt haben. Und sie zeigt auf, welchen Modetrends Frauen heute zu entgegnen haben.


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Das Thema Jungfräulichkeit hat für die Arbeit der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES Aktualität. Manche Mädchen und Frauen sollen jungfräulich in die Ehe gehen. Dafür werden sie oft zur Heirat gezwungen oder gar mit dem Tod bedroht. Manche werden an ihren Genitalien verstümmelt, um einer bestimmten Vorstellung von Jungfräulichkeit zu entsprechen. Auch bei Prostitutionskunden stehen Jungfrauen hoch im Kurs.

Was genau ist denn Jungfräulichkeit? Laut Brockhaus beschreibt Jungfräulichkeit den Zustand einer Frau vor dem ersten (heterosexuellen) Geschlechtsverkehr. Der kleinste gemeinsame Nenner für das Beenden der Jungfräulichkeit scheint das Einführen eines Penis in die Vagina. Eine übereinstimmende Definition von Jungfräulichkeit sucht man vergebens. In den letzten zweitausend Jahren spielte der Begriff zwar in vielen Kulturen eine Rolle, die Beschreibungen sind jedoch sehr vage. In mutterrechtlichen Gesellschaften wurde eine Frau, die in ihrer vollen Kraft lebendig ist, als Jungfrau bezeichnet. Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Begriff zu dem, was wir heute im Brockhaus nachlesen können. Vor allem die christliche und die islamische Religion definierte und regulierte mit; nachzulesen in Bibel und Koran in den Kapiteln über die Jungfräulichkeit der Mutter Jesu.


Kontrolle über Frauen

In altgriechischen Texten schon finden sich metaphorische und eher ungenaue Beschreibungen: Jungfräulichkeit kann ein Gegenstand der Inbesitznahme sein, ein Wert der respektiert werden muss oder ein eingepacktes Ding, das ausgepackt werden muss.

Die christlichen Texte sind nicht präziser. Thomas von Aquin spricht von Keuschheit, die eine metaphorische und eine spezifische Bedeutung habe. Im Mittelalter wurde Jungfräulichkeit mit "Sauberkeit, Schweigen, Schamhaftigkeit und Keuschheit von Körper und Seele" beschrieben. Jungfräulichkeit wurde in den verschiedensten Kulturen, Religionen und Rechtssystemen immer von denjenigen definiert, die die Kontrolle über das Verhalten von Frauen hatten. Zum patriarchalen Denksystem gehört auch die Reduktion des Weiblichen auf die Gebärfunktion. Durch die Heirat einer "Jungfrau" sollte unter anderem sichergestellt werden, dass die Kinder vom Ehemann stammen. Deshalb suchte man nach einem Zeichen, an dem sich Jungfräulichkeit erkennen lässt.


Moderne Medizin stützt alten Mythos

Der Hymen oder das so genannte "Jungfernhäutchen" wurde im 16. Jahrhundert von einem italienischen Wissenschaftler entdeckt. Der Glaube an das Jungfernhäutchen begann allerdings später. Zur weit verbreiteten Vorstellung gehört, dass es sich beim Jungfernhäutchen um ein Häutchen handelt, das nach dem ersten Geschlechtsverkehr zerstört wird. Dabei ist es ein Saum, der den Scheideneingang umgibt. Manche Mädchen werden ohne geboren, viele haben trotz sexueller Kontakte einen intakten Hymen. Bei manchen Frauen kommt es beim ersten vaginalen Geschlechtsverkehr zu einer Verletzung des Hymens und zu einer Blutung, bei anderen nicht. Medizinisch ist es fast unmöglich, anhand des Hymens festzustellen, ob eine Frau schon vaginalen Geschlechtsverkehr hatte.


Meinung von Autoritäten

Die vermeintliche Wiederherstellung einer Jungfräulichkeit - auch Revirginisierung, Rückjungferung, Wiederherstellung des Jungfernhäutchens oder Hymenalrekonstruktion genannt - wird von FrauenärztInnen, aber auch in Krankenhäusern und Kliniken durchgeführt. Die Kosten für diesen ambulanten Eingriff müssen privat bezahlt werden. Medien aus Frankreich berichteten von steigenden Zahlen an Hymenrekonstruktionen bei Migrantinnen im Jahr 2007. Muslimas im Alter zwischen 20 und 30, die heiraten wollen, lassen sich aus Gründen der Familienehre ihr Hymen wieder herstellen. Es werden teilweise horrende Summen für eine Operation verlangt. TERRE DES FEMMES recherchierte 2008 bei Krankenhäusern in Deutschland, um herauszufinden, ob es einen ähnlichen Trend in Deutschland gibt. Aus den wenigen Rückmeldungen wurde deutlich, dass es offenbar unmöglich ist, reale Zahlen statistisch zu erheben, weil die Hymenrekonstruktion nicht klar benannt wird. In jüngster Zeit bekam auch TERRE DES FEMMES vermehrt Anfragen junger Frauen nach Möglichkeiten, ihr Jungfernhäutchen wiederherstellen zu lassen. In einer gemeinsamen Pressekonferenz im Februar 2009 mit Pro Familia Berlin und BALANCE, einem Berliner Familienplanungszentrum, wurde darauf aufmerksam gemacht.

In Fachforen wird die medizinethische Vertretbarkeit von der Wiederherstellung des Jungfernhäutchens diskutiert. In Zürich wird dem Thema in einem schweizerisch-tunesischen Forschungsprojekt nachgegangen. "Eine abschließende medizinethische Einschätzung ist noch nicht möglich. (...) Eine erste Einschätzung aus Sicht der Medizinethik zeigt, dass der Eingriff hochproblematisch ist und nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden kann", so die Autorin Wild.


Genitale Schönheitsoperationen

Anfang 2007 wurde das Thema Hymenrekonstruktion in Ägypten in den Medien diskutiert. Die Muftia Su'ad Salih zog im Rahmen einer Fernsehshow eine Fatwa zurück, die sie fünf Jahre zuvor erlassen hatte und in der sie die Hymenrekonstruktion für verboten erklärt hatte. Nun erklärte sie sie für erlaubt, wenn eine Frau vergewaltigt oder verführt worden sei. Wenig später ging der Mufti Ali Guma'a in einer TV-Sendung noch weiter und erklärte, dass die Hymenrekonstruktion gemäß der Scharia in fast allen Situationen erlaubt sei, sogar die Wiederherstellung des Jungfernhäutchens aus Lifestyle-Gründen, um die Hochzeitsnacht noch einmal zu durchleben, sei erlaubt. Ali Guma'a erklärte ferner, dass eine Frau ihren Mann bezüglich vorehelichem Sex belügen dürfe. Die Erhaltung der Institution Ehe hat Vorrang.

Revirginisierung ist en vogue! Aus den USA wird vermeldet, dass es schick sei, dem Liebsten eine erneute Entjungferung zu schenken. Genitale Schönheitsoperationen sind ein aufstrebender Markt und die "Produkte" werden auf Internetseiten angepriesen. Inzwischen hat diese Welle auch Deutschland erreicht. Internetdienste und TV-Sender berichteten darüber. Eine weitere Erscheinung - in den USA verbreitet - ist die christlich-evangelikale Bewegung "True Love Waits", die fordert, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Und Morde kommen auch in diesem Zusammenhang vor: Im US-Bundesstaat Alabama erstickte (2004) eine Mutter ihre Tochter, als sie herausfand, dass sie nicht mehr Jungfrau war. Heute herrscht der Glaube, dass das Jungfernhäutchen die Jungfräulichkeit eines Mädchens "beweist". Was soll es morgen sein? Wieder, wie im 16. Jahrhundert angenommen, der Kopfumfang?

Es ist an der Zeit, diesen patriarchalen Jungfräulichkeitsmythos zu verabschieden. Es wird immer deutlicher, dass aus medizinischer Sicht kein Beweis für die "Unberührtheit" der Frau vorhanden ist. Das blutende Jungfernhäutchen ist ein Mythos. "Jungfräulich sein" ist ein Mythos. "Jungfräulich in die Ehe gehen" eine patriarchale Vorstellung.

Es ist an der Zeit, dass sich weltweit Frauenorganisationen, ÄrztInnen, Beratungsstellen und Organisationen zusammenschließen, um nicht nur mit dem Mythos des Jungfernhäutchens aufzuräumen, sondern vor allem um deutlich zu machen, dass junge Frauen ebenso wie junge Männer das Recht haben, sich ihre SexualpartnerInnen frei und selbstbestimmt auszuwählen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion und auch unabhängig von der Institution Ehe. Nur so kann es Gleichberechtigung für Frauen geben und nur so können Frauenrechtsverletzungen wie Zwangsheirat, Ehrenmord und Genitalverstümmelung letztlich verhindert werden.


literatur:

Blank, Hanne: Virgin: an untouched history (London 2007).

Motika, Raoul/Meier, Christian H. (Hg.): Bioethische und gesundheitliche Herausforderungen für die islamische Welt: AIDS, Drogen und Reproduktionsmedizin (Hamburg, 2008).
Im Netz unter http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/ id/138871/

Wild, Verina: Ein medizinethischer Blick auf die operative Rekonstruktion des Hymens - Stellungnahme vom 6.2.2009:
www.frauenrechte.de/tdf/pdf/ehrgewalt/hymen/Medizinethischer-Blick.pdf


Zur Autorin:
Cornelia von Streit engagiert sich seit 2004 ehrenamtlich in der Tübinger Geschäftsstelle von TERRE DES FEMMES. Sie lebt in Tübingen.

Terre des Femmes
Menschenrechte für die Frau e. V.
Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072 Tübingen
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E-Mail: info@frauenrechte.de
Internet: www.frauenrechte.de


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Quelle:
Terre des Femmes in der Frauensolidarität Nr. 108, 2/2009, S. 22-23
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-355
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Inland 20,- Euro; Ausland 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2009