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FLUCHT/069: Getretene Würde - Offenbarungseid der Systeme ... (Flüchtlingsrat Hamburg)


Flüchtlingsrat Hamburg e.V. - Pressemitteilung vom 29. September 2014

Offener Brief an den Ersten Bürgermeister zur Unterbringungssituation von Flüchtlingen



OFFENER BRIEF

Herrn
Olaf Scholz,
Erster Bürgermeister der
Freien und Hansestadt Hamburg
Senatskanzlei
Rathausmarkt 1
20095 Hamburg

Hamburg, den 25. September 2014

Offener Brief an den Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg

Sehr geehrter Herr Scholz,

wir wenden uns an Sie, weil die Situation von Flüchtlingen in Hamburg dramatisch ist und weil Sie und der Hamburger Senat für diese Umstände verantwortlich sind. Fast jeden Tag kann man den lokalen Medien entnehmen, wie menschenunwürdig und katastrophal die Bedingungen in den Erstaufnahmelagern der Hansestadt sind. Das ist für eine reiche Stadt wie Hamburg beschämend.

Seitdem es Menschen gibt, sind diese ein- und ausgewandert. Frei zu wählen, an welchem Ort Menschen wohnen möchten, halten wir für unabdingbar. Wo Menschen ihre Bedürfnisse nach Schutz und den legitimen Wunsch nach einem besseren Leben verwirklichen wollen, darf weder von Schengen noch von Dublin Verordnungen eingegrenzt oder festgesetzt werden. Fakt ist, dass die meisten der Geflüchteten ihre Herkunftsländer nicht freiwillig verlassen. Während weltweit Geld und Waren immer mehr Freizügigkeit erhalten, werden Menschen nur als ökonomische Ressourcen begriffen und nach Nützlichkeit sortiert, ohne Freiheiten und Rechte für Alle. Menschen kommen hierher, um sich ein neues Leben aufzubauen, sie kommen um zu bleiben und brauchen dafür keine Notunterkünfte, sondern das Recht auf eine Wohnung und Zugang zum Arbeitsmarkt. Hamburg ist eine reiche Stadt und muss seiner Verantwortung gegen globale Ungleichheit und Ausbeutung gerecht werden.

Die Flüchtlingszahlen steigen seit Jahren an, nicht zuletzt aufgrund von Kriegen im europäischen Interesse und mit Waffen aus Deutschland oder anderen Großmächten. Die Bundesregierung und die EU tragen für diese weltweiten Konflikte und Kriege eine erhebliche Mitverantwortung. Die Regierenden auf Bundes- und Landesebene zeigen sich nun von dieser Entwicklung überrascht und unvorbereitet. Es wird von einer Notsituation geredet, die jedoch vorhersehbar war.

Nun darf sich gerade Hamburg als eine der reichsten europäischen Metropolen nicht aus seiner Verantwortung stehlen. Das gilt trotz des unbestrittenen Mangels an bezahlbaren Wohnraum in der Hansestadt, einer Folge verfehlter Wohnungsbau- und Sozialpolitik.

Wenn es jetzt unerträgliche Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Hamburg gibt, liegt das in erster Linie an den Versäumnissen von 30 Jahren Hamburger Flüchtlingspolitik. Diese ist seit Jahrzehnten dafür verantwortlich, dass Flüchtlinge und Asylsuchende nicht in Wohnungen untergebracht werden, sondern in Gemeinschaftsunterkünften dahin vegetieren müssen. Ausgrenzung, Stigmatisierung und Abschreckung von Geflüchteten war von jeher in Deutschland und auch in Hamburg unter diversen SPD Senaten gängige Politik.

Die Bilder von hoffnungslos überfüllten Sammelunterkünften befördern außerdem bei der Bevölkerung die unbegründete Vorstellung, dass Deutschland von einer Flüchtlingswelle überflutet und das Boot nun tatsächlich "voll" sei. Die wirklich unhaltbaren Zustände leisten latent rassistischen Vorstellungen weiteren Vorschub und dienen dann in der Regel zur Legitimierung gesetzlicher Verschärfungen wie z.B. die aktuellen Regelungen zu den "sicheren Herkunftsstaaten". Nach Rostock-Lichtenhagen darf die Politik nie wieder schwierige Situationen eskalieren lassen, der Schaden für die Demokratie in unserem Land wäre unermesslich.

In der Schnackenburgallee am Volkspark sind jetzt schon über 1000 Menschen untergebracht und es sollen noch mehr werden. Die Zustände dort sind unzumutbar. Es gibt aber sogar Flüchtlinge, die gar nicht untergebracht werden, sondern einfach weggeschickt werden ohne Wartenummern zu bekommen. Da den Flüchtlingen Termine bei der Ausländerbehörde verweigert werden, können sie keine Anträge stellen. Sie leben deswegen im rechtlosen Raum auf der Straße oder bei Verwandten, ihre Asylanträge werden nicht bearbeitet. Diese Praxis der Behörden, durch Nichtbefassung schutzbedürftigen Personen ihre Rechte vorzuenthalten, stellt einen eklatanten Verfassungsbruch dar. Das ist ein politischer Skandal für einen demokratischen Rechtsstaat. Der Hamburger Senat hat die politische Verantwortung dafür und muss für die sofortige Abhilfe sorgen.

Herr Scholz, sorgen Sie mit dem Hamburger Senat dafür, dass die von Ihrer Fraktion verabschiedeten Gesetze, wie z.B. das Wohnraumschutzgesetz von 2013, konsequent angewendet werden. Wie kann es angehen, dass hamburgweit 2327 Wohnungen leerstehen, während Flüchtlinge in Zelten schlafen müssen?

Gleichzeitig muss der enorme Leerstand von Büroräumen durch den Hamburger Senat beendet werden und für die Unterbringung von Flüchtlingen und anderen Wohnungslosen vorübergehend genutzt werden. Hier hat der Senat große Handlungsspielräume, die jetzt entschieden und beherzt genutzt werden müssen.

Wir fordern weiterhin autonome Lebensperspektiven für alle Migrant_innen und Flüchtlinge mit dezentraler Unterbringung in "ganz normalen" Wohnungen! Wir erwarten von der Gesellschaft ein solidarisches Zusammenwirken mit den Flüchtlingen, denn die Verschiedenheit von Menschen macht unsere globale Lebenswirklichkeit aus. Doch dieses ehrenamtliche Engagement vieler Hamburgerinnen und Hamburger kann und darf professionelle Unterstützung und Beratung durch Sozialarbeiter_innen nicht ersetzen. Auch dort ist die Hansestadt in der Pflicht dafür Sorge zu tragen, genügend gut ausgebildete und gut bezahlte Fachkräfte in diesem Bereich einzustellen.

Wir fordern:

  • die rechtliche Ausgrenzung von Menschen muss ein Ende haben!
  • bürokratische Hürden müssen abgebaut werden.
  • bezahlbarer Wohnraum für Alle!

Mit freundlichen Grüßen
Hermann-J. Hardt
Flüchtlingsrat Hamburg

(Offener Brief hier vorab per E-Mail, wird auch per Post verschickt)

*

Quelle:
Flüchtlingsrat Hamburg e.V.
Nernstweg 32-34, 22765 Hamburg
Büroöffnungszeiten:
Mo. 10.30 - 14.30, Di. 17.00 - 19.00, Do. 15.00 - 19.00
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Internet: www.fluechtlingsrat-hamburg.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2014