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FLUCHT/029: Kessel Nahost - Hamburg kein sicherer Hafen (SB)


"Lampedusa in Hamburg" - Geflohene Menschen im Protest, 7. Juni 2013

Vom Regen in die Traufe - Kriegsflüchtlinge nach Italien-Odyssee in Hamburg obdachlos



Hamburg zeigt sich derzeit von seiner finstersten Seite. Seit dem 15. April sind bis zu 300 Kriegsflüchtlinge, die nach einem zweijährigen Aufenthalt in italienischen Flüchtlingslagern in Hamburg gestrandet waren und dort zunächst noch Aufnahme im Winternotprogramm für Obdachlose gefunden hatten, gezwungen, auf der Straße zu leben. "Wir suchen uns jede Nacht eine andere Unterkunft, schlafen mal hier, mal da. Wir leben auf der Straße", erklärte einer der jüngeren Männer, die vor dem Libyenkrieg 2011 fliehen mußten. [1] Nach dem Sturz Ghaddafis waren die aus Staaten Schwarzafrikas stammenden Menschen in Libyen nicht mehr sicher gewesen, weil ihnen unterstellt wurde, dem Regime als Söldner gedient zu haben.

Die NATO- bzw. EU-Staaten, in die es sie wie jetzt nach Deutschland verschlagen hat, erklären sich für diese Menschen als "nicht zuständig". Auch die Stadt Hamburg zieht sich auf diesen Standpunkt zurück, um angesichts zunehmender öffentlicher Proteste und eines von der Piraten-Fraktion im Bezirk Mitte eingebrachten und von ihr sowie der Linken befürworteten Eilantrags zur Situation der Kriegsflüchtlinge zu begründen, warum der Senat noch immer keine Zäsur seiner bisherigen Flüchtlingspolitik vorgenommen hat. An einer Blockadehaltung der übrigen Parteien ist dieser Antrag, in dem der Senat aufgefordert worden war, umgehend eine Fläche für eine Notunterkunft in Zelten auszuweisen und alsbald feste Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, ohne dies an Bedingungen wie eine erkennungsdienstliche Behandlung oder die Bereitschaft zur baldigen Ausreise zu knüpfen, gescheitert. Er wurde am 3. Juni im Hauptausschuß nicht nur von der SPD-Mehrheit, sondern auch von CDU, FDP und den Grünen abgelehnt.

Da die Stadt es nach wie vor ablehnt, diesen Überlebenden des NATO-Krieges gegen Libyen Obdach zu gewähren, ist die evangelische Nordkirche eingesprungen. In der St.-Pauli-Kirche können rund 70 der obdachlosen Kriegsflüchtlinge übernachten. Andreas Gerhold, Fraktionsvorsitzender der Piraten-Partei in Hamburg-Mitte, erklärte dazu [2]:

Wir finden es natürlich löblich, dass die Kirche nun einspringt und Soforthilfe leistet. Dies entlastet aber keineswegs die Stadt. Die Verantwortung liegt weiterhin bei der Politik, die sich beharrlich verweigert. Auch kann die St. Pauli-Kirche natürlich nicht alle 300 Flüchtlinge aufnehmen. Die Stadt wartet offenbar nur noch darauf, dass demnächst die von Italien ausgestellten Visa auslaufen, um dann abzuschieben. Dies muss gemeinsam durch alle Unterstützer aus Politik, Hilfsorganisationen, Kirche und Zivilgesellschaft verhindert werden.

Im alten Elbpark nahe der Reeperbahn hatten zunächst viele der Verzweifelten genächtigt - was angesichts der zumeist regnerisch-kalten Tage dazu führte, daß etliche von ihnen erkrankt und geschwächt sind. Doch auch dieser Schlafplatz wurde ihnen inzwischen verwehrt, hat doch das zuständige Bezirksamt sie von dort vertrieben. "Wenn sie nicht freiwillig den Park räumen, müssen wir zwangsräumen", ist schwarz auf weiß auf einem Papier der Behörde nachzulesen. [1] Nach Angaben des zuständigen Hamburger Sozialsenators, Detlef Scheele von der SPD, sei der Senat "händeringend" um Unterkünfte bemüht, um sie den Kriegsflüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Viele von ihnen wissen jedoch nicht, zumal sie nun auch nicht mehr in den Park dürfen, wo sie in der nächsten Nacht bleiben können - und das in einer der reichsten Städte der Welt. So zumindest argumentierte der Piratenfraktionsvorsitzende Gerhold, der an die Verantwortung der Politik appellierte, um den von seiner Partei eingebrachten Eilantrag durchzubringen: [3]

Der Bürgermeister und der Bezirk müssen Verantwortung übernehmen für die Menschen. Diese Menschen sind nun mal, nach großem Leid und Elend durch Krieg und Flucht, in Hamburg gestrandet. Für diese Menschen sind wir jetzt verantwortlich - egal ob Italien rechtens gehandelt hat oder nicht. Wir können sie nicht zurückschicken wie eine unerwünschte Warenlieferung. Diese Menschen sind, wie auch immer, nun in einer der reichsten Städte überhaupt gelandet und müssen ohne Unterstützung, ohne Geld, ohne medizinische Versorgung auf der Straße leben. Das ist einfach schändlich. Hilfe unkonkret und ohne Taten folgen zu lassen in den Raum zu stellen, zudem an eine Abschiebung zu knüpfen und dann über unsere besondere Verantwortung gegenüber Flüchtlingen zu schwadronieren, ist für mich Heuchelei und eines Hamburger Bürgermeisters, zumal eines sozialdemokratischen, unwürdig!

Die Geflohenen ihrerseits haben sich längst zusammengetan und gemeinsam ihren Protest unter dem Begriff "Lampedusa in Hamburg" organisiert. In der Nähe des Hauptbahnhofs haben sie ein Kommunikations- und Protestzelt errichtet, in dem sie tagsüber ein wenig Schutz vor dem Regen finden, vor allen Dingen aber mit Gleichgesinnten sowie interessierten und solidarischen Hamburger Bürgerinnen und Bürgern zusammenkommen und diskutieren können. Am morgigen Samstag findet um 12.00 Uhr eine Demonstration - es ist nicht die erste - der Kriegsflüchtlinge statt. In einem auf ihrer Webseite veröffentlichten Solidaritätsaufruf machen sie ihren Standpunkt deutlich: [4]

Wir sind Überlebende des NATO-Kriegs in Libyen. Alles, was wir in Libyen für uns aufbauen konnten, haben wir verloren. Im Namen von Demokratie und Menschenrechten haben die NATO-Staaten Libyen in Brand gesetzt. Die Folgen des Kriegs wirken weit über die Grenzen Libyens hinaus. Wir, Flüchtlinge aus Libyen in Europa, sind die Zeugen dieses Verbrechens. Wir sind gegen unseren Willen und wegen der Intervention des Westens nach Europa gekommen. Es gibt kein Zurück mehr für uns.
Wir haben viel Schreckliches gesehen und viele Hindernisse überwunden. Jetzt leben wir als unerwünschte Immigranten auf den Straßen der Länder, die von humanitärem Schutz sprechen, aber ihn nicht umsetzen wollen. Wieder müssen wir ums Überleben kämpfen, während bereits neue Kriege im Namen von Demokratie und Menschenrechten begonnen werden.
Die Opfer sind die Menschen, die angeblich geschützt werden sollen. Flüchtling zu sein ist nicht kriminell. Kriminell ist, Flüchtlinge zu erzeugen.

Am 22. Mai hatten sich rund 60 der Geflohenen um ein Gespräch mit Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz bemüht. Als dann jedoch deutlich geworden ist, daß es weder zu diesem Gespräch noch zu einem mit Senator Scheele kommen würde, faßten die Libyenkriegsflüchtlinge den Entschluß, sich als Gruppe "Lampedusa in Hamburg" zu formieren, als Anlaufstelle ein Informationszelt einzurichten sowie eine Dauermahnwache zu organisieren, um auf ihre prekäre Situation aufmerksam zu machen. Viele Hamburger Bürgerinnen und Bürger haben sich bereits betroffen und solidarisch gezeigt und leisten auch ganz praktische Hilfe. An ihnen ist offenbar die auf einem Transparent der Geflohenen zum Ausdruck gebrachte Misere nicht spurlos vorübergegangen. Bei einem Besuch im öffentlich zugänglichen Teil des Hamburger Rathauses am 22. Mai war zu lesen gewesen: "Wir haben nicht den Krieg in Libyen überlebt, um auf Hamburgs Straßen zu sterben!" [4]


Fußnoten:

[1] http://www.dw.de/flüchtlinge-aus-afrika-obdachlos-in-hamburg/a-16850861

[2] http://hamburg-mitte.bezirkspiraten.de/

[3] http://hamburg-mitte.bezirkspiraten.de/2013/06/02-06-2013-pm-eilantrag-zur-situation-der-kriegsfluchtlinge-in-hamburg/#more-1642

[4] http://www.lampedusa-in-hamburg.tk/

7. Juni 2013