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FLUCHT/001: Getretene Würde - Überfall zur Schlafenszeit (Flüchtlingsrat Niedersachsen)


Flüchtlingsrat Niedersachsen - Pressemitteilung vom 22. August 2012

Landkreis Stade: Nächtliche Abschiebung nach 23 Jahren



Die Ashkali-Familie Fazlijaj/Bajrami wurde in der Nacht vom 20. auf den 21. August überfallartig festgenommen und abgeschoben. Der Fall der Familie illustriert, dass in Niedersachsen - zumal im Landkreis Stade, der nicht zum ersten Mal durch besondere Rücksichtslosigkeit im Umgang mit Flüchtlingen Schlagzeilen macht - Abschiebungen mit aller Härte durchgesetzt werden, wenn die Betroffenen als nicht nützlich genug klassifiziert sind. Auch die niedersächsische Härtefallkommission, die ein Härtefallbegehren für die Familie in diesem Jahr ablehnte, hält sich offenkundig an diese Linie. Kaum vorstellbar, dass sich so ein Fall in einem anderen Bundesland ereignet hätte. Die Familie steht verzweifelt vor den Trümmern ihrer Existenz und weiß nicht wohin.

Gani Fazlijaj (29) und Sultane Bajrami (24) stehen vor dem Nichts: In der Nacht vom Montag auf Dienstag wurde das Paar gemeinsam mit ihren Kindern Iljas (3) und Alma (1) ohne vorherige Ankündigung des Abschiebungstermins auf Veranlassung des Landkreises Stade gegen Mitternacht von der Polizei aus ihrer Wohnung in Fredenbeck geholt und am nächsten Morgen in den Kosovo abgeschoben. Ein vom Anwalt eilends eingelegter Eilantrag erreichte das Verwaltungsgericht 20 Minuten vor dem Abheben des Flugzeugs und konnte die Abschiebung nicht mehr aufhalten. Eine Entscheidung in der Sache steht noch aus.

Entgegen den üblichen Versprechungen war am Flughafen niemand, der der Familie in ihrer Not hätte helfen können. Auch die vom Land Niedersachsen angepriesene Hilfe über das staatlich geförderte Projekt "URA 2" war mangels anwesender Vertreter/innen dieser Organisation nicht zu erreichen. Am Ende wurde die in der Flughafenhalle wartende Familie mit Gewalt vom Flughafenpersonal aus dem Flughafengelände geschleppt und vor die Tür gesetzt.

Vater Gani Fazlijaj floh als Sechsjähriger im Jahr 1989 aus dem Kosovo nach Deutschland, Mutter Sultane Bajrami als Vierjährige im Jahr 1992. Beide gingen in Deutschland zur Schule, lernten sich hier kennen und gründeten eine Familie.

Nach erfolgreichem Abschluss der Hauptschule im Jahr 2001 absolvierte Gani Fazlijaj zunächst ein Jahrespraktikum, da ihm eine Arbeits- und Ausbildungserlaubnis verweigert wurde. Anschließend besuchte er die Berufsbildende Schule, Schwerpunkt Metalltechnik, in Stade. In der Folgezeit meldete er sich bei Zeitarbeitsfirmen an und arbeitete in verschiedenen Firmen als Reinigungskraft, Verpacker oder Helfer. Im Jahr 2007 erhielt er eine "Aufenthaltserlaubnis auf Probe", später als Bleiberecht nach § 23 Abs. 1 AufenthG verlängert wurde. Ab Mai 2010 arbeitete der Familienvater in Teilzeit bei der Firma Küncke als Objektbetreuer. Die Firma versprach ihm für die Zukunft eine Anstellung in Vollzeit. Der zunächst auf 15 Wochenstunden beschränkte Arbeitsvertrag wurde später zwar aufgestockt, jedoch reichte das Einkommen nicht aus, um den Lebensunterhalt der Familie vollständig aus eigener Erwerbstätigkeit zu finanzieren. Intensive Bemühungen um einen Vollzeitarbeitsplatz - dem Flüchtlingsrat liegen unzähliche Bewerbungen um eine Vollzeitstelle vor - blieben zunächst erfolglos.

Da ein Arbeitsvertrag in Vollzeit bis Herbst 2011 noch nicht umgesetzt war, entzog die Ausländerbehörde des Landkreis Stade Gani Fazlijaj Ende des Jahres 2011 die Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung, eine vollständige Lebensunterhaltssicherung sei der Familie nicht möglich. Darüber hinaus entzog die Ausländerbehörde Gani Fazlijaj die Arbeitserlaubnis - mit der Folge, dass die Firma Küncke das Arbeitsverhältnis zum 10. November 2011 auflösen musste. Obwohl die Familie sich weiterhin intensiv um Arbeit bemühte und im Februar 2012 auch zwei Angebote über die Einstellung des Familienvaters in Vollzeit zu einem Stundenlohn von 11,70 Euro vorlegen konnte, blieb der Landkreis Stade hart und erklärte, für eine Aufenthaltserlaubnis sei es jetzt "zu spät".

Daraufhin wandte sich die Familie an die niedersächsische Härtefallkommission, die jedoch die Bitte der Familie um eine weitere Chance auf der Grundlage einer sehr negativen Stellungnahme des Landkreises Stade ablehnte. Unter anderem hatte der Landkreis Stade fälschlich behauptet, Gani Fazlijaj habe den Hauptschulabschluss nicht erreicht. Dass alle Familienangehörigen in Deutschland leben und zu einem Großteil eingebürgert sind, reichte als Argument ebenso wenig aus wie Leumundszeugnisse, die eine breite Akzeptanz und Unterstützung der Familie in ihrer Gemeinde dokumentierten, und unzählige Bescheinigungen über Qualifikationen, Bewerbungen und Arbeitsleistungen in der Vergangenheit.

Die Familie Fazlijaj hat nahezu ihr gesamtes Leben in Deutschland verbracht. Eine qualifizierte Ausbildung scheiterte u.a. an der damaligen rigiden Praxis der Behörden, geduldeten die Erlaubnis hierfür zu verweigern. Obwohl sich die Familie intensiv um Arbeit bemüht und immer wieder auch gearbeitet hat, wurde sie jetzt in die Romaghettos im Kosovo abgeschoben, weil sie nach Auffassung der LK Stade und des niedersächsischen Innenministeriums wirtschaftlich nicht leistungsfähig genug ist.

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Quelle:
Pressemitteilung vom 22. August 2012
Flüchtlingsrat Niedersachsen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2012