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INTERVIEW/158: Klimagegengipfel - auf der eigenen Scholle stehen ...     Aktivist Flip im Gespräch (SB)



ASEED Europe (Action for Solidarity, Equality, Environment, and Diversity Europe) nennt sich ein Netzwerk internationaler AktivistInnen, das gegen die strukturellen Gründe ökologischer Zerstörung und sozialer Ungerechtigkeit mobil macht. Weit darüber hinaus, Ernährung auf Fragen individueller Vorlieben oder verbraucherorientierter Qualitätskontrolle zu reduzieren, geht es um die Kritik der industriellen Landwirtschaft und ihrer kapitalistischen Voraussetzungen. Hier ist insbesondere an den Zugang zu Land, seine Kommodifizierung als Objekt von Monopolinteressen und seine Inwertsetzung im System des transnational organisierten Landraubes zu denken. Doch auch die vielen anderen Bedingungen landwirtschaftlicher Nahrungsmittelproduktion wie die Verfügbarkeit von Wasser, von Saatgut, von Landmaschinen und Düngemitteln als auch der große Einfluß der Bewirtschaftung von Pflanzen und Tieren auf den Klimawandel sind Themen, mit denen die AktivistInnen von ASEED kritisch befaßt sind.

1991 in Sicht auf die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (UNCSD) in Rio de Janeiro gegründet ist ASEED zu einem dezentralen Netzwerk herangewachsen, das auf mehreren Kontinenten regionale Knotenpunkte unterhält, wo den spezifischen Problemen der jeweiligen Regionen gemäß Kampagnen und Aktionen initiiert werden. Der Kampf gegen den Anbau genetisch veränderten Saatgutes und den massiven Einsatz fossiler Energie in der Agrarindustrie, gegen die Patentierung von Bioorganismen und den Schwund an Biodiversität kreist um das Prinzip der Ernährungssouveränität, anhand derer sich die verschiedenen sozialen und ökologischen Fragestellungen zusammenführen lassen. So hat sich der Samen ASEED wie ein Geflecht von zugleich widerständiger und anziehender Art in aller Welt ausgebreitet, um an den Herausforderungen einer monopolistischen, ausschließlich Kapitalzwecken verpflichteten und damit höchst destruktiven Verwertungslogik weiter zu wachsen.

Auf dem zentralen Platz des People's Climate Summit am Rheinufer in Bonn-Beuel traf der Schattenblick den bei ASEED in Amsterdam organisierten Aktivisten Flip und fragte ihn nach der Arbeit seiner Gruppe.

Schattenblick (SB): Flip, könntest du erklären, worum es bei Ernährungssouveränität geht?

Flip: Es geht um das Recht der Menschen, die Nahrungsmittel zu produzieren und zu verbrauchen, die sie gerne nutzen wollen. Ernährungssouveränität ist nicht mit Ernährungssicherheit zu verwechseln. Dabei handelt es sich eher um einen Top-down-Ansatz. Wenn man etwa bei einer Hungerkrise Reis und Speiseöl zur Verfügung stellt und die Menschen satt macht, dann hat man Ernährungssicherheit hergestellt. Ernährungssouveränität heißt nicht, daß jeder seine eigenen Nahrungsmittel anbauen muß, aber es geht um die Möglichkeit, sein Ernährungssystem auf selbstbestimmte, faire und nachhaltige Weise zu organisieren. Dabei wird häufig zu Methoden der Agrarökologie und des bioorganischen Landbaus gegriffen, zudem gibt es einen starken Bezug zur Herstellung lokaler Erzeuger- und Verbraucherstrukturen.

Das heißt nicht, daß Ernährungssouveränität immer lokal organisiert und sein muß oder nur mit biologischem Anbau funktioniert. Die Definition von Ernährungssouveränität ist nicht so streng umgrenzt, sondern es geht vor allem darum, eine Alternative zur industriellen Nahrungsmittelproduktion herzustellen, also den Problemen der Umweltzerstörung und Machtkonzentration entgegenzutreten [1].

SB: Wie geht ihr mit dem Problem um, daß viele Menschen aus Gründen niedrigen Einkommens dazu gezwungen sind, Nahrungsmittel minderer Qualität zu verzehren? Oder anders gefragt, inwiefern ist Ernährung für euch auch eine Klassenfrage?

Flip: Was für den einzelnen Menschen gute Nahrung darstellt, ist sicherlich auch eine Frage der persönlichen Wahl. Natürlich bedeutet der Unterschied von arm und reich, das es auch eine Klassenfrage ist, aber auf der anderen Seite wird dieses Argument auch dazu mißbraucht, gar nichts zu tun: Es ist ein Klassenproblem, ich brauche ein höheres Einkommen, um mir biologische Nahrungsmittel kaufen zu können. In den Niederlanden und in Deutschland werden nur zehn Prozent des Erwerbseinkommens für das Essen verwendet. Wenn sie das Geld nicht für einen neuen Fernseher ausgeben würden, dann würde es auch für gute Nahrungsmittel ausreichen. Manchmal wird dieses Argument zu leichtfertig dazu benutzt, beim Einkaufen zu Lidl und nicht auf einen Bauernmarkt zu gehen.

SB: Die Niederlande sind Standort einer hochproduktiven Agrarindustrie. Inwiefern beschäftigt ihr euch mit diesem Thema?

Flip: Ich finde es sehr wichtig, daß in den Niederlanden ein Bewußtsein für die sozialökologischen Auswirkungen der industriellen Landwirtschaft entsteht. Die Niederlande sind zum einen ein großer Akteur im internationalen Handel mit Agrarprodukten, zum anderen werden technologisch hochentwickelte Produktionsmethoden eingesetzt, worauf man durchaus stolz ist. Nach den USA sind die Niederlande, obwohl es so ein kleines und dichtbevölkertes Land ist, der zweitgrößte Exporteur von Agrarprodukten. In Rotterdam treffen die agrarischen Rohstoffe für die Tierproduktion ein, was eines unserer Schwerpunktthemen ist, und in Amsterdam werden die daraus erzeugten Produkte wieder exportiert. Das wird auch das Thema unserer kleinen Demonstration morgen sein [2].

Wie pestizidbelastet Schnittblumen sind, ist allgemein bekannt, aber sie werden auch nicht verzehrt. Zwar gibt es Grenzwerte für Nahrungsmittel, aber auch die importierten Futtermittel für die Fleisch- und Milchproduktion sind erheblich mit Pestiziden belastet. Ein anderes Problem sind die Gewächshäuser. Ich bin nicht gegen jedes Gewächshaus, aber es ist lächerlich, so viele davon zu haben und sie im Winter mit Gas zu beheizen, um Tomaten für ganz Europa zu produzieren. Zum Teil werden auch Tomaten aus Spanien importiert und dann wieder von den Niederlanden nach Spanien exportiert. Es ist ein absurdes System. Auf jeden Fall lohnt es sich, Kampagnen zu initiieren, die auf diese Probleme aufmerksam machen.

SB: Deutsche Energiekonzerne exportieren Strom in die Niederlande, von dort wird wieder Gülle nach Deutschland exportiert, zudem investieren niederländische Agrarunternehmen stark in der Bundesrepublik. Wie weit geht diese Zusammenarbeit?f

Flip: Ich glaube, auf den Gülleexport entfällt nur ein kleiner Teil des ganzen Volumens der Agrarexporte in die Bundesrepublik. In viel größerem Ausmaß werden Anlagen zur Schweinemast von den Niederlanden nach Deutschland verfrachtet und dort betrieben. Auch Landwirtschaftsgeräte und Gewächshäuser werden in die Bundesrepublik exportiert. Es geht ums Knowhow, und die niederländische Regierung fördert diese Form von Technologietransfer. Die Landwirtschaftsuniversität in Wageningen ist sehr stolz auf ihr Public-Private-Partnership mit Monsanto. Der Konzern betreibt ein direkt am Campus der Uni gelegenes Forschungslabor. Auch eines der größten Molkereiunternehmen, Friesland Campina, unterhält dort eine Einrichtung. Bislang jedenfalls unterstützt die Regierung in Den Haag die enge Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftseinrichtungen und den großen privatwirtschaftlichen Akteuren der Agrarindustrie.

SB: Inwiefern ist ASEED auf finanzielle Mittel von privaten oder staatlichen Geldgebern angewiesen?

Flip: Die Arbeit wird hauptsächlich auf freiwilliger Basis geleistet, das heißt die AktivistInnen verrichten sie neben ihrem normalen Lebenserwerb. Für einzelne Projekte werden mitunter Gelder von öffentlichen Einrichtungen bereitgestellt, was natürlich sehr praktisch ist. Was wir jedoch niemals tun, ist unsere politische Botschaft aufgrund einer Förderung zu verändern. Es ist nicht einmal so schwierig, finanzielle Mittel für relativ radikale Aktionen zu erhalten. Viel schwieriger ist es, die Bereitstellung von Geldern für den laufenden Betrieb wie etwa ein kleines Büro, in dem wir unsere Computer aufstellen und arbeiten können, zu ermöglichen. So fällt es viel leichter, Fördermittel für eine radikale Aktion zu bekommen als für die Miete eines Büros.

SB: Wie reagieren die Menschen in den Niederlanden auf eure Aktionen?

Flip: Im allgemeinen positiv. Am stärksten von der Öffentlichkeit frequentiert wird die große Samenmesse Reclaim The Seeds. Dort geht es um die Bedeutsamkeit des freien Zugangs zu Saatgut, des Erhalts seiner Biodiversität wie des Austausches von Samen unabhängig von der EU-Saatgutverordnung. Diese Messe wird von vielen normalen Bürgern besucht, die über einen kleinen Garten verfügen. Das ist für uns eine hervorragende Gelegenheit, unsere politische Botschaft mit der praktischen Seite der Kampagne zu verbinden. Die Menschen kommen nicht, um sich einen Vortrag über Agrarpolitik anzuhören, sie kommen, um Samen für die nächste Pflanzsaison zu erhalten.

Ansonsten sind wir vor allem unter AktivistInnen selbstorganisierter Landwirtschaftsinitiativen bekannt, was manchmal darauf hinausläuft, den bereits Bekehrten zu predigen. Es ist viel wichtiger, die Menschen zu erreichen, die noch nicht auf unserer Seite sind, und sie über die Mechanismen der kapitalistisch organisierten Agarindustrie und ihre neoliberalen Handelsstrukturen aufzuklären.

SB: Flip, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Näheres zum Thema Ernährungssouveränität und den politischen Positionen der Initiative ASEED findet sich in der Broschüre "Die KlimaKrise ist eine Krise des Lebensmittelsystems - Leistet dem industriellen Lebensmittelsystem Widerstand, um eine bessere Zukunft zu kultivieren"
https://aseed.net/pdfs/ASEED-klima-lebensmittelsystem-brochure-deutsch.pdf

[2] http://aseed.net/en/climate-activists-demonstrate-against-the-german-animal-feed-association/


Bisher im Schattenblick unter BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT zum People's Climate Summit (PCS) in Bonn, mit dem kategorischen Titel Klimagegengipfel versehen, erschienen:

BERICHT/097: Klimagegengipfel - Demo der Gemäßigten ... (SB)
BERICHT/101: Klimagegengipfel - Kernenergie schon gar nicht ... (SB)
BERICHT/102: Klimagegengipfel - Erdgas, keine Option ... (SB)
BERICHT/103: Klimagegengipfel - gemeinsam marschieren, getrennt schlagen ... (SB)

INTERVIEW/135: Klimagegengipfel - Kafkaeske Weisheiten ...     Uwe Hiksch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/136: Klimagegengipfel - Störfall Wirtschaft und Energie ...     Dipti Bathnagar im Gespräch (SB)
INTERVIEW/139: Klimagegengipfel - nur noch wenig Zeit ...     Franziska Buch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/140: Klimagegengipfel - agrarindustrielle Fleischproduktion abschaffen ...     Matthias Ebner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/142: Klimagegengipfel - Eskalation und Gegenwehr ...     Jonas Baliani (Ende Gelände) im Gespräch (SB)
INTERVIEW/143: Klimagegengipfel - wider besseren Wissens ...     Makereta Waqavonovono im Gespräch (SB)
INTERVIEW/144: Klimagegengipfel - die auf der Strecke bleiben ...     Barbara Unmüßig im Gespräch (SB)
INTERVIEW/145: Klimagegengipfel - integrative Linksdiskussion ...     Dagmar Enkelmann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/146: Klimagegengipfel - Antikernkraft und der lange Marsch ...     Don't-Nuke-the-Climate!-Aktive im Gespräch (SB)
INTERVIEW/147: Klimagegengipfel - umgelastet ...     Titi Soentoro im Gespräch (SB)
INTERVIEW/148: Klimagegengipfel - Flucht, Gewalt und Frauenelend ...     Samantha Hargreaves im Gespräch (SB)
INTERVIEW/149: Klimagegengipfel - demokratische Ergebnisnot ...     Sean Sweeney im Gespräch (SB)
INTERVIEW/150: Klimagegengipfel - Gas geordert, Stopp gefordert ...     Frida Kieninger und Andy Gheorghiu im Gespräch (SB)
INTERVIEW/151: Klimagegengipfel - Front aller Orten ...     Nataanii Means und Rafael Gonzales im Gespräch (SB) INTERVIEW/152: Klimagegengipfel - Demokratie nur von unten ...     Magdalena Heuwieser im Gespräch (SB)
INTERVIEW/153: Klimagegengipfel - Laßt euch nicht täuschen ...     Doris Linzmeier im Gespräch (SB)
INTERVIEW/154: Klimagegengipfel - Selbstverteidigung ...     Tetet Lauron im Gespräch (SB)
INTERVIEW/155: Klimagegengipfel - gestutzte Sozial- und Umweltrechte ...     Dr. Roberto Ferdinand im Gespräch (SB)

8. Dezember 2017


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