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INTERVIEW/138: Mahlzeit kalt - unter Obdachlosen allein ...    Udo im Gespräch (SB)


Gespräch in Hamburg-St. Pauli am 20. Oktober 2017

Udo lebt seit mehreren Jahren auf der Straße. Beim "Cold Dinner" [1] unter einer Brücke am Hamburger Fischmarkt beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu den Problemen Wohnungsloser und zur Lebenssituation von Menschen, die auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, um in diesem wohlhabenden Land nicht unterzugehen.


Schattenblick (SB): Auf der Veranstaltung hier unter der Brücke wird ein politisches Anliegen vertreten. Müßte nicht viel mehr gemacht werden, um Menschen, die keine Wohnung oder andere Mängel haben, unter die Arme zu greifen?

Udo: Es ist wichtiger denn je, etwas zu tun, aber es wird viel zu wenig unternommen. Eigentlich müßte man die Politiker noch mehr wachrütteln, aber ich denke, sie wissen das alles längst. Nun ist es eben so, daß das Thema verdrängt wird, weil es keine Wichtigkeit hat. Es betrifft nur ein paar tausend Menschen.

SB: Ein paar Tausend ohne Wohnung, das bezieht sich jetzt aber nur auf Hamburg?

Udo: Ja. Berlin hat etwa 6000 bis 10.000 Obdachlose. Man weiß es nicht so genau, aber es sind halt keine Massen, und von daher sind sie unbedeutend.

SB: Wie reagieren Menschen auf Sie, wenn Sie im Alltag unterwegs sind, wird auf Distanz gegangen oder gibt es auch welche, die sich für Sie interessieren?

Udo: Solche gibt es auch. Wie heißt es so schön, wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Wenn man ein vernünftiges Auftreten hat, kommt man eigentlich immer zurecht. Ein Stück weit sind die Obdachlosen selber schuld, wenn sie schlecht behandelt werden. Das liegt an jedem selbst.

SB: Allgemein wird immer behauptet, wer in dieser Gesellschaft durch den Rost fällt, wäre selber daran schuld. Was würden Sie dem entgegnen?

Udo: Stimmt nicht. Ich stand auch einmal auf der anderen Seite, habe bis vor vier Jahren in München noch gutes Geld verdient, aber dann bin ich krank geworden. So schnell kann man gar nicht gucken, wie man ins Elend fällt. Man sagt immer, es gäbe einen Kündigungsschutz, aber mir ist während meiner Krankheit gekündigt worden. Daraufhin habe ich Klage eingereicht und den Rechtsstreit um eine Abfindung auch gewonnen, aber dann ist die Firma in Konkurs gegangen. So bin ich auf einem Teil der Prozeßkosten sitzengeblieben, war ziemlich viel Geld.

Weil ich kein Arbeitslosengeld bekommen habe, bin ich zum Arbeitsamt gegangen und habe Hartz IV beantragt. Ich habe alles angegeben, auch die Kapitallebensversicherung auf Rentenbasis. Daraufhin sagte mir das Arbeitsamt, die müssen sie erst einmal verbrauchen. Solange sie die Lebensversicherung haben, zahlen wir nichts. Das Geld ist ja meine Altersvorsorge. 30 Jahre habe ich eingezahlt, 25 Jahre im Arbeitsleben plus 5 Jahre beitragsfrei. Die läuft noch anderthalb Jahre, und das ziehe ich durch. Hätte ich die Versicherung verkauft, hätte ich unglaublich viel verloren. Ich habe noch eine Verzinsung von 6,5 Prozent, kriegt heute doch keiner mehr. Deshalb habe ich den Leute vom Amt auch gesagt, nein, das mache ich nicht. Andernfalls hätte ich 43 Prozent weniger gehabt. Ich habe mir ausgerechnet, daß ich dann mit 70 pleite wäre. Ja, sagte man mir, dann kommen sie mit 70 wieder.

SB: Würden Sie denn gerne ins normale bürgerliche Leben zurückkehren?

Udo: Wenn mir eine gute Fee sagen würde, hier hast du ein Zimmer und einen kleinen Job, würde ich sofort, von jetzt auf gleich, einen Schnitt machen, ohne Wehmut, ohne irgend etwas.

SB: Haben Sie mit anderen Menschen, die auf ähnliche Weise betroffen sind, gute Kontakte, daß man sich gegenseitig unterstützt, oder ist auch Konkurrenz im Spiel?

Udo: Ich weiß nicht, ob es Konkurrenz ist, aber jeder ist erst einmal ein Einzelkämpfer. Sicherlich gibt es auch Menschen, mit denen man gut klarkommt, aber die findet man eher selten. Darum ist es nicht nur die Obdachlosigkeit, die einem zusetzt, auch die Einsamkeit der Menschen ist sehr groß.

SB: Wenn soviele Menschen isoliert sind und sich den Verhältnissen gegenüber ohnmächtig fühlen, warum schließen sie sich dann nicht zusammen, stehen auf und machen etwas gemeinsam?

Udo: Ich kann nicht für die anderen sprechen, sondern nur für mich selbst. Ich habe so etwas schon einmal gemacht, und es funktioniert teilweise auch, aber wir haben keine Lobby und wir kriegen keine Lobby. Ich war bis vor einem Jahr in Berlin. Am Spreeufer, direkt gegenüber dem Reichstag, hatten wir ein Zeltlager aufgeschlagen. Dann hieß es, wir sollten geräumt werden. Daraufhin habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, mit Politikern gesprochen, hin und her, der Termin wurde aufgeschoben, aber letzten Endes kam dann doch die Räumung. Es ist eben so, wir können nichts ausrichten.

SB: Gab es keine Solidarität? In Berlin ist die Linke doch relativ stark.

Udo: Jan van Aken, mein Freund, hat sich sehr engagiert und uns unterstützt, aber es hatte keine Relevanz, obwohl Sat.1, Kulturzeit und diverse Zeitungen [2] darüber berichtet haben. Ich war beim Bezirksbürgermeister, als wir geräumt werden sollten, und habe mich auch für die anderen eingesetzt, aber es brachte nichts. Wir waren die Friedlichsten auf der Welt, haben keinen Müll gemacht, aber dann sind 50, 60 Polizisten mit Mannschaftswagen gekommen und haben geräumt, da bekommst du Angst.

SB: In Hamburg leben Leute seit längerem unter Brücken oder in Zelten, ohne daß geräumt wird. Wie ist das Verhältnis in den großen Städten, wenn man draußen schläft, wird es geduldet oder werden Verbote erlassen?

Udo: Verboten ist es grundsätzlich, ob nun in öffentlichen Parks oder sonstwo. Geduldet wird es nicht wirklich, nur stillschweigend hingenommen. Man wird keinen Politiker finden, der sagt, wir dulden das. Sie lassen es nur bis auf weiteres zu, aber wenn geräumt wird, wird geräumt. Kein Politiker würde sagen, du darfst hier bleiben.

SB: Wie wirkt sich dieser permanente Streß, jederzeit vertrieben werden zu können von dort, wo man gerade lebt, auf Sie persönlich aus?

Udo: Ich bin jetzt noch nicht lange wieder hier in Hamburg und war, wie gesagt, vorher in Berlin. Im Sommer bin ich einfach getrampt, mal hierhin, mal dorthin, jetzt bin ich seit einer Woche in Hamburg und schlafe am Michel, weil der Pastor es duldet. Von abends 7 Uhr bis morgens 7 Uhr kann ich bleiben, dann muß ich mit den Sachen weg. Aber immerhin habe ich für eine Weile ein Dach über dem Kopf. Um halb zehn abends kommt der Bus, und man kriegt noch eine Brühe. Das ist wunderbar, es geht.

SB: Aber nur, solange es einigermaßen warm ist.

Udo: Na gut, man hat ja einen Schlafsack. Bis null Grad geht das schon.

SB: Und im Winter, wenn es richtig kalt wird? Haben sie immer etwas gefunden, wo Sie unterkommen können?

Udo: In dem Zelt in Berlin hatte ich mir mit Grabkerzen und Steinen einen Ofen gebaut. Der hat das Zelt auf zehn Grad Innentemperatur gebracht, das war gut. Den Pullover hier hat mir Jan van Aken geschenkt. Er hat mir auch einmal eine Woche in einem Hostel spendiert, damit ich wieder auf die Beine komme. Vor zwei Jahren in Hamburg hatte ich das Glück, im Januar einen Kapitän kennenzulernen. Für drei Monate durfte ich dann auf dem Schiff schlafen. Danach habe ich bei den Landungsbrücken, wo dieser rote Turm stand, den sie inzwischen abgerissen haben, Platte gemacht. So gesehen habe ich den kalten Winter nicht wirklich erlebt.

SB: Nehmen Sie auch Angebote wie CaFée mit Herz [3] hier auf St. Pauli in Anspruch?

Udo: Essensmäßig, auf jeden Fall. Ist eine gute Einrichtung. Da waren wir heute Mittag noch.

SB: Wie unterscheiden sich solche Initiativen von städtischen Angeboten?

Udo. Städtische Angebote kenne ich nicht. Sind alles nur private Initiativen.

SB: In Berlin gibt es viele Wagenplätze. Bot sich da für Sie nicht eine Möglichkeit?

Udo: Keine Ahnung, aber in Berlin gibt es im Winter nur 600 Schlafplätze, aber weit mehr Obdachlose. Irgend etwas stimmt da nicht.

SB: Und wer stellt die Schlafplätze?

Udo: Die Stadt. Zur Not, wenn es bitter kalt wird, machen sie die U-Bahnhöfe auf. Dann wird gesagt, ihr könnt in diesen oder jenen Bahnhof gehen.

SB: In Berlin heißt es, daß viele Leute aus Osteuropa kommen, um diese Angebote in Anspruch zu nehmen.

Udo: Ja natürlich, ist hier auch nicht anders, wobei es in Berlin überwiegend Polen sind. Dort gibt es ein Programm, das ich grenzwertig finde. Sie versuchen, die Polen mit Bussen wieder zurückzubringen. Dann kriegen sie einen Hunderter auf die Hand, werden quasi zur Rückkehr überredet. Pfiffige Polen fahren dann immer hin und her und kriegen jedesmal einen Hunderter. Auch ein Geschäftsmodell.

SB: Gibt es unter den Menschen, die so etwas ähnliches erleben wie Sie, auch Leute aus gutsituierten bürgerlichen Kreisen, die mehr oder minder auf der Straße landen?

Udo: Ja. Mein Nachbar in Berlin hat 17 Jahre bei der EZB in Frankfurt gearbeitet. Meine erste Frage an ihn war: Hast du Geld veruntreut? Nun, er war kein Banker, sondern hat in der Verwaltung gearbeitet, hatte mit Geld nichts zu tun. Nach 17 Jahren hatte er einen Burnout, hat alles hingeschmissen und ist seitdem auf der Straße. Einige Zeit hat er in Hotels gelebt, doch dann wurde das Geld immer weniger, weniger, weniger.

SB: Gibt es auch Menschen, die einfach psychisch fertig sind und das normale Leben nicht mehr ertragen und deshalb auf die Straße gehen?

Udo: Sowohl als auch. Viele werden jedoch erst auf der Straße psychisch krank. Sind so zwei Paar Schuhe. Die einen brechen aus, weil sie den Druck nicht mehr ertragen, und die anderen brechen zusammen, weil sie auf der Straße leben. Ich merke es ja an mir. Es gibt solche Tage und solche Tage. Manchmal ist alles in Ordnung und manchmal kotzt es dich an. Dann fängst du an zu zweifeln und fragst dich, warum mache ich das überhaupt.

SB: Würde jemand, der nichts auf der Naht hat, Hartz IV bekommen, auch wenn er keine feste Wohnadresse besitzt?

Udo: Das ist nicht einfach. Man braucht eine Postadresse oder wenigstens eine Adresse, auf die man gemeldet ist, sonst gibt es kein Geld. Und ohne kann der Absturz schneller gehen, als man denkt.

SB: Nun wird immer behauptet, daß so etwas in der Bundesrepublik gar nicht möglich wäre, weil wir ein soziales Sicherungsnetz hätten.

Udo: Dann müssen die Leute mal die Augen aufmachen und sich umschauen, dann würden sie tausendfaches Leid sehen. Vor allen Dingen haben wir aber keine Lobby, und selbst wenn wir uns zusammenschließen, ist es doch so, daß die Leute, die Subventionen kriegen, viel wichtiger für die Gesellschaft und den Staat sind als wir. Banken werden gerettet auf Teufel komm raus. Wenn ich daran denke, kriege ich die Wut. Ich bin ein künstlerisch affiner Mensch und muß zugeben, daß die Elphi architektonisch gesehen sehr schön ist, aber was hätte man für die Milliarde hier in Hamburg alles tun können? So kommt der Prunkbau nur 5000 Menschen zugute, die sich in der Elbphilharmonie schöne Musik anhören. Für das Geld hätte ansonsten viel bewegt werden können.

SB: Offensichtlich tauchen Menschen, die in dem gesellschaftlichen Tauschverhältnis nichts zu bieten haben, nirgends auf.

Udo: Mäzene oder Musikliebhaber lassen gerne ein paar Millionen springen, um Konzerte zu organisieren, aber an uns Obdachlosen gehen sie vorbei, ohne einen müden Cent in den Hut zu werfen. Ja, wie pervers ist das?

SB: Udo, vielen Dank für das offenherzige Gespräch.


Fußnoten:

[1] BERICHT/098: Mahlzeit kalt - ein sicherer Platz und ein Bett für jeden ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0098.html

[2] https://www.pressreader.com/germany/märkische-allgemeine/20170207/282815010982613

[3] http://cafeemitherz.de

13. November 2017


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