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INTERVIEW/062: Aufbruchtage - Beweglich, demokratisch und global ...    Maggie Klingler-Lauer im Gespräch (SB)


Protest gegen Stuttgart 21 international vernetzt

Interview am 5. September 2014 in der Universität Leipzig



Die Sozialarbeiterin und Gewerkschafterin Maggie Klingler-Lauer ist seit 2008 in der Protestbewegung gegen das umstrittene Stuttgarter Bahnhofsprojekt aktiv, besonders in der Gruppe der "GewerkschafterInnen gegen Stuttgart 21". Sie ist Verbindungsglied zum internationalen Netzwerk der Protestbewegungen gegen unnütze und aufgezwungene Megaprojekte.

Auf der Degrowth-Konferenz an der Universität Leipzig wurde zum Themenstrang "Mobilität und Verkehr" in zwei Workshops und einem nachfolgenden Panel diskutiert. In einem der beiden Workshops erörterte Maggie Klingler-Lauer zusammen mit Bernhard Knierim (Netzwerk solidarische Mobilität) den Widerstand gegen Großprojekte und Alternativen zum herrschenden Verkehrssystem. Zudem gehörte sie zu den Podiumsteilnehmerinnen des Panels, bei dem die Thematik zusammengefaßt und auf Konsequenzen abgeklopft wurde. Am Rande der Konferenz nahm der Schattenblick die Gelegenheit wahr, ein Gespräch mit Maggie Klingler-Lauer zu führen.

In Mütze, Schal und Anorak - Foto: © 2014 by Julien Fertl

Maggie Klingler-Lauer
Foto: © 2014 by Julien Fertl

Schattenblick: Maggie, welche persönliche Vorgeschichte hat dich zum Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 geführt?

Maggie Klingler-Lauer: Ich bin seit gefühlten hundert Jahren politisch aktiv. Das begann schon mit der Naturfreundejugend. Ich bin Gewerkschafterin, war bis vor kurzem Vertrauensfrau beim Jugendamt und arbeite momentan beim Krisennotfalldienst in Stuttgart, der nachts für Menschen offensteht, die unter psychischen Problemen leiden oder von Obdachlosigkeit betroffen sind. Leider ist dieser Dienst ständig durch Mittelkürzungen gefährdet. Ich war auch in der Friedens- und Antiatomkraftbewegung in Stuttgart. Mit meiner damals gerade geborenen Tochter habe ich 1983 mitgeholfen, die Menschenkette vom EUCOM in Stuttgart bis zur Stationierungsstätte für die Raketen der sogenannten Nachrüstung in Neu-Ulm zu organisieren. Über all diese Aktivitäten kam ich schließlich zum Projekt Stuttgart 21.

SB: Der Widerstand gegen das Bauprojekt kam für die Betreiber ziemlich überraschend. Könntest du aus deiner Sicht die einzelnen Etappen und Erfahrungsschwerpunkte des Stuttgarter Protests schildern?

MKL: Den Widerstand gegen Stuttgart 21 gibt es schon sehr lange, im Grunde seit dem Moment, als das Projekt der Öffentlichkeit überfallartig vorgestellt wurde. Umweltverbände wie BUND und Naturfreunde und die von den Tunnelbaumaßnahmen betroffenen Anwohner hatten sich schon frühzeitig dem Widerstand und der Opposition gegen Stuttgart 21 angeschlossen. Bundesweit bekannt wurde der Widerstand, als der Park und das Bahnhofsgebäude, worin viele das Herz Stuttgarts und ein Kulturdenkmal sehen, dem Projekt zum Opfer fallen sollten. Vor allem der drohende Verlust des Parkes griff in die Grundbedürfnisse der Menschen ein. Denn der Park ist ein Treffort für Tausende von Menschen, die in den Talauen in schlechten Wohnverhältnissen ohne Balkons leben. Der Park ist sozusagen ihr zweites Wohnzimmer und ihre Sommerresidenz.

Den Widerstand dagegen hat eine Einzelperson aufgegriffen, als sie das Forum Parkschützer gründete, in dem sich inzwischen 35.000 Einzelpersonen eingetragen haben. Als 2010 der Nordflügel des Bahnhofs abgerissen werden sollte, begaben sich plötzlich Tausende Menschen dorthin. Darunter war beispielsweise ein Mann mit einer Trommel, zu dem sich andere gesellten und nachfragten, ob sie mitspielen könnten. So entwickelten sich auch Musikgruppen. In einer dieser Gruppen mit dem Namen "Lokomotive Stuttgart" spiele ich inzwischen selbst Perkussionsinstrumente. Wir trommeln den Samba als Widerstandsmusik und laufen den Demonstrationen immer voraus. Oder es kamen Leute, die fotografierten, Filme machten, für Zeitungen schrieben, eben sehr viele kreative Gruppen.

SB: Von seiten der Polizei wurde Repression in einem Maße ausgeübt, wie man es in der Auseinandersetzung gar nicht erwartet hätte. Hast du selbst Erfahrungen damit gemacht oder als Augenzeugin Polizeiübergriffe miterlebt?

MKL: An dem sogenannten Schwarzen Donnerstag, der sich am 30. September zum vierten Mal jährt, war eine Schülerdemonstration angekündigt. Offenbar hoffte der damalige Ministerpräsident Mappus, daß von dieser Demonstration Gewalttaten ausgehen würden, die er dazu nutzen könnte, die Projektgegner zu kriminalisieren. An diesem Septembertag wollten Schüler für mehr Geld in der Bildung und damit auch indirekt gegen das Wahnsinnsprojekt protestieren. Wir hatten aus zuverlässigen Kreisen die Information erhalten, daß an diesem Tag ein Teil des Parks abgerissen werden sollte. Über Twitter und unsere eigenen Medien wurde dann lanciert, daß der Abriß nachmittags um drei Uhr beginnen sollte. Aber die Polizei war schon um zehn Uhr morgens in den Park eingerückt. Die Schüler hatten dies über Twitter erfahren und waren postwendend in den Park gerannt. Ich erinnere mich, daß ich gerade in einem Beratungsgespräch mit Klienten war, als die Sekretärin hereinstürmte und von Polizeiattacken gegen Schüler im Park berichtete.

Ich brachte das Gespräch noch zu Ende und machte mich dann, wie viele andere auch, auf den Weg zum Park, wo ich zum ersten Mal miterlebte, wie in Stuttgart Wasserwerfer auffuhren. Die Schüler hatten sich in den Bäumen verschanzt. Die Polizei forderte sie auf, von den Bäumen herunterzukommen, sonst würde man sie mit dem Wasserstrahl herunterholen. Ich sah auch Schüler, die einen Polizei-Lkw besetzt hielten, der Hamburger Gitter geladen hatte. Ich konnte auch ein massives Vorgehen der Polizisten beobachten, als sie die Schüler vom Lkw herunterprügelten. Es war ein schreckliches Bild. Ich habe gesehen, wie Menschen große Planen kauften, mit denen sie den Wasserstrahl abhalten wollten. Ich selbst befand mich unter so einer Plane inmitten eines Haufens Schüler, als die Polizei mit den Wasserwerferstrahlen auch Gas unter die Planen spritzte. Wir sind alle hustend weggerannt und wurden von mit Schildern geschützten Polizeiketten an die Wand eines Cafés gedrückt. Zwei Wochen vorher waren in Duisburg durch eine Massenpanik 20 Menschen umgekommen. Ich fürchtete etwas ähnliches, aber wir hatten Glück, das nichts derartiges passierte. Dennoch gab es über 400 Verletzte. Es wird immer von 130 Verletzten gesprochen, aber das waren nur jene, die vom Roten Kreuz versorgt worden sind. Diejenigen, die von unseren Sanitätern betreut wurden, tauchten in der Zählung gar nicht auf. Behandelt wurden vor allem Schlagwunden oder Verletzungen am Auge und am Kopf durch Wasserwerfer.

Kaum bekannt ist, daß der Polizeieinsatz ohne die Anforderung des Roten Kreuzes oder von Notfalleinrichtungen durchgeführt wurde. Das Rote Kreuz wurde sogar daran gehindert, die Verletzten im Park zu versorgen. Ein Rotkreuzwagen, der am Park vorbeifuhr und das Ganze sah, hatte von sich aus den Notfall ausgerufen. Nur dadurch kam das Rote Kreuz überhaupt in den Park. Das wird aber heute nicht verhandelt. Im Augenblick stehen zwei Polizisten vor Gericht, denen man nachweisen will, daß sie an dem Wasserwerfereinsatz beteiligt waren und den Strahl gezielt in Augenhöhe auf Menschen gerichtet hatten, zudem in einer Druckstärke, die gar nicht zulässig war. Ich bin gespannt, wie dieser Prozeß ausgehen wird, aber dennoch steht wieder einmal nur die mittlere Charge der Polizei vor Gericht. Daß Notfahrzeuge nicht zum Einsatz kamen, Polizisten geprügelt haben und Tränen- und CS-Gas verwendet wurden, steht hingegen nicht in der Anklageschrift.

SB: In den Medien tauchte damals das Bild eines älteren Mannes auf, dem ein Auge ausgeschossen worden war.

MKL: Am Tag davor hatte er mir noch vorgelesen. Wir hatten den Park besetzt und ein Zeltdorf errichtet. Zufällig war ich in einen kleinen Kreis geraten, wo er uns allen Geschichten vorgetragen hat. Und am nächsten Tag ist er fast blind! Aber die Verfolgung der Stuttgart-21-Gegner hat System in dieser Stadt. Wir sagen, der Rechtsstaat ist in Stuttgart außer Kraft gesetzt. Die Staatsanwaltschaft hat schon immer mit besonderer Vorliebe politische Aktivitäten ins Visier genommen, die sich für Frieden und gegen Atomkraft einsetzten. Mit dem Protest gegen Stuttgart 21 hat sich das noch einmal massiv verstärkt. Es gibt inzwischen um die 6000 abgeschlossene Verfahren gegen Gegner des Projektes, in denen Menschen wegen Peanuts zu unverhältnismäßig hohen Geld- und auch Haftstrafen verurteilt wurden.

Ein konkretes Beispiel dazu: Jeden Dienstag finden Blockaden der Baustellenfahrzeuge statt. Eine Freundin von mir, die häufig an Blockaden teilnimmt, ging eines Morgens zur Blockadegruppe, um einem Freund etwas mitzuteilen. Sie wollte danach zur Arbeit, weil sie sich an diesem Vormittag nicht freigenommen hatte. An diesem Tag waren zwei Polizisten im Einsatz, die sie kannte und denen auch sie aufgefallen war, weil sie schon öfter etwas an den Bauzaun geschrieben hatte. Nachdem sie sich von ihrem Freund verabschiedet hatte und aus der Blockadegruppe hinaustrat, wurde sie festgenommen. Sie steht demnächst vor Gericht und hat eine Geldstrafe in Höhe von 400 Euro zu erwarten, weil die beiden Polizisten bei der Strafanzeige zu Protokoll gegeben hatten, daß sie bei der Blockade dabei gewesen sei.

Oder ein anderes Beispiel: Einer unserer Fotografen lief am Rande der Baustellen herum und fotografierte dabei auch Polizeifahrzeuge. Plötzlich wurde er von Polizisten festgenommen, die ihm unterstellten, er habe Nägel auf die Straße geworfen, um die Reifen der Polizeifahrzeuge zu beschädigen. Als er den Vorwurf zurückwies, hielten sie ihm eine Handvoll Nägel vor, die sie angeblich von der Straße aufgelesen hätten. Der Mann landete vor Gericht, wo er beteuerte, keine Nägel auf die Straße gestreut zu haben, aber drei Polizisten sagten gegen ihn aus. Schließlich wurde er zu einer Geldstrafe von 750 Euro verurteilt. Er ging in Berufung, aber daraufhin erhöhte sich die Strafe auf 1500 Euro plus Gerichtskosten. Solche Dinge passieren in Stuttgart.

SB: Aufgrund welcher Tatbestände wurden Haftstrafen verhängt?

MKL: Einige haben eine Haftstrafe angetreten, weil sie die Geldstrafe nicht zahlen wollten. Dabei ging es um kurze Haftzeiten bis zu vier Wochen. Ein anderer Mann saß vier Monate in Untersuchungshaft. Als am 20. Juni 2011 der Bauzaun zum Baugelände von ein paar Aktivisten niedergerissen wurde und Tausende ins Gelände strömten, soll er einen Polizisten in Zivil, der sich auf dem Gelände aufhielt, niedergeschlagen und schwer verletzt haben. Richtig ist, daß es zu einer Rangelei mit diesem Zivilpolizisten kam, und richtig ist auch, daß dieser Mann an der Rangelei beteiligt war, aber nicht richtig ist, daß der Zivilpolizist schwer verletzt wurde. Dennoch wurde der Beschuldigte jetzt zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt, gegen die er jedoch Berufung eingelegt hat. In dieser Sache sind noch weitere 200 Personen angezeigt. Wir rechnen mit Freiheitsstrafen auf Bewährung. In einem anderen Fall wollte die Staatsanwaltschaft einer Frau versuchten Mord anhängen. In der Verhandlung wurde die Anklage jedoch in versuchten Totschlag umgewandelt. Sie bekam zuletzt eine Freiheitsstrafe auf Bewährung. Fakt war, daß die Frau bei einer Blockadeaktion von zwei Polizisten hochgehoben und weggetragen werden sollte. Sie hat einen der Polizisten weggestoßen. In der Nähe stand ein Lastwagen. Der Fahrer war nicht einmal im Führerhaus, aber dennoch stützte sich die Anklage darauf, daß der Polizist unter diesen Lastwagen hätte fallen und getötet werden können.

SB: Hat sich dein Verständnis von Rechtsstaatlichkeit im Zuge der Polizeirepression verändert?

MKL: Nein, nicht wirklich. Ich bin Sozialarbeiterin von Beruf und habe auch schon bei der Bewährungshilfe gearbeitet. Ich weiß, daß wir eine Klassenjustiz haben und daß insbesondere in Stuttgart nie gegen Nazis eine Anklage erhoben wurde. Dazu gibt es sogar einen aktuellen Fall. Das italienische Dorf Sant'Anna di Stazzema wurde von SS-Leuten 1944 nahezu ausgelöscht. Es gibt noch einen Angehörigen, der das Massaker damals als Kind überlebte und gegen drei SS-Leute Strafanzeige gestellt hatte. Alle drei leben in Stuttgart oder zumindest im Amtsbereich der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Diese brauchte zehn Jahre, um zu bescheiden, keine Ermittlungen gegen die SS-Leute aufzunehmen. Von diesen Dingen wußte ich also schon vorher. Aber das Ausmaß, wie in Stuttgart gegen Gegner dieses Projekts vorgegangen wurde, hat mich dann doch überrascht.

SB: In deinem Vortrag erwähntest du, daß ihr auch Kontakte zu anderen Protestgruppen im Ausland pflegt. Könntest du etwas darüber berichten?

MKL: Ja, es gibt ein Netzwerk, das sich einmal im Jahr trifft. Wir nennen die Tagungen Forum. Dort werden viele Fragen diskutiert, zum Beispiel wie wir uns gegenseitig unterstützen können, welche Machenschaften und Hintermänner hinter den Großprojekten stecken, wie sie ablaufen, wer sie betreibt, wer ihre Unterstützer sind, wie Protestbewegungen bekämpft werden und welche Unterschiede es zwischen ihnen gibt. Dabei üben wir natürlich auch Kritik am System des entfesselten Kapitalismus. Vor allem die gegenseitige Unterstützung ist uns wichtig. Ein Beispiel dazu: In Stuttgart mußten wir durch die Schlichtung mit Heiner Geißler gehen. Dieser Versuch der Befriedung ist im Grunde auch geglückt, denn eine ganze Reihe von Gegnern des Projektes ist daraufhin in den Hintergrund getreten. Im Kern kam bei der Schlichtung heraus, daß dieses Projekt durchgezogen werden muß. Das hat zu einer resignativen Haltung bei einem Gutteil der Gegner geführt, was sich auch an den Demonstrationen gezeigt hat. 2013 kam es zu einer Protestbewegung in Notre-Dame-des-Landes, weil nordwestlich von Nantes ein Großflughafen gebaut werden sollte, für den es gar keinen Bedarf gibt. Nachdem eine Welle der Solidarisierung durch Frankreich ging, wurde der Protestbewegung eine Schlichtung angeboten. Daraufhin sagten die Aktivisten: Ihr könnt eine Schlichtung machen, aber ohne uns. Wir wissen von unseren Freunden in Stuttgart, was ihr vorhabt. Das führte dazu, daß sie sich an keiner Schlichtung beteiligten.

Ein anderes Beispiel für die Arbeit des Netzwerkes ist die Protestbewegung gegen den Goldschieferabbau in Rosia Montana in Rumänien. Die kanadische Tochterfirma eines großen US-Konzerns will dort mit Zyanid-Eingabe in den Untergrund Goldschiefer-Fracking betreiben und dazu ganze Bergkuppen abtragen. Dort fand im Mai dieses Jahres das vierte Forum des Netzwerkes statt. Obwohl Rosia Montana im entferntesten Winkel Rumäniens liegt, hat das Forum so viel Aufmerksamkeit im Land erzeugt, daß das Parlament in Bukarest ein paar Wochen später beschloß, der Firma die Abbaurechte zu entziehen. Das war der bisher größte Erfolg des Netzwerkes. Wir sind allerdings skeptisch, ob das Projekt wirklich gestoppt wurde. Wenn TTIP oder CETA kommt, wird die kanadische Firma wahrscheinlich mit Hilfe solcher Handelsabkommen Investorenschutz anmelden und entweder die Beschlüsse des rumänischen Parlaments angreifen oder Schadensersatz fordern.

Ungeachtet dessen beweisen diese Beispiele, daß ein Zusammenschluß den einzelnen Widerstand stärkt und dafür sorgt, daß den Großkonzernen die Flatter geht, wenn sich wie in Brasilien in diesem Jahr Proteste zeigen. Das Zeichen des Netzwerkes ist der weiße Elefant, den man als Geschenk bekommt, der einem aber dann die Haare vom Kopf frißt.

SB: Wie wird diese internationale Zusammenarbeit in eurem Netzwerk organisiert?

MKL: Wir haben das in unserer Gruppe so aufgeteilt, daß immer einzelne Menschen für bestimmte Kontakte zu internationalen Gruppen - von der Protestbewegung in Notre-Dame-des-Landes über das Susatal in Italien und Rosia Montana in Rumänien bis nach Marokko - zuständig sind. Ich pflege mit jemand anderem zusammen die Kontakte in die Türkei, weil ich viel in das Land reise und deswegen dort eine Menge Leute kenne. Im letzten Sommer war ich beispielsweise in Ostanatolien im Bezirk Hatay, der mit eine Hochburg der Juni-Proteste des letzten Jahres war und drei Todesopfer zu beklagen hatte. Ich war auch in Istanbul und hatte dort Kontaktleute getroffen. In dieser Zeit zwischen den Juni-Demonstrationen und den Protesten im September herrschte gerade Waffenstillstand. Mir bot sich dennoch ein erschreckendes Szenario, als ich durch die Istiklal-Fußgängerzone in Istanbul ging und überall Wasserwerfer stehen sah, so, als würden sie wie selbstverständlich zum Straßenbild gehören. Oder ich sah Busse ankommen, die 50 Polizisten, mit Maschinenpistolen bewaffnet, ausspuckten, die sich einfach so in die Fußgängerzone stellten. Ich hätte wirklich Angst davor, in eine Auseinandersetzung mit dieser Polizei zu geraten. Das war schon einige Grade härter als Stuttgart. Aus Gesprächen dort erfuhr ich, daß die Proteste im Juni um den Gezi-Park Vorläufer hatten. Nicht erst die AKP-Regierung und Erdogan im besonderen, auch die Vorgängerregierungen beschritten mit ihren Stadterneuerungsprogrammen einen durch und durch neoliberalen Weg.

So sollte 2005 in Istanbul der Stadtteil Solukule in der Nähe der Altstadt mit der ältesten Roma-Siedlung der Welt einfach niedergewalzt werden, was weltweite Empörung hervorrief. Es war ein sogenanntes Gecekondu, ein durch Jahrhunderte immer wieder über Nacht gebauter Stadtteil, mit einem ganz eigenen sozialen Leben. Ich habe diesen Stadtteil noch kennengelernt, der dann 2009 endgültig aus dem Stadtbild verschwand. Derzeit gibt es in Istanbul 50 Stadtteile, die vom Abriß bedroht sind und deren Bevölkerung nach weit außerhalb umgesiedelt werden soll, um die schöne neue Welt der Konsumtempel und Wohnorte für die Reichen zu errichten. Bereits 2005 begannen Bewohnerproteste in den einzelnen Stadtteilen gegen diese Sanierungsprogramme. All diese Menschen waren dann auf den Plan gerufen, als 2013 der Gezi-Park von der Polizei geschlossen und besetzt wurde. Anders wäre es auch nicht zu erklären, daß sich so viele Menschen plötzlich auf dem Taksim und im Gezi-Park versammelten. Alle Freunde, mit denen ich gesprochen habe, waren zuversichtlich, daß der Gezi-Park nun gerettet sei. Aber das ist nur das kleinste Übel in Istanbul.

In den nördlichen Wäldern von Istanbul soll der dritte große Flughafen gebaut werden, umgeben von einem ausgedehnten Shopping-Mall-Komplex. Außerdem ist ein Kanal vom Schwarzen Meer bis zum Marmara-Meer geplant, mitten durch die Wälder hindurch. Schließlich soll noch eine dritte Brücke über den Bosporus gebaut werden, die ebenfalls Waldgebiete vernichten würde. Istanbul hat noch erstaunlich viel Wald, aber wenn diese drei Projekte verwirklicht sind, wird davon nicht mehr viel übrig sein. Dabei ist Istanbul unmittelbar vom Klimawandel bedroht und braucht dringend Wälder gegen die Ausdürrung. In Istanbul gibt es eine große Protestbewegung, aber wieviel Erfolg sie haben wird, ist ungewiß, zumal sich Erdogan nun als kleiner Sultan aufführt. Ich denke, daß die Auseinandersetzungen dort in Zukunft sehr viel härter sein werden.

SB: Haben sich Türken an den Protesten gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 beteiligt?

MKL: Stuttgart hat eine große türkische Community, und ein Teil davon war bei unseren Protesten mit dabei. Auch nach den Gezi-Park-Protesten haben sich uns viele Türken angeschlossen, weil sie festgestellt hatten, daß wir den gleichen Gegner haben. Von daher ist der Kontakt schon immer sehr gut gewesen.

SB: Nachdem La Zad von der Polizei geräumt worden war, ging ein Aufschrei der Empörung und Solidarität durch Frankreich. Ein riesiger Menschenzug hatte sich daraufhin unter starker Bürgerbeteiligung aufgemacht und das Gelände bei Notre-Dame-des-Landes wiederbesetzt. Bezeichnenderweise wurden diese Ereignisse in den deutschen Medien nahezu vollständig ausgeblendet, aber auch von der Linken und der deutschen Umweltbewegung praktisch übergangen. Hat der Widerstand gegen Stuttgart 21 ein größeres Echo im bundesdeutschen Gebiet erhalten?

MKL: Leider ist es uns nicht gelungen, in Deutschland eine Solidarisierung mit unserem Kampf zu erreichen. Möglicherweise hat es daran gelegen, daß die Mehrheit der Bevölkerung in der Annahme war, daß wir lediglich gegen die Abholzung des Parks und für den Erhalt des alten Bahnhofs gekämpft haben. Tatsächlich haben wir viel weiter gedacht. Unser Widerstand betrifft ganz Deutschland, denn jeder Steuerzahler von Mecklenburg-Vorpommern bis zum Allgäu wird für dieses Megaprojekt zahlen und dafür eine gute, bürgernahe Bahn einbüßen. Das wird noch immense Kosten verschlingen. Denn das Baugebiet ist geologisch außerordentlich schwierig. Daher wird noch viel Geld in Stützmaßnahmen fließen müssen. Außerdem sind weite Teile des Projekts noch gar nicht genehmigt. Die wenigsten wissen, daß es bis heute kein gültiges Planfeststellungsverfahren gibt. Wir Stuttgarter sind alles andere als grau gewordene Ewiggestrige oder Zukunftsverweigerer. Bedauerlicherweise haben wir unseren Standpunkt in Deutschland nicht etablieren können, was den Protestbewegungen in Italien, Frankreich und Rumänien durchaus gelungen ist.

SB: Ungeachtet dessen habt ihr euren Widerstand nicht aufgegeben, auch wenn das Thema in der Öffentlichkeit heruntergespielt wurde. Worauf gründet sich diese Unbeugsamkeit?

MKL: Wir haben weder gewählte Gremien noch hierachische Strukturen. Unsere Bewegung besteht aus einer großen Zahl von sogenannten Bezugsgruppen. Darunter fallen Stadtteilgruppen, Musikgruppen, Filmemacher, Zeitungsleute, Expertengruppen, Ingenieure, Bahnexperten, Geologen und Juristen. Daneben gibt es auch Gruppen wie die Versorger, die die Demonstrationsteilnehmerinnen mit Tee und Kaffee versorgen, die Blockierer, Parkschützer und 35.000 registrierten Einzelpersonen. Nur die Parkschützer haben ein gewähltes Gremium, den sogenannten Parkschützerrat. Darüber hinaus gibt es noch einen Zusammenschluß aus unseren türkischen Kollegen von der DIDF (Föderation Demokratischer Arbeitervereine), SPDlern und Gewerkschaftern sowie Kleinunternehmern. Im Grunde ist keine dieser Gruppen autorisiert, für die gesamte Bewegung zu sprechen. Dennoch hat jede Bezugsgruppe das Recht, sich an die Presse zu wenden oder etwas Neues zu initiieren. Ich bin auch in der Gruppe der Gewerkschafterinnen. So werden wir demnächst wieder einen Kampf gegen Fahrpreiserhöhungen organisieren. In Stuttgart ist der Nahverkehr inzwischen erheblich gestört. Die Betreiber erlauben sich in jedem Jahr turnusmäßig eine Erhöhung der Fahrpreise. Die Juristen wiederum haben kürzlich eine Klage gegen Herrn Pofalla eingereicht und planen, auch gegen Frau Merkel zu klagen, weil sie auf ungerechtfertigte Weise den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn 2013 beeinflußt haben, für einen Weiterbau des Projekts zu stimmen. Und das, obwohl klar erkennbar ist, daß Steuergelder veruntreut und Vermögenswerte der Deutschen Bahn mit diesem Projekt aufs Spiel gesetzt werden.

Auch die Gruppe der Ingenieure hatte im letzten Jahr einen juristischen Vorstoß unternommen. Der geplante Tiefbahnhof soll auf einem Sumpfgelände gebaut werden. Dazu müssen Millionen Tonnen an Wasser abgepumpt werden, wodurch ein Abrutschen der angegliederten Hänge droht. Die Ingenieure hatten schon bei der Montierung der 17 Kilometer langen Rohre, die dem Tiefbahnhoftrog Wasser entziehen und dieses wieder in die Hänge infiltrieren sollen, darauf hingewiesen, daß im Planfeststellungsverfahren dafür korrosionsgeschützte Rohre vorgeschrieben sind. Darauf hat die Bahn aus Kostengründen verzichtet. Nun verrosten die Rohre von innen, so daß durch das Abpumpen auch Grundwasser an anderer Stelle infiltriert wird. Die Ingenieure hatten Proben am Infiltrationsbrunnen entnommen und festgestellt, daß verrostetes Wasser ins Grundwasser eingeführt wurde. Weil dort ein Mineralwasserschutzgebiet liegt, ist die Bahn gar nicht berechtigt, verseuchtes Grundwasser zu infiltrieren. Jetzt wollen die Ingenieure gegen die Bahn klagen. Für die Deutsche Bahn bringt das wieder neue Kosten und ein Jahr Verzögerung, weil sie die alten Rohre wieder abbauen und gemäß dem Planfeststellungsverfahren korrosionsfreie Rohre verlegen muß. Aber selbst an diesem ökologisch kritischen Punkt kriegen wir weder vom städtischen Umweltamt noch vom Eisenbahnbundesamt als Aufsichtsbehörde irgendeine Unterstützung.

SB: Hat sich die Politik in Stuttgart unter dem Einfluß der mitregierenden Grünen in irgendeiner Form verändert?

MKL: Leider gar nicht. Wir haben jetzt zwar einen grünen Oberbürgermeister und erwarten von ihm, daß er zumindest wegen der rostigen Rohre sein Umweltamt mit der Kontrolle beauftragt, aber bisher ist nichts geschehen. Dabei halte ich Fritz Kuhn persönlich immer noch für einen integren Gegner des Projekts. Ich bin davon überzeugt, daß er seine Meinung nicht geändert hat und weiß, daß dieses Vorhaben sowohl im großen Entwurf als auch in jedem Detail das dümmste und teuerste Projekt ist, das je in Deutschland geplant wurde. Dennoch unternimmt er nichts. Wie alle Projektgegner bin auch ich wirklich sehr enttäuscht von ihm. Von daher wird unter uns die Frage diskutiert, ob wir Parteien überhaupt noch in den Protest integrieren wollen. Dabei geht es in erster Linie um die Grünen, denn die im Protest stark vertretene Linkspartei ist ein integrer Partner und würde von einem Beschluß gegen die Einbindung von Parteien nicht betroffen sein. Ansonsten ist noch eine kleine Gruppe von SPD-Mitgliedern bei uns involviert.

SB: Ist eine Bewegung, die aus verschiedenen Gruppierungen und Ansätzen besteht, weniger angreifbar, weil sie aufgrund dieser Struktur insgesamt nicht identifizierbar ist?

MKL: Ja, sie ist nicht identifizierbar, aber meldet sich immer wieder zu Wort. Was wir im Moment machen können, ist, die Betreiber und die Bahn immer wieder mit kleinen Nadelstichen zu ärgern bzw. Sand ins Getriebe zu streuen, wie es jetzt die Ingenieure mit den verrosteten Rohren oder die Juristen mit ihren Anzeigen machen. Allerdings haben wir noch nie vor einem Gericht Recht bekommen. Darüber hinaus versuchen wir mit Kampagnen die Bevölkerung darüber zu informieren, daß unser Nahverkehrssystem, also die U- und S-Bahnen, immer maroder wird. Diese Kampagnen stören die Betreiber sehr wohl, und sie sind dann immer bemüht zu dementieren. Im nächsten Jahr findet der Evangelische Kirchentag in Stuttgart statt, zu dem 150.000 Menschen erwartet werden. Sie müssen von einem Tagungsort zum nächsten transportiert werden. In dieser Zeit können bestimmte Baumaßnahmen, die dringend erledigt werden müssen, nicht fortschreiten, denn andernfalls würde in der deutschen Öffentlichkeit bekannt werden, was für ein schlechtes öffentliches Nahverkehrssystem Stuttgart inzwischen durch die vorbereitenden Baumaßnahmen für den Tiefbahnhof hat.

SB: Wie hast du die Degrowth-Konferenz erlebt und was wünscht du dir für die Zukunft?

MKL: Ich bin erst gestern angereist und konnte den Kongreß daher nicht groß verfolgen. Was mich trotzdem sehr beeindruckt hat, ist die bemerkenswerte Masse an jungen Menschen. Im übrigen war ich mir zunächst gar nicht sicher, ob ich hier mit dem Bericht über Stuttgart 21 und das Netzwerk am richtigen Platz bin, zumal wir zur Frage des Postwachstums noch keine abschließende Position haben. Dieses Thema steht bei uns noch immer an. Daß wir eine Bürgerbahn und keine Börsenbahn wollen, hängt im Grunde mit dem Thema Demokratie eng zusammen. Es geht um die Frage, in was für einer Demokratie wir leben, wenn Betroffene überhaupt nicht zu Wort kommen, sondern nur Profite in den Vordergrund gerückt werden. Ich wünsche mir, daß wir die Menschen in der Bundesrepublik davon überzeugen, daß wir in Stuttgart nicht nur um einen Bahnhof kämpfen, sondern gegen ein Prinzip.

SB: Maggie, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

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21. Oktober 2014


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