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INTERVIEW/051: Wendland frei trotz alledem - Kunst und Leben, Lebenskunst ...    Niko Paech im Gespräch (SB)


Zeit für Muße im Sturm des Wandels

Interview mit apl. Prof. Dr. Niko Paech in Gedelitz im Wendland am 23. August 2014



Am Saxophon ist Niko Paech ebenso engagiert und kreativ wie als Wissenschaftler, der für eine Postwachstumsgesellschaft eintritt, ohne die die ökologische und soziale Katastrophe kaum mehr aufzuhalten sein dürfte. Vor dem Auftritt der Band Beelzebub Airlines, deren hochdynamischen Jazz Rock der an der Universität Oldenburg lehrende Ökonom mit lyrischen Klängen bereichert, auf dem Free Flow Festival im wendländischen Gedelitz beantwortete Niko Paech dem Schattenblick einige Fragen zu beiden Feldern seines Schaffens.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Niko Paech
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Niko, wie bist du neben deiner wissenschaftlichen Arbeit zum Saxophonspielen gekommen?

Niko Paech: Michael Naura, der gerade 80 Jahre alt geworden und als Jazzmoderator des NDR bekannt ist, hat mich auf dem Gewissen. Er hat in den 70er Jahren einmal einen Konzertmitschnitt des Altsaxophonisten Cannonball Adderley auf NDR 3 - Jazz im Dritten hieß die Sendung - ausgestrahlt. Und als ich diese Aufnahme hörte, wußte ich, daß ich dieses Instrument spielen will.

SB: Wie hast du deine Fertigkeiten am Instrument erlangt?

NP: Ich bin eher ein Hobbymusiker und halber Autodidakt. Ich hatte in den 80er Jahren für eine gewisse Zeit Saxophon-Unterricht. Das heißt, das kleine bißchen an musikalischen Fertigkeiten, über die ich verfüge, habe ich mir selber beibringen müssen. Ich spiele genaugenommen erst seit 1987. Ich bin daher sehr spät, mit Mitte 20, zum Saxophonspielen gekommen. Dementsprechend wird nie ein guter Saxophonist aus mir werden.

SB: Du bist ein sehr beschäftigter Mensch. Wie kannst du nebenbei noch ein anspruchsvolles Instrument wie das Saxophon erlernen und Zeit zum Üben finden?

NP: Ich bin zwar zum Thema Postwachstumsökonomie innerhalb Deutschlands und manchmal auch in Österreich oder der Schweiz unterwegs und auch sonst beruflich stark eingebunden, weil ich ja einen kompletten Lehrstuhl vertrete. Aber dafür gibt es andere Bereiche in meinem Leben, die ich freigehalten habe. Ich mache keinen richtigen Urlaub, habe keinen Fernseher, kein Handy oder Smartphone etc. Ich halte mir die besonders elementaren Zeiträuber vom Hals. Dadurch habe ich trotz meiner Aktivitäten rund um das Thema Postwachstumsökonomie die Zeit, mindestens zweimal pro Woche zu proben und darüber hinaus auch nachts Saxophon zu üben. Wenn man wie ich an der Uni beschäftigt ist, hat man meist ein kleines Büro. Wenn ich zwischen 12 und 2 Uhr nachts dieses Büro betrete, ist außer mir kein zweibeiniges Lebewesen mehr im Gebäude. Dann kann ich, ohne Nachbarn zu stören, sehr gut Saxophon spielen und ein paar Stücke für die nächsten Proben üben.

SB: Du beschäftigst dich auch mit Zeitökonomie. Für wie wichtig hältst du im Gegensatz dazu Kultur im allgemeinen und künstlerische Aktivitäten im besonderen?

NP: Es kann nichts Wichtigeres geben als künstlerische Betätigung, weil sie die perfekte Alternative zur Konsumgesellschaft ist. Künstlerisch aktiv zu sein ist das Gegenteil von Konsumieren, denn Konsumieren heißt, Dinge zu verbrauchen, die andere für einen, meistens industriell-arbeitsteilig, hergestellt haben. Darstellende oder bildende Kunst zu praktizieren heißt, selber zu einem Produzenten oder einer Produzentin zu werden. Natürlich werden in der Kunst keine Güter produziert, die man verkaufen könnte, es sei denn, man ist Profi und hat einen gewissen Stellenwert auf dem sogenannten Kunstmarkt. Allerdings können die Dinge, die man produziert, der Ökosphäre nur ganz selten schädlich werden, und sie haben die Eigenschaft, daß man auf diese Weise sinnvoll Zeit strukturieren und emotionale Steigerungen erzielen kann.

Konsumieren ist auch nichts anderes, als vermeintlich sinnvoll Zeit zu strukturieren. Und jegliche Zeit, die ich durch künstlerische Aktivitäten in Anspruch nehme, steht dem Konsumieren nicht mehr zur Verfügung. So gesehen gibt es auch eine Konkurrenz zwischen Konsum und Kunst. Menschen, die sich sehr viel mit Kunst beschäftigen - außer Profis, die letzten Endes auch nur Kapital oder ihre Arbeitskraft maximal verwerten wollen -, sind prädestiniert dafür, eher einen postwachstumstauglichen Lebensstil zu praktizieren als Menschen, die überhaupt keinen Begriff von Kunst haben. Aber man darf dabei Kunst vom Anspruch her nicht zu hoch hängen. Auch die Kunst des Dilettanten sollte akzeptiert oder als Zwischenstadium einer individuellen Entwicklung gesehen werden. Überhaupt könnten wir wieder den Sinn für die Kunst entwickeln, die vor der eigenen Haustür oder in der eigenen Stadt bzw. Region praktiziert wird, statt immer nur zu sagen: Kunst sind Lady Gaga oder das London Symphony Orchestra, aber alles darunter eben nicht.

SB: Auch Fernsehen ist letztlich Bestandteil der künstlerischen und kulturellen Produktion. Im Durchschnitt sehen die Menschen in Deutschland etwa vier Stunden fern. Wie würdest du diese Konsumgewohnheit, daß Menschen einen großen Teil ihrer Zeit mit elektronischen Medien beschäftigt sind, ins Verhältnis setzen zu einer anderen Art von Zeitökonomie?

NP: Wenn ich mal auf zynische Weise die Logik der Betriebswirtschaftslehre auf diesen Fall anwenden wollte, dann ließe sich sagen: diese Gewohnheit ist absolut ineffizient, und zwar deshalb, weil menschliche Zeit eine besonders wichtige und eben knappe Ressource ist, zum Arbeiten sowieso, aber natürlich auch hinsichtlich der schöpferischen Tätigkeit. Die Zeit, die ich verschwende, um elektronische oder digitale Endgeräte zu benutzen, fehlt mir dann woanders. Denn menschliches Multitasking ist nicht möglich. Es ist ein Selbstbetrug zu glauben, man könne mehr als zwei Dinge gleichzeitig verarbeiten oder intentional umsetzen. Deswegen ist es auch eine Ausrede, wenn Leute behaupten, daß sie zwar Fernsehen schauen, aber nebenher noch eine Zeitung lesen, Bier trinken oder ein anregendes Gespräch mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin führen. Man kann, wenn man Fernsehen schaut, bestenfalls noch eine Sache nebenbei machen, nämlich Bier trinken, aber mehr auch nicht. Deswegen ist Fernsehen jenseits der sonstigen Kritik, die oft an diesem Medium geübt wird, vor allem ein Effizienzproblem und ein Problem der Zerstörung von Potentialen, die man anderswo viel sinnstiftender und meines Erachtens auch glücksstiftender anwenden kann.

SB: Viele Menschen halten sich lange in sozialen Netzwerken auf. Ist es nicht auch ein Bestandteil der gesellschaftlichen Produktivität, daß die Menschen sich mit diesen Geräten auskennen und sie für ihre Arbeit nutzen? Schließlich wird die Rationalisierung der Arbeit auch auf diesem Gebiet vorangetrieben.

NP: Rationalisierung durch den Einsatz von Technik war noch nie produktiv. Das ist eines der größten und schlimmsten Märchen, die einem Studenten in den Wirtschaftswissenschaften erzählt werden. Natürlich kann man den Begriff der Produktivität immer isoliert auf eine ganz bestimmte Ressource anwenden, indem man zum Beispiel sagt, produktiv ist, was menschliche Arbeitszeit einspart. Aber das kriegt man nicht zum Nulltarif, auch dafür braucht man mehr Energie, mehr Mineralien, mehr Fläche und mehr ökologische Assimilationskapazität. Das digitale Zeitalter ist quasi der letzte Sargnagel für die Ökosphäre. Wenn man sich wirklich einmal die Wertschöpfungsketten anschaut, die nicht nur hinter den elektrischen und digitalen Endgeräten stecken, sondern auch hinter den vermeintlich immateriellen digitalen Dienstleistungen, dann wird einem schwarz vor Augen. Das vermeintlich Produktive ist bestenfalls eine kurzfristige Bequemlichkeit, die man erheischen kann.

Isoliert auf menschliche Zeit betrachtet, bedeutet dies, daß ich die Pizza nicht mehr selbst holen muß, sondern sie mir über einen Mausklick bringen lassen kann. Schon daran erkennt man, daß elektronische Medien nicht wirklich Material ersetzen, sondern Heerscharen von Dienstleistern und anderen Apparaturen benötigen, die man dann triggert bzw. auslöst. Und deswegen ist es nicht produktiv, genausowenig wie die industrielle Landwirtschaft produktiv ist. Ich nehme einen Hektar Fläche, hole einen größeren Ertrag heraus und setze jetzt den Hektar ins Verhältnis zur Quantität der Erträge. Wenn die Erträge pro Hektar mehr werden, dann sage ich, die Produktivität ist gestiegen. Aber was ist mit dem Wasser, den Chemikalien und Emissionen, und was ist vor allem mit den fossilen Rohstoffen, die gebraucht wurden, um die vermeintliche Produktivität zu erzielen?

SB: In der sogenannten Wissensgesellschaft wird behauptet, daß Information eine maßgebliche Ressource sei, die zum Beispiel durch die Verbreitung von Kenntnissen eine Verkürzung von Arbeitsvorgängen und damit eine Effizienzsteigerung in der Arbeit ermöglicht. Was würdest du dem entgegenhalten?

NP: Das stimmt so nicht. Es ist nur ein Tausch von Ressourcen. Das heißt, Menschen müssen weniger eigene Arbeitszeit aufbringen, um noch mehr materielle Produkte kaufen zu können. Aber diese materiellen Produkte fallen doch nicht vom Himmel. Wissen als solches ist keine Ressource, sondern nur das letzte Glied einer ansonsten komplett materialisierten Produktionskette. Ich habe noch nie ein Flugzeug gesehen, das mit flüssigem Wissen betankt wurde, oder ein Haus, das aus geronnenem Wissen besteht. Nicht einmal ein Smartphone besteht aus Wissen, sondern aus seltenen Erden, aus Mineralien und sehr viel Abraum, den man dem Produkt nicht ansehen kann, weil der Abbau in Afrika stattfindet, während das smarte Endgerät hier blitzeblank über den Ladentresen gereicht wird. Das Wissen zur Dematerialisierung führt, ist ein Trugschluss, der sich sogar wissenschaftlich gut verpacken lässt, indem man Begriffe findet, die nur einen Ausschnitt der Realität abbilden, auf den man sich dann konzentriert. Die Studierenden lernen, was Produktivität und Effizienz, Produktionskennziffern oder Input-Output-Koeffizienten und so weiter sind und dass deren Steigerung anzustreben ist, aber der gesamte Prozeß, der erforderlich ist, um diese punktuellen Steigerungen zu erzielen, wird einfach weggelassen. Und aus diesem Grund hat es technische Effizienz so nie gegeben. Die Welt ist etwas komplizierter.

Es gibt durchaus eine Form der Effizienz, die man durch Arbeitsteilung erzielen kann. Die Story geht so: Wenn ich ein Dorf nehme, in dem jeder Mensch alles, was er benötigt, selbst produziert, dann stellt sich heraus, daß die Menschen auf einem, zumindest materiell betrachtet, sehr armen Niveau leben, weil jeder sein Brot backt, seine Schuhe herstellt, seine Tiere hält, sein Haus baut und so weiter. Wenn nun in diesem Dorf Arbeitsteilung stattfindet und sich jeder Mensch auf eine Verrichtung konzentriert - einer stellt nur noch Schuhe her, einer backt nur noch, einer hält nur noch Schafe, einer baut nur noch Häuser und ein anderer macht nur noch Honig und so weiter -, dann stellt sich heraus, daß mit denselben Ressourcen plötzlich ein Mehr an Output vorhanden ist. Dieser Effizienzfortschritt erklärt sich allein daraus, daß die Menschen über die Spezialisierung auf einzelne Verrichtungen die Befähigung zu einer höheren handwerkliche Leistung einüben können, weniger Fehler machen, damit weniger Verschnitt und Abfall erzeugen, also etwas mehr aus den Ressourcen herausholen können. Außerdem muss das Werkzeug, etwa für die Schuhproduktion, nicht von allen angeschafft werden, sondern nur beim Schuster vorhanden sein, was abermals Ressourcen spart. Aber: Dieses Effizienzerhöhen beruht erstens immer noch auf Handwerk und ist zweitens nicht räumlich entgrenzt, kommt also ohne Zufuhr oder Zerstörung externer Ressourcen aus

Aber wenn dieses noch immer bescheidene Niveau an Versorgung weiter gesteigert werden soll, muß die Spezialisierung ausgedehnt und zwischen den Dörfern betrieben werden. Das heißt, wir brauchen jetzt einen Bäcker, der zwei Dörfer beliefert. Dadurch muß aber ein Bäcker größer werden, also in zusätzliche Produktionskapazitäten investieren, es müssen Transporte und Maschinen, Energieversorgung und Logistik produziert bzw. organisiert werden. An dieser Stelle hört die Effizienz auf und es findet nur noch ein Tausch zwischen kurzfristigen Produktionssteigerungen und langfristigem Ressourcenverzehr statt. Dieselben Menschen können mit derselben Arbeitskraft tatsächlich mehr produzieren, aber es wird verschleiert, daß sie dazu kurzfristig mehr Input brauchen, der langfristigen ökologischen Verschleiß darstellt. Nur bis zum Erreichen dieser Grenze können kleinräumige, eben nicht-fossile, aber dann eben bescheidene Effizienzvorteile durch Arbeitsteilung erzielt werden. Deswegen sind auch jene, die den Ausstieg aus der Industriegesellschaft fordern, keineswegs Deppen. Sie sagen nicht, daß jeder seinen Garten und seine Werkstatt haben und alles selber machen soll. Auch im Kleinräumigen wird Arbeitsteilung gebraucht, so daß sich ein Individuum oder Haushalt mehr auf die Herstellung von Honig und der andere mehr auf das Reparieren von Fahrrädern konzentriert.

Schon die Dampfmaschine bedeutete keine Effizienzerhöhung. Sie hat einfach nur menschliche Arbeitskraft durch Energieumwandlung ersetzt, jedoch zum Preis einer historisch bis dato nie da gewesenen ökologischen Plünderung. Was wir in diesem Zusammenhang unter Fortschritt verstehen, bedeutet, hier und jetzt ein Mehr an materiellen Möglichkeiten zu erwirken, um dafür aber anderswo und zukünftig ein Weniger an Möglichkeiten ertragen zu müssen, nämlich durch die zeitliche und räumliche Verlagerung aller Nebenfolgen des vermeintlichen Fortschritts. Wie aber kann jemand ein solches Nullsummen-, wenn nicht gar Negativsummenspiel als Fortschritt bezeichnen? Na ja, diesen Trick der Industrialisierung offenzulegen, fällt in den Bereich der subversiven Ökonomik, für die ich mich zuständig fühle.

SB: Du bist damit konfrontiert, daß ein Großteil der ökonomischen Forschung und Lehre mit neoliberalen Konzepten arbeitet. Was müßte eigentlich geschehen, um das, was du propagierst, im Wissenschaftsbetrieb voranzutreiben, welche Grundlagen wären dafür erforderlich, daß eine Chance zur Verbreitung der Postwachstumsökonomie bestände?

NP: Zunächst einmal ist die herrschende Lehre in der Volks- und Betriebswirtschaftslehre nicht per se neoliberal. Neoliberalismus und Industrialismus sind zwei verschiedene Kategorien, die man auseinanderhalten sollte. Die Idee, durch industriellen oder technischen Fortschritt reich zu werden, wird gerade mit Blick auf die Fortschrittsgläubigkeit letztlich auch von den Marxisten geteilt. Als ich in meinem letzten Buch geschrieben habe, daß Neoliberale und Marxisten unter diesem Aspekt so unterschiedlich auch nicht seien, habe ich mir viele Feinde gemacht. Um eine andere Ökonomie oder eine andere Lehre von der Versorgung - überhaupt sollte man eher von Versorgung als von Produktion und Konsum reden - zu implementieren, muß die Gesellschaft sich wandeln. Viele Menschen können mir theoretisch und auch anhand der praktischen Beispiele durchaus folgen, aber wenn es um die Konsequenz geht, daß dann beispielsweise bestimmte Geräte oder die Flugreise in die Karibik nicht mehr erschwinglich sind, wird es problematisch.

Man kann an den Universitäten nicht einfach einen Schalter umlegen und die Welt wird anders. Trotz der vielen Kritik, die ich an unserem Bildungssystem übe, sind Universitäten am Ende auch nur ein Spiegel dieser Gesellschaft. Sie beantworten Fragen, die von der Gesellschaft gestellt werden, und wenn die Frage der Gesellschaft lautet, wie können wir innerhalb kürzester Zeit noch reicher werden und ein noch bequemeres Leben, frei von Zumutbarkeitsgrenzen, führen, dann kriegt man entsprechende Antworten, die dann auch gelehrt werden. Erst wenn in der Gesellschaft ein Sinn für alternative Lebensformen entsteht, die weniger industrialisiert sind und aus diesem Grund auch mit weniger fossilen Rohstoffen, erst recht ohne Kohle- und Atomstrom auskommen und von einer kritischen Masse praktiziert werden, entsteht an Hochschulen auch der Bedarf, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Ich kann die Studierenden doch nicht indoktrinieren und ihnen erklären wollen, was das richtige Leben sei. Wenn ich herausarbeite, dass nur ein gänzlich bescheideneres Ökonomie- und Versorgungsmodell, aber auch eine reduktive Kultur der materiellen Selbstverwirklichung diesen Planeten retten kann, setzt das voraus, dass den Menschen das überhaupt wert ist.

SB: Du bist hier im Wendland auf einem Festival der Anti-AKW-Bewegung. Ist das hier für dich vielleicht ein Labor für alternative Lebensformen?

NP: Zunächst einmal habe ich zur Anti-AKW-Bewegung eine sehr enge Beziehung, weil ich aus Schüttorf komme. Schüttorf liegt in Sichtweite der emsländischen AKWs. Im Grunde ist die Region ein Atomklo. Das zweite Atomklo ist das Wendland. Ich bin schon als junger Bursche in den 80er Jahren in dieser Gegend gewesen und habe mich immer als Teil der Anti-AKW-Bewegung betrachtet. Ich war auch auf vielen Demonstrationen. Dieses Thema müssen wir hier nicht mehr diskutieren. Es geht jetzt nur um den Widerstand und das konkrete Umsetzen des Ausstiegs aus der Atomenergie. Irgendwann bin ich auch in die Politik gegangen. Die Grünen haben mich 1990 für den Wahlkreis Lingen aufgestellt. Seinerzeit haben wir die Landesregierung unter Albrecht praktisch nach Hause geschickt und den Weg für das Gespann Schröder-Trittin freigemacht. Was daraus geworden ist, haben wir dann erlebt. Zurück zur Atomenergie: Wenn wir es nicht schaffen, hier in der Bundesrepublik komplett aus der Atomenergie auszusteigen, dann dürfen wir auch nicht erwarten, daß es in anderen europäischen Ländern oder sogenannten Schwellenländern wie Indien und China jemals eine Anti-AKW-Bewegung geben könnte.

Was wir nach Fukushima in Japan erlebt haben, ist niederschmetternd. Wie kann es sein, daß dort nach diesem Unglück nur so wenige Menschen auf die Straße gegangen sind? Dazu gibt es eine eindrucksvolle Dokumentation, die die Oldenburger Energiegenossenschaft, die ich mitgegründet habe, auf einer Veranstaltung gezeigt hat. Das Atomthema ist eben noch nicht erledigt. Es kann jederzeit ein politischer Umschwung oder eine Energiekrise eintreten und Versuchung schüren, zur Atomenergie zurückzukehren, einfach deshalb, weil wir immer noch am Wachstumsmodell festhalten und die regenerativen Energien, um es einmal hart zu sagen, vollkommen überschätzt werden. Das Regelenergieproblem und die Nichtspeicherbarkeit von Elektrizität sind nach wie vor ungelöste Probleme, und natürlich ist die regenerative Energie nicht zum Nulltarif zu haben. Die Gefahr besteht durchaus, daß diejenigen, die sagen, so schlecht war die Atomenergie auch wieder nicht, plötzlich Aufwind bekommen. Deswegen gibt es nur einen dritten Weg, nämlich den Weg zum Weniger, zur Postwachstumsökonomie. Sonst ist nicht auszuschließen, daß die Rückkehr zur Atomenergie von denen gefordert wird, die auf das Versprechen hereingefallen sind, dass mit den Erneuerbaren unser Wohlstandsmodell gerettet werden kann.

Am Wendland bewundere ich, daß hier viele Menschen nicht nur politischen Widerstand organisieren, der immer wichtig ist und gar nicht häufig und laut genug praktiziert werden kann, sondern daß hier auch glaubwürdige Lebensformen aufgebaut wurden, die eine echte Alternative darstellen, indem sie ohne Atom und Kohle auskommen würden, weil sie bescheidener sind. Regenerative Energien sind sicherlich unverzichtbar, aber sie stoßen schon jetzt auf Grenzen. Solange es noch Häuser gibt, deren Statik und Dachneigung die Anbringung von PV oder solarthermischen Modulen erlaubt, solange wir noch Autobahnen und Flughäfen stilllegen können, um darauf Windkraft- und PV-Anlagen installieren zu können, sind noch Potenziale ohne Naturzerstörung vorhanden. Aber Anlagen in die freie Landschaft zu bauen, löst keine Probleme, sondern verlagert sie nur. Man schaue nur, welche Schäden der sogenannte Energiemais gerade hier in Niedersachsen angerichtet hat. Trotzdem bleibt es dabei: Eine Alternative zu regenerativen Energieträgern ist weder denkbar noch wünschenswert. Nur heißt regenerativ nicht unerschöpflich, das müssen wir noch lernen.

SB: Wie ließe sich deiner Ansicht nach die Energiewende im Rahmen einer politischen und gesellschaftlichen Machbarkeit umsetzen, oder anders gefragt, welche soziale Bewegung wäre erforderlich, um dem Ganzen einen Schub zu geben?

NP: Wünschenswert wäre eine soziale Bewegung, in der Menschen einen Ehrenkodex verinnerlichen, der darin besteht, daß diejenigen, die ökologisch motivierte, politische Forderungen stellen, schon jetzt genauso leben, wie es nötig wäre, wenn diese Forderungen tatsächlich umgesetzt würden. Daran fehlt es noch. Ich hatte hier in Gorleben auf dem Generation Move am 1. September 2007, wo wir neben anderen Bands aufgetreten sind, einmal ein interessantes Erlebnis. Es war eine große Demo gegen Castortransporte, direkt vor dem Eingang zum Zwischenlager. Vor der Bühne war viel los. Als die Bands ihre Konzerte gegeben hatten, ging jemand auf die Bühne und wollte Stromwechselformulare unterschreiben lassen. Und mit einem Mal war nichts mehr los. Ich glaube nicht, daß unter den Zuschauern alle zu dieser Zeit bei LichtBlick, Naturstrom, Greenpeace Energy oder EWS Schönau Stromkunde waren.

Wir brauchen Leute, die mit ihren politischen Forderungen auch wirklich im Einklang leben. Denn sonst münden politische Forderungen in einen symbolischen Ablaßhandel. Viele Menschen glauben, weil sie schon politisch aktiv sind, nichts an unserem Lebensstil ändern zu müssen. Die Wahrheit ist aber, daß die Politik, wenn sie mit dem Einhalten der ökologischen Rahmenbedingungen ernst machen würde, gar nichts anderes bewirken könnte, als uns die entgrenzte Mobilität und viele Bequemlichkeiten graduell abzugewöhnen. Wenn wir dazu nicht im Vorhinein bereit und fähig sind, wählen wir auch keine Politik, die das umsetzen will.

Jetzt am 21. September soll anlässlich des bevorstehenden Klimagipfels in New York eine riesige Demo zu den Themen Energiewende und Klimaschutz in Berlin stattfinden, um Druck auf die Politik auszuüben. Ich bin wirklich gespannt, welche Forderungen dort erhoben werden, ob es wieder nur darum geht, noch mehr Windkraft und Photovoltaik zu fordern oder ob endlich der Mut aufgebracht wird, folgendes zu sagen: Klimaschutz ist keine Frage des zusätzlichen Bewirkens, sondern des kreativen Reduzierens und Unterlassens der schlimmsten CO2-Emissionsquellen. Für die meisten klimaschädlichen Aktivitäten haben wir keinen technologischen Ersatz. Das gilt vor allem für den Transport. Auch im Gebäudebereich werde ich immer skeptischer und erst recht bei Konsumgütern und Elektronik. Es gibt keine ökologischen Ersatzvarianten für diese Wohlstandsartefakte, abgesehen von symbolischen Verbesserungen.

Wenn man sich die Wertschöpfungskette des sogenannten Fairphones anschaut, stellt man fest, daß es trotz aller Mühe letzten Endes derselbe Schrott mit denselben Konsequenzen bleibt. Vielleicht werden in Afrika, wo Coltan abgebaut wird, höhere Löhne gezahlt, was ich natürlich gut finde, aber das löst nicht das Problem, sondern rechtfertigt nur das Beharren auf Ansprüchen, die insgesamt zu hinterfragen wären. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der politischen Umsetzbarkeit einer Wirtschaft ohne Wachstum und der Bereitschaft der Menschen, proaktiv-vorwegnehmend die Lebensstile zu praktizieren, die dann nötig wären. Niemand springt ins Wasser, wenn er nicht schwimmen kann. Niemand wählt eine Politik, die ihn oder sie zu etwas zwingt, wozu er oder sie nicht schon von vornherein bereit ist. Das ist das große Problem.

SB: Vom 2. bis 6. September wird in Leipzig die internationale Degrowth-Konferenz abgehalten. Welche Chancen siehst du, daß von dort ein Impuls für Deutschland im Sinne der Postwachstumsbewegung ausgehen wird?

NP: Ich werde dahin fahren, glaube aber nicht, daß dort das Rad neu erfunden wird, denn gerade in der wachstumskritischen Forschung geht es weniger um Wissenschaft und Forschung, als um postwachstumstaugliche Lebensstile. Auch wenn inhaltlich nicht der große Durchbruch zu erwarten ist, wird der Impuls dieser Konferenz immens sein. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß PolitikerInnen diese Diskussion sehr genau verfolgen. Denn die Politik hat vor nichts mehr Angst als davor, etwas zu versäumen, was sich in Wählerstimmen ummünzen lässt. Daher achtet die Politik auf solche Signale.

Das gilt übrigens auch für die Medien. Natürlich kann es auch geschehen, daß die Degrowth-Tagung alles in allem ignoriert wird. Ich bin taz-Abonnent und war etwas verärgert darüber, daß sie nicht früher über die Degrowth berichtet hat. Nun hat sie aber inzwischen reagiert, was ich sehr schön finde. Eine Woche nach der Konferenz werden wir wissen, wie die Medien darauf reagiert haben werden, denn ohne Resonanz der Medien ist nicht zu erwarten, daß die Degrowth-Konferenz etwas bewirkt.

SB: Niko, vielen Dank für das Gespräch.

Niko Paech, Michael Ellis, Wolfgang Nowak, Andreas Schneider beim Auftritt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Beelzebub Airlines
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


Berichte und Interviews vom Free Flow Festival im Wendland unter
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11. September 2014