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INTERVIEW/037: Lampedusa in Hamburg - Nebelbomben, Absichten, Wirklichkeiten... Rechtsanwältin Britta Eder im Gespräch (SB)


Gespräch mit der Rechtsanwältin Britta Eder am 15. November 2013 in Hamburg


Brutal wirkende Frau mit EU-Sternen versetzt einem dunkelhäutigen Menschen einen kräftigen Fußtritt - Unterzeile 'Europa vertritt ein engagiertes Asylrecht' - Graphik: © 2009 by Schattenblick

Verstärktes Engagement der EU nach den Flüchtlingstragödien vor Lampedusa [1]
Graphik: © 2009 by Schattenblick

Ist der Mensch tatsächlich des Menschen Feind, wie vielfach zur Letztbegründung staatlicher Herrschaft, die aufgrund ihres Gewaltmonopols einzig in der Lage sei, ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen, angeführt wird? Oder ist die Bereitschaft, sich von anderen Menschen oder spezifischen Gruppen, die anhand welcher Kriterien auch immer als anders oder fremd definiert werden, abgrenzen zu lassen, unverzichtbarer Bestandteil einer Gesellschaftsordnung, die den erhobenen Anspruch, auf diese Weise das Bestmögliche für alle ihre Mitglieder zu erwirtschaften, keineswegs einzulösen imstande ist? Gibt es in westlichen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen den Bürgern und Bürgerinnen und "ihrem" Staat, der ersteren eine Teilhaberschaft am großen Raubzug in Gestalt eines sozialen und rechtlichen Status zusichert, der Menschen aus den Armuts- und Kriegsgebieten dieser Welt wie die Erfüllung ihrer sehnlichsten, auf das unmittelbare Überleben gerichteten Wünsche erscheinen muß?

Und stehen Überlegungen dieser oder ähnlicher Art womöglich in einem direkten Zusammenhang zu der sogenannten "Flüchtlingsfrage", wie sie beispielsweise in Hamburg seit Monaten besonders akut geworden ist, seitdem sich hier rund 300 Menschen, die vor dem Libyenkrieg fliehen mußten und auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa nur vorübergehend Aufnahme fanden, zur "Gruppe Lampedusa in Hamburg" zusammengefunden haben? Seit über einem halben Jahr stehen diese Menschen in einem gemeinsamen und solidarischen Kampf, um hier bleiben, leben (und arbeiten) zu können. Sie sind mit derselben Abwehr- und Blockadehaltung konfrontiert wie unzählige andere auch, die "Flüchtlinge" zu nennen sich eigentlich jede Journalistenfeder sträuben sollte, weil dadurch die Tatsache, daß ein Mensch vor Krieg und Verfolgung fliehen mußte, seinen rechtlichen oder vielmehr rechtlosen Status für alle Zukunft festzuschreiben droht.

Die "Gruppe Lampedusa in Hamburg" tritt all dem offensiv entgegen. Ihre Mitglieder treten nicht wie Bittsteller auf. Sie verdeutlichen ihren Standpunkt mit den Worten "Wir sind hier, weil ihr unsere Länder kaputtmacht", und stoßen damit bei vielen Hamburgerinnen und Hamburgern auf offene Ohren, wie die vielfältigen Solidaritätsbekundungen, aber vor allem auch die konkrete und praktische Unterstützung für die von der offiziellen Politik seit April sich selbst überlassenen Menschen beweisen. Die Bruchlinien, die durch die Gruppe Lampedusa sichtbar werden, betreffen keineswegs nur den Konflikt zwischen ihr und dem Hamburger Senat oder auch dem Bundesinnenministerium, das der geforderten Bleiberechtsregelung nach § 23 Aufenthaltsgesetz zustimmen müßte, sondern haben im Grunde die ganze Gesellschaft erfaßt und in Hamburg bereits zu einer gewissen Polarisierung geführt.

Mit den humanitären Ansprüchen, wie sie von Deutschland, aber auch der Europäischen Union insgesamt erhoben werden, sind die sogenannten Flüchtlingstragödien, die Anfang Oktober zu einem kurzfristigen medialen Aufschrei des Entsetzens geführt haben, nicht zu vereinbaren. Lampedusa-Flüchtlinge sind immer auch Überlebende des aus hiesiger Sicht lautlosen Massensterbens auf dem Mittelmeer. Die strikte Trennung zwischen "uns" und den vermeintlich Fremden, zwischen bundesdeutscher Mehrheitsgesellschaft und Menschen aus anderen Ländern und Kulturen, scheint auch deshalb im Begriff stehen, aufgeweicht zu werden, weil viele EU-Bürgerinnen und -Bürger längst ahnen, daß die so häufig sogar tödliche Menschenabwehr an den Außengrenzen auch etwas aussagt über die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre absehbaren weiteren sozialen Zuspitzungen innerhalb der Europäischen Union.

Am 15. November 2013 stellten Hamburger Anwältinnen und Anwälte in einer Pressekonferenz eine von 111 Kolleginnen und Kollegen unterschriebene Erklärung zur Situation der "Gruppe Lampedusa in Hamburg" vor, in der sie die bisherige Senatspolitik kritisieren und die Bleiberechtsforderung nach § 23 Aufenthaltsgesetz unterstützen. [2] Eine von ihnen war die Hamburger Strafverteidigerin Britta Eder, die im anschließenden Gespräch mit dem Schattenblick auch aus juristischer Perspektive zur Aufklärung über die Flüchtlingspolitik des Senats beitrug, aber auch zu den politischen Hintergründen der "Festung Europa" Stellung nahm.

Ca. 20 Frauen und Männer in schwarzen Roben stehen beieinander - Foto: © 2013 by Schattenblick

Gruppenbild mit Anwältinnen und Anwälten - Pressekonferenz am 15. November 2013 in Hamburg
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Ausländer- bzw. Aufenthaltsrecht sind, wenn ich richtig informiert bin, nicht Ihre Spezialgebiete. Dennoch haben Sie sich entschlossen, den Aufruf der Hamburger Anwältinnen und Anwälte zur Situation der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" zu unterschreiben und die Forderung, die humanitäre Notlage dieser Flüchtlinge durch eine Lösung nach § 23 Aufenthaltsgesetz zu beenden, zu unterstützen. Was hat Sie dazu bewogen?

Britta Eder: Das ist insgesamt ein gesellschaftliches Thema mittlerweile nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland und sogar in anderen Ländern Europas. Ich habe gehört, daß das Schicksal der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" auch in Afrika ein Thema ist, aber nicht nur die Situation dieser Flüchtlinge, sondern endlich auch einmal wieder die Flüchtlingspolitik Europas insgesamt. Nach dem, was der Senat versucht, nach außen darzustellen, wie die Rechtslage angeblich sei und was die einzige Möglichkeit sei, dieses Problem zu lösen beziehungsweise wie die Flüchtlinge sich zu verhalten hätten, ist es wichtig, wenn aus anwaltlicher Sicht dargestellt wird, daß das einfach so nicht stimmt und daß es eine andere legale Möglichkeit gibt, diese humanitäre Notlage zu lösen. Ich denke, daß es auch Aufgabe von Anwältinnen und Anwälten ist, sich in diese rechtspolitische Diskussion einzuschalten und gewisse juristische Falschmeldungen, die nicht nur der Öffentlichkeit, sondern meinen Informationen nach auch von seiten des Senats bzw. der SPD den Flüchtlingen gegenüber geäußert werden, aus fachlicher Sicht einfach noch einmal richtig zu stellen.

SB: Könnten Sie die markanten Punkte kurz umreißen, die die, wie Sie sagen, Desinformationspolitik des Senats betreffen?

BE: Ein Punkt, den die Kolleginnen und Kollegen auf der Pressekonferenz heute schon gut dargestellt haben, ist die Desinformation des Senats, rechtsstaatlich sei nur die Möglichkeit der Einzelanträge vorgesehen. Das ist aus meiner Sicht schon eine Verkennung dessen, was den Begriff des Rechtsstaats ausmacht. Der Rechtsstaat ist vor allem deswegen auch ein positiv besetzter Begriff, weil er klarstellt: Es gibt bestimmte Rechte der Bürger gegenüber dem Staat, die den Schutz vor staatlichen Eingriffen sicherstellen, was insbesondere auch besagt, daß der Staat für Eingriffe in die Rechte des Bürgers eine Rechtsgrundlage benötigt. Hier wird dieser Rechtsstaatsbegriff in sein Gegenteil verkehrt, wenn in der Öffentlichkeit von seiten des Senats behauptet wird, die Flüchtlinge müßten sich melden, alles andere sei nicht rechtsstaatlich. Rechtsstaatlich sei nur ein für den Einzelfall gestellter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und dann die Erteilung einer Duldung.

Da wollen die Hamburger Anwältinnen und Anwälte noch einmal klarstellen: Nein, so ist das nicht. Es gibt eine legale Möglichkeit, dieser Gruppe ein Bleiberecht zu geben, doch das Verfahren nach § 23 Aufenthaltsgesetz wird einfach ignoriert. Die Möglichkeit wird implizit als nicht rechtsstaatlich dargestellt, obwohl sie es natürlich ist, denn sie steht ja im Gesetz. Meine Kollegin sagte an diesem Punkt so schön: "Ja, guck ins Gesetz, da steht es, ist ganz einfach." Ich finde es begrüßenswert, daß sich auch Anwältinnen und Anwälte in diese Diskussion einmischen, gerade auch um der gezielten rechtlichen Fehlinformation etwas entgegenzusetzen. Schließlich erscheint es zudem wichtig, daß sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu diesem Thema äußern.

Ein weiterer Punkt der Desinformation ist folgender: Der Senat hat ein Angebot gemacht und gesagt: Unsere Lösung ist, die Leute sollen sich melden und einen Antrag stellen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Dann bekommen sie eine Duldung, und wenn der Antrag abgelehnt wird - wobei der Senat ganz offen gesagt hat, daß die Anträge abgelehnt werden -, dürfen die Flüchtlinge aber noch hier bleiben, bis das gerichtliche Verfahren abgeschlossen ist.

SB: Das kann schnell gehen?

BE: Das kann unter Umständen auch zwei, drei Jahre dauern, aber - und das ist sozusagen das Problem - es wurde nach außen und den Flüchtlingen gegenüber gesagt: "So lange bleibt ihr hier und bekommt eine Duldung." In einem Gespräch zwischen Anwältinnen und Anwälten und hochrangigen VertreterInnen der Innenbehörde bzw. der Ausländerbehörde wurde von behördlicher Seite klargestellt, daß dies zwar eine politisch gewollte Vorgabe des Senats sei. Die rechtsverbindliche Umsetzung dieser Vorgabe sei behördlicherseits aber nicht möglich. So wurde die Frage, ob dies auch rechtsverbindlich zugesichert werde, also in einer Form, die gewährleistet, daß der einzelne vor Gericht sich darauf berufen kann, daß er eine Duldung bekommt, bis das gerichtliche Verfahren abgeschlossen ist, dahingehend beantwortet, daß dies aus rechtlichen Gründen nach derzeitiger Einschätzung nicht möglich sei.

Gedenktafel zeigt ein Papierschiffchen mit Menschen auf See, das angezündet wird - Unterschrift 'Stop the Killing' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Lampedusa-Flüchtlinge sind Überlebende des Massensterbens - Gedenktafel am Infozelt der Gruppe Lampedusa
Foto: © 2013 by Schattenblick

Ein entscheidender Punkt dabei ist das, was auch der Kollege Stehn auf der Pressekonferenz schon dargestellt hat: Zuständig ist eigentlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die zuständige Person des Einwohnerzentralamtes, also der Ausländerbehörde, hat dieses Problem erkannt und darauf hingewiesen, daß es in § 34a AsylVerfG eine Änderung zum 1.12. gebe, die die Zuständigkeit auf das Bundesamt überleite und er auch nicht sagen könne, ob diese Zuständigkeitsänderung auch auf vor dem 1.12. gestellte Anträge anzuwenden sei und insoweit das Bundesamt auch diese Anträge an sich ziehe, mit der Konsequenz, daß die politische Vorgabe des Senats ohne Verbindlichkeit bleibt. Da kann ich mich doch nicht hinstellen und zu den Leuten sagen: "Stellt 'mal den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis, ihr bekommt eine Duldung und die Zusage gilt nach Auskunft der Ausländerbehörde genau bis zum 1.12." Niemand weiß, was das Bundesamt danach tut.

Nun scheint es sogar so zu sein, daß sich, wie Herr Stehn heute auch schon erklärt hat, die Regelung, die für die Lampedusa-Flüchtlinge einschlägig ist, schon vor dem 1.12. geändert hat. Das heißt, der Hamburger Senat macht Zusagen, die er gar nicht einhalten kann. So kann man, finde ich, mit Menschen nicht umgehen. Das sind aus meiner Sicht Desinformationen der Flüchtlinge und der Öffentlichkeit. Unklar ist auch, wie sich eine Antragstellung und die Erteilung einer Duldung auf die Wirksamkeit der italienischen Papiere auswirkt. Zwar ist es faktisch derzeit so, daß die italienischen Papiere bei Antragstellung durch die Ausländerbehörde nur kopiert werden, aber es wird nicht darauf hingewiesen, daß rechtlich die Gefahr des Verlustes der italienischen Papiere besteht.

Und wenn dann in Gesprächen zwischen Abgeordneten der SPD und den Flüchtlingen hochrangige SPD-Abgeordnete darauf drängen, die Flüchtlinge sollten doch bitte noch vor dem 1.12. die Anträge stellen, denn solange sei Hamburg noch zuständig, dann ist das, wie heute auch der Kollege Stehn auf der Pressekonferenz ausgeführt hat, schlicht eine falsche Auskunft. Ich will gar nicht unterstellen, daß das bösartig war, aber die SPD-Abgeordneten wären aus meiner Sicht dazu verpflichtet, sich darüber zu informieren, bevor sie den Flüchtlingen gegenüber solche Ansagen machen. Ich finde, da muß es eine Transparenz geben. Mit solchen Punkten darf man auf dem Rücken des Lebens von Menschen keine falsche Informationspolitik gegenüber der Öffentlichkeit betreiben nach dem Motto: "Das ist die einzige gute Lösung."

Nein. Die einzige gute Lösung haben die Kolleginnen und Kollege heute vorgestellt. Die einzige Lösung, die den Menschen eine Sicherheit gibt, ist die des § 23 Aufenthaltsgesetz. Was diese Menschen nach ihrer Geschichte mit Traumatisierungen in Libyen, mit Traumatisierungen auf dem Meer, in Italien und eigentlich in gewisser Weise auch hier nicht gebrauchen können, ist die nächste Unsicherheit. Sie brauchen eine Perspektive und müssen sich ein neues Leben aufbauen können. Eine solche Perspektive besteht aber nicht darin, daß ich zwei Jahre lang nicht weiß, was passiert und ob ich danach vielleicht nach Italien oder in mein Heimatland abgeschoben werde.

SB: Sehen Sie denn Möglichkeiten, der Entscheidungsfindung des Hamburger Senats ein bißchen nachzuhelfen? Wie kann man einerseits diese relativ komplizierte Materie der Öffentlichkeit vermitteln und andererseits auch eine Bewegung in dieser Richtung unterstützen, damit vielleicht mehr Leute hier in Hamburg sagen: "Ja, das ist genau der Ansatz, die Lösung, die wir auch unterstützen. Also Senat, was meinst du dazu?"

BE: Ich glaube, da braucht es sehr viele Menschen, die etwas dafür tun. Man merkt hier, daß viele, ohne das juristisch zu begreifen, sehr genau wissen, was eigentlich richtig ist, denn sonst wäre es trotz dieser Desinformationspolitik und den Versuchen der Presse, eine Spaltung der Gruppe herbeizuschreiben, nicht möglich gewesen, daß mehr als 15.000 Menschen am vorletzten Wochenende die Forderung nach einem Bleiberecht unterstützt haben. [3] Ich denke, die Menschen fühlen das, und es muß dieser Desinformationspolitik etwas entgegengesetzt werden, auch wenn das bei dieser Materie nicht gerade einfach ist. Da ist es auch Aufgabe von uns Juristinnen und Juristen, diese komplizierte Rechtslage auf eine normale Sprache zu übersetzen.

SB: Ich möchte einmal versuchen, einen Bogen zu schlagen von der Solidaritätsbewegung, die sich hier in Hamburg, aber auch anderswo für Flüchtlinge einsetzt und deren Proteste unterstützt, zu den politischen Kämpfen, die in Gegenwart und Vergangenheit eher ein bißchen rar geworden sind. Können Sie sich vorstellen, daß da über die reine Flüchtlingsfrage hinaus etwas intensiviert oder in Gang kommen könnte?

BE: Ich glaube, daß sich gerade eine ganze Menge Menschen zu diesem Thema engagieren, egal, woher sie kommen, ob sie sich nun als links verstehen oder nicht. Mein Gefühl, wenn ich mit den Leuten spreche, ist, daß es für sie zum einen um das Schicksal der konkreten Menschen geht, die Problematik der Flüchtlinge aber auch ein Ausdruck dessen ist, was sie schon lange fühlen, nämlich daß irgendetwas in diesem System nicht stimmt. Ich glaube, daß diese Gruppe es geschafft hat, das relativ deutlich zu machen an ihrem konkreten Schicksal. Sie stellt das auch immer wieder in den Zusammenhang der europäischen Flüchtlingspolitik und will das nicht nur als Flüchtlingsproblem verstanden wissen. Und sie fragt: "Woher kommt denn unser Problem? Weswegen sind wir denn hier?" Auch das thematisiert die Gruppe, indem sie sagt: "Ja, wir sind hier, weil die NATO Krieg geführt hat in Libyen." Kriege allgemein, ob nun von der NATO oder von anderen geführt, produzieren Flüchtlinge. Deshalb sind die Flüchtlinge hier, und deshalb kann man das auch nicht isoliert von der Ursache sehen.

Transparent am Infozelt mit der Aufschrift 'Wir haben nicht den NATO-Krieg in Libyen überlebt, um auf Hamburgs Straßen zu sterben!' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Es kamen Zivilisten, um derentwillen die NATO Krieg gegen Libyen führte
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das haben die Flüchtlinge in den letzten Gesprächen so auch gegenüber Mitgliedern der SPD-Fraktion noch einmal deutlich gesagt: "Deshalb habt ihr auch die Verantwortung, dafür hier eine Lösung zu finden." Ich habe das Gefühl, wenn ich mit Menschen spreche, die einfach nur menschlich sind, daß sie das Problem begreifen und wissen, daß es nicht nur um diese 300 Leute geht. Und ich glaube auch, daß sich für viele in diesem Kampf etwas verändern kann. Dadurch, daß es diese 300 Menschen konkret gibt, die es trotz dieser widrigen Umstände schaffen, weiter für ihr Recht zu kämpfen, merken viele vielleicht auch, daß man nicht ganz so schnell aufgeben darf oder muß. Ich glaube, daß diese Flüchtlinge es geschafft haben, einfach diese Motivation aufrechtzuerhalten, so daß hier jetzt eine ganze Menge Gruppen - Gewerkschaften, Anwälte, die Kirche, SchülerInnen, linke, linksradikale und alle möglichen weiteren Organisationen - sich engagieren. Dabei ist mein Gefühl, daß sie aus der Erkenntnis heraus etwas machen, und zwar aus einer Sicht, die ein bißchen uneigennütziger ist als das, was sie vielleicht sonst manchmal machen.

SB: Wenn ich das auf der Pressekonferenz richtig verstanden habe, ist § 23 Aufenthaltsgesetz für Flüchtlinge aus anderen Staaten in Hamburg schon angewandt worden, aber bei den Gruppe Lampedusa stellt sich der Senat quer. Sie haben uns gerade die Desinformationspolitik gegenüber dieser Gruppe, die öffentlich mit ihrer Kritik und ihrem Protest sehr viel deutlicher in Erscheinung tritt, als es das in Hamburg seit langer Zeit gegeben hat, geschildert. Halten Sie es für möglich, daß das jetzt so etwas wie eine Krisenbewältigungspolitik des Senats ist, um diese Entwicklung irgendwie zu deckeln und wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen und daß ihm gerade die Verknüpfungs- und Berührungspunkte, die es zwischen hiesigen Gruppen und den Flüchtlingen gibt, ein Dorn im Auge sind?

BE: Das kann ich so nicht sagen. Aber auf jeden Fall versuchen sie natürlich, dieses Problem von der Agenda wegzubekommen, weil sie merken, daß es eine Menge Menschen gibt, die sich mit den Flüchtlingen solidarisieren. Sie versuchen, eine vermeintliche Lösung zu präsentieren und versuchen, damit insbesondere Menschen zu erreichen, die vielleicht gute Dinge wollen, aber erst einmal froh sind, wenn es für die nächsten drei Monate eine Lösung gibt. Ich glaube, es gibt Menschen, die können ein solches Schicksal, wie es diese Flüchtlinge haben, gar nicht nahe an sich ranlassen. Auf Dauer können sie es nicht ertragen, und das heißt, sie wollen jetzt erst einmal eine schnelle Lösung, aber wollen nicht daran denken, was in drei Jahren ist. Die denken nur: "Ah ja, jetzt haben sie doch erst einmal 'was. Jetzt bekommen sie ein bißchen Geld und können irgendwo wohnen." Das Problem ist dann gelöst und weg aus dem Kopf. Das geschieht gar nicht bewußt.

Ich glaube, das passiert unterbewußt, und natürlich ist es clever von seiten des Senats zu versuchen, diesen Menschen, die auf dieser Weise agieren und vielleicht einen eigentlich positiven Anspruch haben, die humanistisch sind, mit den Leuten arbeiten und irgendwie etwas Gutes für sie erreichen wollen, zu sagen: "Hier gibt es doch ein Lösung." Dann ist die Luft erst einmal 'raus, und man muß sich nicht damit beschäftigen, was in drei Jahren ist, wenn die Menschen, für die es keine gute Lösung gibt, vielleicht schon wieder weg sind. Natürlich hat der Senat Angst davor, sich politisch zu äußern. So wie er sich jetzt äußert, äußert er sich nicht politisch. Das ist eine ganz typische Sache, wie alles hier in Deutschland auf dieser Law-and-Order-Ebene gelöst wird.

Infozelt der Gruppe Lampedusa inmitten Hamburgs - Foto: © 2013 by Schattenblick

Seit einem halben Jahr in der Öffentlichkeit präsent - Infozelt der Gruppe "Lampedusa in Hamburg"
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Wir haben vorhin von Ihrer Kollegin [4] schon gehört, daß es eine wichtige Rolle spielt, wenn einfach ganz normale Leute mit den Flüchtlingen in Kontakt treten. In dem Moment, in dem man sich ein bißchen näherkommt, ist das Thema nicht mehr so abstrakt. Könnte die Unterstützung für die Gruppe Lampedusa durch persönliche Kontakte und Begegnungsflächen noch verstärkt werden?

BE: Ich glaube, daß es diese Unterstützung sowieso nicht gegeben hätte, wenn die Gruppe nicht öffentlich in Erscheinung treten würde, z.B. mit dem Info-Zelt, das es am Steindamm gibt. Die Sprecher, aber auch andere Mitglieder der Gruppe machen Informationsveranstaltungen in Schulen und an Universitäten. Die Leute hier haben die Möglichkeit, diese Menschen kennenzulernen, und das ist etwas, was normalerweise nicht möglich ist, weil sie im deutschen Flüchtlingssystem - genauso wie in Italien - in Camps gesteckt und weit außerhalb untergebracht werden. Das war ja hier auch so. Was hier vor sechs Monaten zwischen der Kirche und dem Senat zuerst angedacht wurde, war, daß man die Leute in einer Schule in Langenhorn unterbringt. Oder die Leute, die in Horst untergebracht wurden! Die Menschen also möglichst da unterzubringen, wo sie keinen Kontakt mit der Bevölkerung haben.

So haben die Menschen nicht mehr das Bild im Kopf, das irgendwo dargestellt wird und irgendwelche Vorurteile transportiert, sondern sie lernen andere Menschen kennen. Ich glaube, das würde allgemein etwas verändern jenseits dieser Gruppe, wenn das anders wäre. Denn dann sind es plötzlich Menschen, von denen sich andere Menschen selber ein Bild machen können. Natürlich ist das ein ganz, ganz wichtiger Punkt. Es ist, glaube ich, tatsächlich eine der Stärken dieser Gruppe, daß sie gesagt hat "wir sind präsent und wir sind da" und genau das Gegenteil macht von dem, was der Senat ihnen vorwirft. Sie verstecken sich ja gerade nicht!

SB: Das ist auch so ein Widersinn, ihnen vorzuwerfen, daß sie ihre Identität verbergen würden, obwohl sie von sich aus an die Öffentlichkeit gehen mit Namen und Telefonnummern.

BE: Genau. Das macht jeder von ihnen.

SB: Ich könnte mir vorstellen, daß das eine Entwicklung ist, bei der die Politik oder konkret der Hamburger Senat so ein bißchen Bedenken bekommt, weil eine Gruppe von Menschen, die normalerweise völlig ausgeblendet wird, plötzlich in Erscheinung tritt und auf einmal ihre eigenen Interessen formuliert, so daß vielleicht die Gefahr besteht, daß noch mehr Leute in prekärer Lage plötzlich auf solche Ideen kommen könnten.

BE: Es sind Menschen, die sich nicht nur als Opfer darstellen. Das ist, glaube ich, auch eine Herausforderung für viele Unterstützerinnen und Unterstützer. Das sind keine Objekte, für die ich etwas tue, sondern Subjekte, die ihre eigenen Vorstellungen und Interessen haben. Das ist tatsächlich etwas, was hier nicht oft stattfindet. Oft werden Konflikte den eigentlich Betroffenen enteignet. Wenn ich als Strafverteidigerin tätig bin, ist es häufig so, daß man sich in das Kämmerchen zurückzieht und die Juristen unter sich 'mal so beraten, was denn so aus dem Strafverfahren herauskommen soll. Da redet man nicht mit den Menschen, sondern das findet natürlich ohne den Angeklagten statt. Man redet über die Menschen und das aus der Perspektive der Juristen, so nach dem Motto: "Ah, wir sind alle gleich, wir haben alle Jura studiert und kommen aus demselben Stall, da unterhalten wir uns jetzt 'mal." Ich glaube, das macht diese Gruppe aus, die will das anders, und das ist natürlich für ganz viele ungewohnt, nicht nur für den Senat, sondern auch erst einmal für jeden von uns.

SB: In die Flüchtlingsunterstützungspolitik mischt sich dann auch etwas, was nicht nur die Gruppe Lampedusa, sondern auch "The Voice", die "Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen" und viele weitere Organisationen zum Ausdruck bringen, die sagen: "Wir bestimmen unseren Protest selber". Das ist natürlich auch an die Adresse der Unterstützenden gerichtet, bei denen sich die Unterstützung letztendlich häufig mit der Absicht verbindet, den Flüchtlingen irgendwie doch Vorschriften zu machen oder ihnen zu erklären, wie das hier so läuft.

BE: Ich glaube, das hängt auch mit mangelnder Erfahrung zusammen. Man ist in dem üblichen Ding drin, 'ich helfe anderen'. Das lernt man hier, wenn man aufwächst. Gewisse Dinge finden in einem bestimmten Rahmen statt, und das ist nicht nur bei den Flüchtlingen so. Wie gesagt, das geschieht im Strafverfahren genauso, und die meisten akzeptieren das auch so oder merken das gar nicht. Das ist bei dieser Bewegung anders, und das ist sicher ein Vorteil.

SB: Inzwischen kann man überall in der bürgerlichen Presse lesen, wo die Frage von Frontex aufgeworfen und ein bißchen recherchiert wurde, daß gefragt wird, was da eigentlich vorgeht. Das ist ein heikles Thema im Moment, wenn sie darauf stoßen, daß Frontex zum Beispiel in einigen nachgewiesenen Fällen tatsächlich Flüchtlingsschiffe abgedrängt hat. Das geht praktisch durch alle Medien, wenn Frontex dann sagt: "Ja, das waren vielleicht Ausnahmefälle, die werden wir gleich prüfen." Aber es ist schon auffallend, daß es eigentlich nicht darum geht, den Flüchtlingen zu helfen. Daß die europäische Flüchtlingspolitik eine aktive Politik gegen die Flüchtlinge ist, kommt schon ein bißchen ins Bewußtsein rein. Im Moment gibt es da eine gewisse Öffentlichkeit, nachdem das jahrelang in den Medien überhaupt kein Thema war.

BE: Sehr häufig ist es doch so, daß es ein bißchen als Verschwörungstheorie gilt, wenn man sagt: "Ja, das ist auch tatsächlich gar nicht gewollt, die Flüchtlinge will man hier nicht." In dem Zusammenhang gibt es eine aufschlußreiche Studie von EUISS, dem "European Institute for Security Studies" [5]. Das ist der Thinktank der Europäischen Union, der die Europäische Kommission berät und auch mitbeteiligt gewesen ist an der Gründung von EUROPOL und EUROJUST. EUROJUST ist so etwas wie die europäische Staatsanwaltschaft oder soll es einmal werden. Das EUISS ist im Grunde so etwas wie die "Stiftung für Wissenschaft und Politik", das Thinktank der Bundesregierung. Das EUISS ist das Pendant auf europäischer Ebene und wird auch aus EU-Geldern finanziert.

Die haben Anfang der 2000er Jahre eine Studie über die Perspektiven der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik für die nächsten 20 Jahre herausgegeben. Darin sagen sie, daß die Kriege der modernen Zeit nicht mehr zwischen Staaten geführt werden, sondern zwischen ungleichen sozioökonomischen Klassen, wozu dann auf der einen Seite Europa, die OECD und Staaten wie Brasilien und China gehören, und auf der anderen Seite die "Bottom Billion" (zu deutsch: unterste Milliarde), so nennt es das EUISS. Und in dem Zusammenhang schreiben sie auch, daß gegen diese Bottom Billion der Welt auch im Rahmen der Flüchtlingspolitik alle intensiven Kampfmaßnahmen ergriffen werden müssen. Das kann man ganz offen aufrufen auf der Webseite dieses EUISS. Daraus ist dann auch Frontex entstanden und jetzt EUROSUR. Aus meiner Sicht ist das eine eindeutige Rhetorik, aber das an die Öffentlichkeit zu bringen, ist natürlich nicht so einfach.

SB: Das zeigt dann aber auch auf, wie tiefgreifend und weitreichend das gesamte Problem eigentlich ist und wie wenig es mit einer reinen Appellpolitik - "Macht doch bitte etwas für die Flüchtlinge, lieber Senat" - getan ist.

BE: Ja. Wenn man sich das anguckt, weiß man natürlich, unter welchem Druck auch so ein Senat oder Politiker stehen, bestimmte Entscheidungen zu treffen oder eben auch nicht.

SB: Da sieht man die Kette auf einmal vor sich und weiß, warum die Hamburger auf keinen Fall der Vorreiter für irgendsoetwas sein wollen. Einmal angenommen, der Senat würde - getragen und getrieben - letztendlich zustimmen: Inwieweit wäre das eine Hamburger Lösung, bei der man sagt: "Okay, aber die ist nur maßgeschneidert für diese 300 Flüchtlinge", was schon gut wäre, wenn das klappen würde. Könnte das eine Signalwirkung haben vielleicht für andere Städte, sich zu überlegen: "Wie sieht denn die Lage bei uns aus? Können wir nicht auch so eine Idee vorantragen?" Oder könnte das im ganz, ganz ungünstigsten Fall dazu führen, daß gesagt wird: "Gut, das hat doch wunderbar geklappt, aber jetzt kommt wieder der Deckel drauf", daß also das Gesamtproblem der Flüchtlingspolitik in einem kleinen Fall als Zugeständnis geduldet, aber danach gleich wieder weggeschlossen wird?

BE: Das ist dann eine Frage dessen, wie stark die Bewegung ist.

SB: Ein klares Schlußwort. Vielen Dank, Frau Eder, für dieses lange Gespräch.

Transparent an Demo-Wagen mit der Aufschrift 'Hamburg, das Tor zur Welt - Geschlossen für politisch Verfolgte, Menschen ohne Pass, (Bürger)Kriegsflüchtlinge, Menschen ohne Besitz, Menschen...' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Demonstration vom 2. November 2013 setzte ein Zeichen an Senat und Öffentlichkeit
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Erstveröffentlichung am 19.08.2009 im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → UNTERHALTUNG → SPUCKNAPF: SCHNAPPSCHUSS/0005:
http://schattenblick.de/infopool/unterhlt/spucknap/usss0005.html

[2] Siehe auch den Bericht zu dieser Pressekonferenz im Schattenblick unter
www.schattenblick.de -> INFOPOOL -> BÜRGER/GESELLSCHAFT -> REPORT:
BERICHT/023: Lampedusa in Hamburg - Säumnisse und Chancen (SB)
http://schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0023.html

[3] Siehe auch die Nachlese zu der Demonstration vom 2. November im Schattenblick unter
www.schattenblick.de -> INFOPOOL -> BÜRGER/GESELLSCHAFT -> REPORT:
BERICHT/022: Lampedusa in Hamburg - Nachlese (SB)
http://schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0022.html

[4] Siehe das Interview mit der Rechtsanwältin Insa Graefe im Schattenblick unter
www.schattenblick.de -> INFOPOOL -> BÜRGER/GESELLSCHAFT -> REPORT:
INTERVIEW/036: Lampedusa in Hamburg - in des Teufels Ohr, Rechtsanwältin Insa Graefe im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0036.html

[5] Herunterzuladen in englischer und deutscher Sprache bei:
http://www.iss.europa.eu/publications/detail/article/what-ambitions-for-european-defence-in-2020/
http://www.iss.europa.eu/publications/detail/article/perspektiven-fuer-die-europaeische-verteidigung-2020/


Bisherige Beiträge zu "Lampedusa in Hamburg" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/022: Lampedusa in Hamburg - Nachlese (SB)
BERICHT/023: Lampedusa in Hamburg - Säumnisse und Chancen (SB)
INTERVIEW/032: Lampedusa in Hamburg - Tor ohne Tür, Flüchtling A. Tchassei im Gespräch (SB)
INTERVIEW/033: Lampedusa in Hamburg - Christenpflicht und Staatsräson, Pastor Sieghard Wilm im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: Lampedusa in Hamburg - das fordert die Geschichte, mit Andreas Gerhold im Gespräch (SB)
INTERVIEW/035: Lampedusa in Hamburg - und vor der Tür da schreit die Welt, Cornelia Gunßer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/036: Lampedusa in Hamburg - in des Teufels Ohr, Rechtsanwältin Insa Graefe im Gespräch (SB)

www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR:
REPRESSION/1509: Wir sind Deutschland? - Wir sind Lampedusa! (SB)

Siehe auch Beiträge zum Flüchtlingssterben im Mittelmeer:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → BRENNPUNKT: SEEGRENZE

http://schattenblick.de/infopool/europool/ip_europool_brenn_seegrenze.shtml

Siehe auch Beiträge zu Flüchtlingsprotesten:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → TICKER: FLUCHT

http://schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_ticker_flucht.shtml

6. Dezember 2013