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INTERVIEW/022: Megacities - Fehlverteilung urban - Benjamin Etzold im Gespräch (SB)


Interview am 16. April 2013 in Bonn


Portrait - Foto: © 2013 by Schattenblick

Benjamin Etzold
Foto: © 2013 by Schattenblick

Benjamin Etzold ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Bonn und gehört dort der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Hans-Georg Bohle an. Die Abteilung Geographische Entwicklungsforschung verfolgt zur Zeit drei Forschungsschwerpunkte: Forschungen zu Megacities, Analysen von Ernährungssicherungsproblemen in Entwicklungsländern und konzeptionelle Arbeiten über Verwundbarkeit und Resilienz von sozial-ökologischen Systemen.

Die persönlichen Forschungsschwerpunkte Etzolds sind Geographische Entwicklungs- und Migrationsforschung; kritische, reflexive und relationale Sozialgeographie; soziologische Handlungstheorien (v.a. nach Bourdieu); Governance; Ernährungssicherung in Städten des Südens; Straßenhändler und öffentliche Räume; irreguläre Migration. Im Rahmen seiner Dissertation befaßt er sich mit der Lebenssicherung von Straßenhändlern in Dhaka. [1]

Beim Abschlußkolloquium des DFG-Schwerpunktprogramms "Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change" vom 14. bis 16. April im Wissenschaftszentrum Bonn faßte Benjamin Etzold in Session 2 - "Resilience and Coping in Urban Contexts" Durchführung und Ergebnisse seines Forschungsprojekts unter dem Titel "Resilience Refused - Blocked Potentials for Food Security in Dhaka" zusammen. Am Rande des Kolloquiums beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Schattenblick: Wie waren Ihre persönlichen Erfahrungen mit dem umfangreichen, sechsjährigen Forschungsprozeß?

Benjamin Etzold: Sehr spannend. Ich war von Anfang an mit dabei und habe 2006 noch meine Diplomarbeit geschrieben. Im November des Jahres nahm ich in Berlin an einem ersten Treffen mit den Verantwortlichen der Projekte, die bewilligt wurden, teil. Nach dem anfänglichen Abtasten lernte man sich erst einmal näher kennen, bis sich mit der Zeit eine produktive Community herausgebildet hat. Vor allem bei den Projekten, die in Dhaka durchgeführt wurden - am Anfang waren es drei, später dann vier Projekte -, hatten wir mit den Doktoranden eine richtig gute Zusammenarbeit. Ich kenne andere Kollegen, die in Einzelprojekten forschen. Demgegenüber war es schon beflügelnd, wenn fünf junge Leute in so einer Stadt wie Dhaka unterwegs sind und sich mit spannenden Fragen beschäftigen, aber auch mit dem Alltag zu kämpfen haben und sich gegenseitig unterstützen. In einer Megacity wie Dhaka, wo es schwierig ist, viele praktische Dinge zu organisieren, Interviewpartner zu gewinnen, sich im Alltag, im Verkehrschaos angesichts der Sprachprobleme zurechtzufinden oder mit kulturellen Grenzen klarzukommen, haben wir uns gegenseitig nach Kräften unterstützt. So ist man von den Programmen her immer wieder punktuell zusammengekommen.

SB: Wie lange waren Sie in Dhaka?

BE: Ich bin insgesamt neun Monate, verteilt über drei, vier Aufenthalte, in Dhaka gewesen. Der längste Aufenthalt dauerte vier Monate. Während dieser Zeit wurde ein Großteil der Forschung bewältigt, wobei ich auch Studenten beschäftigt habe, die zum Beispiel eine Umfrage durchführten oder Beobachtungen machten.

SB: In Dhaka waren Sie mit einer fremden Kultur und ungewohnten Lebensverhältnissen konfrontiert. Wie haben Sie diesen Wechsel empfunden?

BE: Das erste Mal reiste ich im Februar 2007 dorthin und war völlig baff. Die unglaubliche Intensität und Dichte der Eindrücke mit so vielen Menschen und dem durchdringenden Lärm holt einen wirklich von den Socken. Das Ganze hatte aber auch eine dunkle Seite. In Deutschland sieht man hin und wieder Menschen, die betteln oder auf der Straße schlafen, aber in Dhaka wirken die vielen Obdachlosen, die erdrückende Armut und soziale Ausgrenzung, die einem ins Auge sticht, schon sehr befremdlich. Vor allem, wenn man andererseits auch den Reichtum sieht, der dort vorhanden ist. Dieser Gegensatz war der größte Schock für mich. Natürlich habe ich Armut im Prinzip erwartet. Man geht nicht nach Bangladesch und macht dort seine Arbeit, ohne zu wissen, daß es im Schnitt der Bevölkerung eines der ärmsten Länder der Welt ist, aber der immense Reichtum, der den entsprechenden Kontrast zur Armut bildet, hat mich dann doch sprachlos gemacht.

SB: Wie ist es Ihrer Ansicht nach in Bangladesch zu dieser speziellen Aufspaltung der Einkommensverhältnisse oder der Verteilung von Reichtum und Armut gekommen? Lassen sich dafür historische Gründe anführen?

BE: Ja, natürlich hat es mit der kolonialen Herrschaft zu tun, aber vor allem ist Reichtum in Bangladesch immer eine Frage von Landbesitz. Es gab schon lange vorher Kasten, die Großgrundbesitzer waren. Diese wurden, wie es immer war, letztendlich von den Kolonialherrschern unterstützt und als Elite ausgewiesen. Daneben gab es besitzlose Landarbeiter und Kleinbauern. Mit der Tradition der Erbfolge, derzufolge das Land eines Vaters immer auf alle Söhne aufgeteilt wird, wurden die Landeinheiten kleiner und kleiner. Bei einem raschen Bevölkerungswachstum ist dann irgendwann so wenig Land für eine einzelne Person vorhanden, daß man damit seine Familie kaum noch ernähren kann. Landbesitz ist also ganz zentral hinsichtlich der Lebensverhältnisse. Wer viel Land besaß, war schon immer im Vorteil und konnte zum Beispiel seine Kinder im Ausland wie insbesondere in England oder den USA besser ausbilden lassen. Aus ihnen ist dann die nächste Elitegeneration hervorgegangen, die das Land heute im Prinzip regiert.

SB: Ließe sich das so verstehen, daß die Herausbildung einer elitären Schicht eine Folge von äußeren Einflüssen aus der Kolonialzeit war und andererseits heutzutage der Druck auf Bangladesch vom Ausland in Form internationaler Institutionen wie IWF und Weltbank die Ungleichverteilung des Reichtums aufrechterhält?

BE: Es ist nicht alles von außen verursacht. Geschichtlich spielt die Kolonialzeit sicherlich eine wichtige Rolle, aber die Restrukturierung des Landes seit der Unabhängigkeit 1971 und die Rolle der politischen Parteien darf dabei nicht außer acht gelassen werden. In Bangladesch herrscht ein starres politisches System nach dem Prinzip "the winner takes it all"; es ist ein System, in dem sich zwei große Parteien sehr konfrontativ gegenüberstehen. Der Zugang zu Macht und Kapital ist entsprechend verbunden mit den Positionen einzelner Personen in den politischen Parteien. Wenn eine Partei an der Macht ist, hat die Elite dieser Partei zugleich auch Zugang zu den Ressourcen. Somit gründet sich Ungleichverteilung auch auf das politische System, das nicht auf Ausgleich ausgerichtet ist. Vielmehr eignet sich die Partei, die an der Macht ist, soviel Land und Ressourcen an und schafft soviel Geld beiseite, wie es nur geht. Das kommt nicht von außen, es ist wirklich ein internes politisches Problem, wobei die Korruption in Bangladesch unglaubliche Dimensionen annimmt.

Darüber hinaus gab es dort in den 80er und 90er Jahren eine ganze Reihe von Strukturanpassungsmaßnahmen, die die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und öffentliche Einrichtungen Stück für Stück heruntergefahren haben. Dadurch sind viele Arme und Mittelschichtler immer tiefer in die Verelendung abgerutscht. Andererseits sind die privaten Ausgaben für Gesundheit und Bildung stark gestiegen. Für die Elite stellte das nie ein Problem dar, aber viele Menschen, die von den öffentlichen Ausgaben abhängig waren, sind darüber in die Armut gestürzt. Das ist zum Teil sicher auch eine Folge der IWF- und Weltbankpolitik.

SB: Insofern wäre diese Entwicklung durch eine neoliberale Politik in Gang gesetzt worden, die teils von außen aufstrukturiert, teils aber auch von innen durchgetragen wurde, wie man es auch in anderen Ländern beobachten kann.

BE: Ja, es ist wie in anderen Ländern auch. Von außen kam seit Mitte, Ende der 80er Jahre die Textilindustrie ins Land, die Bangladesch strukturell sehr stark verändert hat, was man erst einmal positiv bewerten muß. Denn das dadurch entstandene Wachstum hat die Arbeitsmöglichkeiten entscheidend erweitert. Vor allem junge Frauen bekamen so die Chance, Geld zu verdienen, wodurch sich auch ihre soziale Position zum Teil erheblich verbessert hat - trotz der zugegebenermaßen sehr geringen Löhne. Doch die Möglichkeit, als Frau zu arbeiten und selbst für den Unterhalt sorgen zu können, hat es in dieser Form vorher nicht gegeben. Gesellschaftlich geriet dadurch viel in Bewegung. Als schließlich das Multi Fibre Arrangement am 1. Januar 2005 abgelaufen war, das letztendlich die Textilbranche bzw. den Welthandel mit Textilien reguliert hatte, konnte sich Bangladesch wirtschaftlich profilieren. Als im Anschluß in China, Vietnam und Indonesien die Löhne stärker gestiegen sind, hatte Bangladesch einen stärkeren komparativen Kostenvorteil.

SB: Allerdings bei einem recht niedrigeren Lohnniveau, woran sich wohl bis heute nichts geändert hat.

BE: Ja, jetzt sind über zwei Millionen Menschen in der Textilindustrie um Dhaka herum beschäftigt. Das ist ein riesiger Arbeitsmarkt, der natürlich auch viele andere Bereiche der Wirtschaft wie Handel, Dienstleistungen und Nahrungsmittelversorgung antreibt. Für viele eröffnet sich erst dadurch eine Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe, aber andererseits bereichern sich in dem Prozeß manche Akteure auf unglaubliche Weise. Diejenigen, die eng mit den politischen Parteien verbunden sind, können die Gewinne vom internationalen Handel abschöpfen und beispielsweise große Textilfabriken aufziehen, während die Löhne viel zu gering sind, als daß die Arbeiterinnen und Arbeiter davon wirklich langfristig leben könnten.

SB: Wie steht es mit den Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie Bangladeschs? Ich denke da beispielsweise an den Brand, der im vergangenen Jahr in einer großen Fabrikanlage ausgebrochen ist und dem viele Menschen zum Opfer gefallen sind.

BE: Richtig. Wir waren in Bangladesch, als es dort Ende November 2012 in einer Fabrik zu einem großen Brand kam, bei dem 112 Menschen ums Leben gekommen sind. Solche Zahlen sagen viel über die Arbeitsbedingungen. Massen von Näherinnen arbeiten eng an eng in riesigen mehrstöckigen Fabrikhallen, die zum Teil mitten in der Stadt stehen und nicht genug Notausgänge noch Feuerlöscher besitzen. Zudem sind die Fenster vergittert, damit nachts niemand einsteigt und stiehlt. Die Arbeiterinnen können bei Brandgefahr nicht nach draußen flüchten, abgesehen davon haben die Fabriken sehr schlechte Brandschutzmaßnahmen. Die Leute arbeiten in der Regel zwischen vierzehn und sechzehn Stunden am Tag. Vorrang hat das Fast-Fashion-Prinzip. Wenn beispielsweise H+M ein T-Shirt mit einem bestimmten Schnitt in Auftrag gibt, werden innerhalb einer Woche 10.000 Exemplare angefertigt. Natürlich wird sehr viel Druck auf die Arbeiterinnen ausgeübt, damit sie die Kontingente bedienen können. Grundsätzlich haben die Arbeiterinnen keine formalen Verträge, keine Sozial- und Krankenversicherungen und zahlen keine Rentenbeiträge. Je nachdem, welche Arbeit sie ausführen, verdienen sie zwischen 30 und 50 Euro im Monat. Davon kann man in Dhaka nicht existieren; selbst wenn man in einem Slum lebt, zahlt man im Schnitt für ein Zimmer 20 Euro im Monat.

SB: Wie ist denn generell das Preisniveau in Dhaka?

BE: Das Preisniveau ist in Dhaka generell höher als in anderen Teilen des Landes. Unser Forschungsprojekt Nahrungsmittelversorgung hat aufgezeigt, daß Bangladesch durchaus das Potential hat, sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen, aber trotzdem sind die Reispreise natürlich an die internationalen Märkte gekoppelt. Als die Getreidepreise 2007/2008 weltweit in die Höhe geschossen sind, hat das Bangladesch schwer getroffen. Zwischen Januar 2006 und Dezember 2008 haben sich die Preise für Reis nahezu verdoppelt. Für die städtischen Armen, die in der Textilindustrie arbeiten oder als Straßenhändler ihren Lebensunterhalt verdienen und so nur ihr Einkommen haben, um die Grundnahrungsmittel zu bezahlen, war es ein gewaltiger Schock. Sie mußten dann versuchen, mit dem Preisanstieg klarzukommen, entweder weniger essen oder andere Anpassungsmechanismen suchen, um zu überleben.

SB: Was wäre aus Ihrer Sicht ein sinnvoller Ansatz, um die Nahrungsmittelversorgung in Bangladesch zu verbesseren?

BE: Vieles geht über die Löhne. Wenn die Löhne beispielsweise in der Textilindustrie angehoben werden, trägt das substantiell zur Nahrungssicherung bei, weil dann die Arbeiterinnen mehr Geld in der Tasche haben, um Nahrung in besserer Qualität kaufen zu können. Diese Lohnmechanismen sind sehr wichtig. Zudem muß die Verteilungsstruktur weiter verbessert werden, da die Stadt wächst und wächst und mehr und mehr Nahrungsmittel benötigt. Daher müssen die Stadtregierung und der Staat zusehen, daß entsprechender Raum für Märkte vorhanden ist. Die Märkte organisieren sich letztendlich selbst. Dafür sorgen schon die Händler, aber der Staat darf nicht im Weg stehen. Zum Teil werden Märkte abgeräumt, weil sie nicht legal sind. Das ist kontraproduktiv. Gerade für die Menschen, die sich bei schnellen Preissteigerungen keinen Zugang zur Nahrung leisten können, muß es andere Optionen oder ein soziales Netz geben, das sie auffängt. Zum Beispiel über Social safetynet programs, die dann Nahrungsmittelausgaben organisieren oder Reis zu reduzierten Preisen ausgeben. Viele Maßnahmen in Bangladesch drehen sich nur um die arme Bevölkerung auf dem Land, aber die arme Bevölkerung in der Stadt wird oft vernachlässigt. Sie kommt zwar irgendwie über die Runden, muß dafür aber immer mehr arbeiten.

SB: Herr Etzold, vielen Dank für dieses Gespräch.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Benjamin Etzold mit SB-Redakteur
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.geographie.uni-bonn.de/forschung/arbeitsgruppe-bohle/members/benjamin-etzold#curriculum-vitae


Bisherige Beiträge zum Kolloquium "Megacities - Megachallenge" im Schattenblick unter INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

BERICHT/015: Megacities - Rauburbane Sammelpunkte (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0015.html

BERICHT/016: Megacities - Evolution der Umlast (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0016.html

INTERVIEW/015: Megacities - Über den Tellerrand - Prof. Dr. Frauke Kraas im Gespräch (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0015.html

INTERVIEW/016: Megacities - Forschungsselbstzweck Überleben - Dr. Johannes Karte im Gespräch (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0016.html

INTERVIEW/019: Megacities - Freiheit, Gleichheit, Forschung (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0019.html

INTERVIEW/020: Megacities - Konstruktdynamische Prozesse (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri20.html

24. Mai 2013