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BERICHT/080: TTIP Nein danke - Demo auf dem Nebengleis ... (SB)


Signale setzen - Deutungshoheit ausloten

Demonstration gegen TTIP am 23. April 2016 in Hannover


Rund 90.000 Menschen haben nach Angaben der Veranstalter in Hannover den Protest gegen TTIP, CETA und Konsorten, kurz ihre Ablehnung der Freihandelsabkommen in all ihren Spielarten, massenhaft auf die Straße getragen. Was die genannte Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer betrifft, ließ der persönliche Eindruck vor Ort angesichts der Länge des Demonstrationszuges durchaus auf eine angemessene Einschätzung der Größenordnung schließen. Es geht um nichts weniger als den Versuch des europäischen und US-amerikanischen Kapitals und der mit ihm verschränkten Regierungsmacht, ihren Entwurf von Handelspolitik national wie global als allgemeingültig und unumkehrbar durchzusetzen. In Anbetracht der anhaltenden Verwertungskrise einer wachstums- und profitgetriebenen Ökonomie soll der verschärfte Zugriff auf noch nicht restlos verfügbar gemachte Ressourcen, zumindest ansatzweise geschützte Besitzstände und insbesondere menschliche Arbeitskraft kodifiziert und etabliert werden. Daß sich diese Offensive gegen die Lebensverhältnisse beiderseits des Atlantiks, globale Konkurrenten wie die BRICS-Staaten und jegliche schwächeren Akteure in Gestalt der Entwicklungsländer nicht allein auf wirtschaftliche Raubzüge beschränkt, liegt auf der Hand. Sie ist zwangsläufig eingebettet in eine Strategie der Entmächtigung, da parlamentarische, gesetzgeberische und zivilgesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten massiv beschnitten werden sollen, um künftigem Widerstand gegen das Zwangsregime des Freihandels den Boden zu entziehen.


Frau macht Victory-Zeichen von einer Brücke - Foto: © 2016 by Schattenblick

Noch kein Sieg, aber ein Schritt nach vorne ...
Foto: © 2016 by Schattenblick

Da dessen Protagonisten befürchten, ihr Vorhaben könnte durchkreuzt werden, bevor der Sack zugebunden ist, verheimlichen, leugnen und verschleiern sie Inhalte und Ziele, wo immer es ihnen möglich ist. Es ist mithin eine vordringliche Aufgabe der Gegenbewegung, diese Mauer des Schweigens, der Propaganda und der Verharmlosung zu durchbrechen, um in der Öffentlichkeit Bewußtsein von Zusammenhängen und Konsequenzen dieses gravierenden Angriffs auf einer bislang viel zu wenig wahrgenommenen Ebene zu schaffen. Ort und Zeitpunkt der aktuellen Kampagne waren wohlgewählt: Da auf der Hannover-Messe mit US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel die beiden einflußreichsten politischen Befürworter des Freihandelsabkommens zusammentreffen, um TTIP den entscheidenden Anschub zu geben, wird die Konfrontation offengelegt. Hatten die deutschen Leitmedien noch den Mantel des Schweigens über die große Demonstration von 250.000 Menschen vom 10. Oktober 2015 in Berlin gebreitet, so kamen sie bei der jüngsten Manifestation, die 90.000 im Protest vereinte Menschen umfaßte, nicht umhin, der Kontroverse zumindest in Ansätzen zu bundesweiter Beachtung und Verbreitung zu verhelfen.

TTIP berge für die Regierungen, die es durchsetzen wollen, schon jetzt beträchtliche Risiken - so groß sei der Widerstand, merkt der Deutschlandfunk [1] dazu an. Dieses Abkommen habe Hunderttausenden Bürgern eine Art Crashkurs in Handelslehre verschafft. Wie manches andere politische Großthema funktioniere der TTIP-Protest wie eine Volkshochschule für Wirtschaft und Politik. Das jedenfalls sei schon jetzt ein unschätzbarer Nutzen dieses Abkommens - ob und wie auch immer es je zustande komme. Wenngleich dem letzten Halbsatz entgegenzuhalten ist, daß es darum geht, TTIP unter allen Umständen und in voller Gänze aus dem Feld zu schlagen, räumt diese Stellungnahme des Senders doch unumwunden ein, daß der auf Unwissenheit der Bevölkerung gründende Vorsprung der Freihandelsbefürworter mit wachsender Geschwindigkeit schrumpft.

Daß kein Haar in der Suppe zu finden war, mit dessen Hilfe sich die Bewegung diskreditieren ließe, konstatiert Die Zeit [2]. Den Organisatoren sei es eindrucksvoll gelungen, viele Menschen gegen TTIP auf die Straße zu bringen, ohne daß ungewünschte Bilder entstehen. Von deutschnationalistischen Slogans oder brennenden US-Flaggen keine Spur, zumal die Veranstalter ausdrücklich betont hätten, daß Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antiamerikanismus keinen Platz auf dieser Demonstration haben. Selbst ein vereinzeltes Plakat mit der Aufschrift "Obama go home" sei auf die freundliche Bitte dreier aufmerksamer Ordner heruntergenommen worden.


Polizeiblockade an Brücke - Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Polizei regelt die Demonstration
Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Breite des Bündnisses bei dieser Demonstration, zu der mehr als 100 Gruppen und Organisationen aus fast allen gesellschaftlichen Bereichen aufgerufen hatten [3], und eine Menschenmenge, deren Größe selbst die optimistischsten Erwartungen übertraf, stellten das Organisationsteam vor enorme Anforderungen, die jedoch auf eine bemerkenswert gelungene Weise bewältigt wurden. Die Kundgebungen zum Auftakt und Abschluß des Marsches rund um die Innenstadt boten mit einer ganzen Reihe von Rednerinnen und Rednern wie auch musikalischen Darbietungen ein beachtliches Spektrum an thematischer Kompetenz, Vielfalt der Aspekte und Sichtweisen aus unterschiedlichen Perspektiven, die einen Ausbau des Kenntnisstands und Ansporn zum Engagement mit guter Unterhaltung verbanden.

Daß sich der vielzitierte öffentliche Raum eines großen zentralen Platzes im Stadtkern zumindest befristet von zahlreichen Menschen beleben läßt, die nicht als Passanten Konsumzwänge oder bauliche Kulturgüter abarbeiten, bedurfte neben eines gemeinsamen Anliegens einer Gestaltung, die der dichtgedrängten Präsenz über etliche Stunden Rechnung trug. So lud eine Gasse mit Ständen diverser Organisationen zu Information und Gespräch ein. Die Rede- und Kulturbeiträge auf dem Podium wurden über Lautsprecheranlagen und zwei Großbildleinwände auf den weitläufigen Opernplatz übertragen, was die gewaltige Menschenmenge des Druckes enthob, sich nach vorn zur Bühne zu drängen.

Den Lindwurm Zehntausender Menschen reibungsarm in Bewegung zu setzen, während noch die letzten Redebeiträge auf dem Podium gehalten wurden, war ein Kunststück für sich. So unübersehbar lang war die Kolonne, daß der Versuch, sie in schweißtreibendem Bemühen vom Ende her bis an die Spitze zu überholen, erst kurz vor ihrer Rückkehr an den Kundgebungsplatz gelang. Wann immer man unterwegs, nur unterbrochen vom Fotografieren und kurzen Gesprächen, den Führungswagen an lauter Musik oder motivierenden Parolen zu erkennen glaubte, erwies sich dieser lediglich als Zwischenstation im vielfältigen Zug, vor dem sich die Vielzahl der Fahnen, Schilder und Transparente weiter und weiter erstreckte. Endlich am Fronttransparent angekommen, entpuppte sich auch dies keineswegs als Kopf der kilometerlangen Schlange: Allen voran rollten mehr als 30 Traktoren des bäuerlichen Widerstands, mit dem es eine eigene Bewandtnis hatte. Dieser Konvoi war bereits am Morgen zum niedersächsischen Landtag gefahren, um Repräsentanten der dort vertretenen Parteien von Angesicht zu Angesicht eine Stellungnahme abzuverlangen, wie sie es denn mit dem Freihandel hielten. Dem Vernehmen nach sprach sich keiner dafür aus.

Der Konvoi der Traktoren fand beträchtliche Resonanz in den Medien. Im Zuge der Befriedung bundesrepublikanischer Protestkultur wurden Kampfformen wie Generalstreiks, wilde Arbeitskämpfe und ungenehmigte Aktionen aller Art systematisch delegitimiert, weithin ausgegrenzt und zunehmend unterlassen, bis die Absage an derartige Kampfesweisen schließlich von den Akteuren zivilgesellschaftlichen Protests internalisiert worden war. Daß sich das im Nachbarland Frankreich anders verhält, wissen die deutschen Bauern, die zusammen mit ihren französischen Kollegen auf ihren Treckern nach Brüssel gefahren sind. Vom bäuerlichen Widerstand, der auch in der Tradition der Auseinandersetzungen um Gorleben im Wendland steht, könnten Impulse ausgehen, die Anti-TTIP-Bewegung an Aktionsformen des zivilen Ungehorsams zu erinnern.

Die bemerkenswerte Demonstration von Hannover hat ein Zeichen gesetzt, das von den führenden Medien wahrgenommen und in die Öffentlichkeit getragen worden ist. Ungeachtet ihrer Bedeutung für die Bewegung selbst bleibt weiterführenden Diskussionen vorbehalten, den Übertrag dieser Form des Protestes zu prüfen und mithin den Gehalt der dezidiert demonstrativen Kampagne selbstkritisch zu erörtern. Es stellt sich nicht nur die Frage, wie nach den 250.000 Menschen in Berlin und den 90.000 von Hannover beim bereits angekündigten Aktionstag im Herbst wieder Zehntausende, dann jedoch in verschiedenen Städten, mobilisiert werden können. Zu diskutieren wäre auch, was die führenden Protagonisten des Freihandels an dieser Protestform zu fürchten haben, wenn sie denn fest entschlossen sind, ihr Vorhaben umzusetzen, indem sie es tunlichst der parlamentarischen Zustimmung in den Mitgliedsländern der EU vorenthalten, was zu befürchten ist. Wenn am Samstag eine riesige Menschenmenge durch die Innenstadt von Hannover ziehen darf, doch Obama und Merkel am Sonntag und Montag das Feld beherrschen, bedarf dieses Nebeneinander nicht zuletzt einer Diskussion der Frage, was es bedeutet, auf die Straße zu gehen, um Deutungshoheit in Frage zu stellen.

Die Serie von Beiträgen zur Demonstration in Hannover wird mit Berichten und Interviews fortgesetzt.


Plakat der Linkspartei zum Treffen von Obama und Merkel - Foto: © 2016 by Schattenblick

Anstehende Werbeaktion für Freihandel konterkariert
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.deutschlandfunk.de/us-praesident-obama-in-hannover-ttip-ueberzeugt-nicht.720.de.html

[2] http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-04/ttip-demonstration-hannover-barack-obama-angela-merkel

[3] http://ttip-demo.de/presse/


24. April 2016


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