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BERICHT/068: Das Anti-TTIP-Bündnis - Widerstand und Kompromiß ... (SB)


Die Flügel weit ausgespannt ...

TTIP Strategie- und Aktionskonferenz in Kassel



Abschlußbild der Konferenzteilnehmer - Foto: © 2016 by Schattenblick

Den Tatendrang in wirksame Bahnen lenken ...
Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Widerstand gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) ist mit dem berühmt-berüchtigten Chlorhühnchen, das man hierzulande nicht auf dem Teller haben will, längst nicht mehr angemessen zu charakterisieren. Daß die in den USA erlaubte Desinfektion von Schlachttieren mit starken keimtötenden Chemikalien den Rang eines Erkennungsmerkmals für die Kritik an TTIP und anderen sogenannten Freihandelsabkommen erhielt, hat allerdings auch den Nachteil, den Einspruch von Millionen europäischer Bürgerinnen und Bürger auf einen irrationalen Reflex überempfindlicher Ökos, die die angeblich segensspendende Wirkung der Schaffung des weltgrößten Handelsraums nicht erkennen wollen, herabzuwürdigen. Wie bei jeder Debatte von hohem öffentlichen Interesse wird auch in diesem Fall gerne mit Verkürzungen und Übertreibungen gearbeitet, die am Kern der Sache vorbeigehen. Dabei ist die Tatsache, daß die hohe Bandgeschwindigkeit in US-amerikanischen Schlachtfabriken den Einsatz möglicherweise gesundheitsschädlicher Hilfsstoffe erfordert, durchaus signifikant für die Ziele, die mit TTIP verfolgt werden. Zur Intensivierung der Ausbeutung menschlicher Arbeit und schmerzempfindender Lebewesen gesellt sich die qualitative Verschlechterung nicht nur dieses Lebensmittels als Ergebnis einer epochalen "Befreiung" des Kapitals von Verwertungshindernissen aller Art, bei der die Masse der davon betroffenen Menschen nichts zu gewinnen, aber noch mehr als bisher zu verlieren hat.

Die verschiedenste Gruppen der Gesellschaft umfassende Ablehnung von TTIP und des bereits vollständig mit Kanada verhandelten Vorläufers CETA ist bei weitem nicht auf Verbraucherschutzinteressen einzugrenzen. Fast alle Felder sozialer und gesellschaftlicher Reproduktion sollen dem Interesse an der Erschließung neuer Verwertungsmöglichkeiten geöffnet werden, und das auf eine so intransparente und komplexe Weise, daß der Anspruch auf demokratische Teilhabe schon bei der Durchsetzung des Abkommens unter die Räder politischer Willkür gerät, um anschließend ganz und gar auf den Platz eines legitimatorischen Feigenblattes verwiesen zu werden. Die Menschen gehen nicht fehl in der Annahme, daß ihre ureigensten Lebensinteressen nicht nur mißachtet, sondern selbst zum Objekt rentabler Verwertung werden sollen. Als Verbraucher müssen sie mehr gesundheitliche Risiken und eine geringere Qualität ihrer Lebensmittel in Kauf nehmen, als Lohnabhängige sorgt der Kostendruck verschärfter Konkurrenz, die Aushöhlung von Arbeitsrechten und die weitere Kapitalisierung von Kranken- und Rentenversicherung für Abzüge aller Art, als Staatsbürger werden sie mit Symbolpolitik abgespeist und Demokratieabbau entrechtet, als Menschen sind sie einer Warenförmigkeit aller gesellschaftlichen und kulturellen Belange ausgesetzt, die ihren Lebenssinn in Frage stellt.

All diese Entwicklungen sind dem neoliberalen Kapitalismus ohnehin immanent, so daß TTIP nicht wie ein Schicksalsschlag über eine völlig unvorbereitete Bevölkerung hereinbrechen kann. Zwar bestreiten die Initiatoren und Sachwalter der Freihandelspolitik auf EU- und Bundesebene rundheraus, daß es zu weiteren Verschlechterungen der Lebensqualität käme. Zugleich haben sie jedoch kaum mehr als die Beschwichtigung aufzubieten, daß sich für den einzelnen nicht viel ändern wird, was die Frage aufwirft, wieso ein solches Abkommen dann überhaupt abgeschlossen werden soll. Die darauf gegebenen Antworten bieten nicht viel mehr als das Herunterbeten des neoliberalen Glaubenssatzes, daß wirtschaftliches Wachstum gut für die EU und Deutschland und damit gut für alle wäre. Ob hier und da ein neuer Arbeitsplatz entstehen, ein Verbrauchsartikel billiger oder eine technische Vorrichtung einfacher zu bedienen sein wird, ist in seiner prognostischen Wahrscheinlichkeit so umstritten wie angesichts der Unverhältnismäßigkeit zwischen Aufwand und Ergebnis dieses politischen Großprojektes trivial.

Das Mißtrauen der Menschen gegenüber den politischen Zielen der Bundesregierung und EU-Kommission entzündet sich nicht von ungefähr an der Frage, wieso die Absenkung von Zöllen im beiderseitigen Handel, die eigentlich im Mittelpunkt eines Freihandelsabkommens stehen sollte, nur einen Teil der Verhandlungsmasse darstellt, warum soviel Wert auf die Beseitigung sogenannter nichttarifärer Handelshemmnisse gelegt wird, wieso Streitfälle im transatlantischen Handel vor einer eigens geschaffenen Schiedsstelle und nicht ordentlichen Gerichten ausgetragen und Gesetzesvorhaben im Rahmen der sogenannten regulatorischen Kooperation unter den Vorbehalt der beteiligten Wirtschaftsakteure gestellt werden sollen. Sie liegen ganz richtig in ihrem Unverständnis darüber, daß einst für gut und richtig befundene Maßnahmen staatlicher Regulation und Kontrolle nun überkommen sein sollen, ohne daß gleichwertige Mechanismen des Schutzes der Menschenrechte, der Natur und Kultur an ihre Stelle treten. Sie täuschen sich nicht in dem Eindruck, daß gesellschaftlicher Fortschritt im Sinne des Ausbaus sozialer und ökologischer Rechte keineswegs Gegenstand der Verhandlungen ist, sondern diese geradewegs auf deren Schwächung abzielen.


Hörsaal der Universität Kassel mit Bannern - Foto: © 2016 by Schattenblick

Viel Platz für Bewegung
Foto: © 2016 by Schattenblick

Das Mittel internationaler Handelspolitik in der globalen Staatenkonkurrenz

Der begründete Verdacht, hier werde einmal mehr mit einer Politik der Beschwichtigung und Geheimhaltung darüber hinweggegangen, daß ganz andere Akteure das Sagen haben als der nominelle Souverän, bestätigt sich denn auch in der weiteren Analyse der Beweggründe und Argumente, mit denen TTIP beworben wird. Im Kern geht es um nationale und staatspolitische Ziele, deren Urheber und Adressaten in den oberen Etagen administrativer und ökonomischer Verfügungsgewalt sitzen. Die Schaffung des mit 800 Millionen Menschen weltgrößten Handelsraums, der das Gros der produktivsten Industriestaaten der Welt umfaßt, hebt die Konkurrenzsituation zwischen US-amerikanischen und EU-europäischen Unternehmen nicht auf, sondern verschärft sie im Sinne anwachsender Kapitalkonzentration und Monopolisierung zu Lasten mittlerer und kleiner Unternehmen auch innerhalb dieses Wirtschaftsraums. Zugleich richtet sich das bilaterale Abkommen, anders als beim multilateralen Welthandelsabkommen WTO, gegen dritte Akteure im allgemeinen und China im besonderen.

In das als "Fabrik der Welt" fungierende Land wurde ein Gutteil der industriellen Güterproduktion westlicher Staaten ausgelagert, weil seine kostengünstige Arbeiterschaft von einer postsozialistischen Staatlichkeit mit autoritären Mitteln am Boden gehalten wird und damit nicht nur ökologische Folgeschäden, sondern auch stets mögliche Klassenkämpfe externalisiert wurden. Von Berlin bis Washington ist man sich ebenso einig in der Kritik der Menschenrechtslage in China, wie man den wirtschaftlichen Ertrag dieser repressiven Praktiken stillschweigend und unwidersprochen in Anspruch nimmt. Der Gefahr, daß China zusammen mit den anderen BRICS-Staaten globale Handlungsmacht erlangte und den bislang führenden Industriestaaten nicht nur ökonomisch, sondern auch weltpolitisch den Rang abliefe, wird durch das Handelsabkommen Transpazifische Partnerschaft (TPP), an der neben den USA elf Pazifikanrainer, aber nicht China, beteiligt sind, entgegengetreten. Hier entsteht für die EU besonderer Handlungsdruck, hätte das Scheitern von TTIP doch auch zur Folge, von den Vorteilen, die sich für die USA aus TPP ergeben und von denen mittelbar auch EU-Unternehmen profitieren würden, abgekoppelt zu werden.

Diese Vorteile sind nicht nur an ökonomischen Kennziffern abzulesen, sondern betreffen auch die Definitionsmacht über die Rechtsnormen, unter denen sich zeigt, daß der "Frei"-Handel alles andere als frei ist, sondern seine jeweiligen Teilhaber ihres politischen und wirtschaftlichen Gewichtes gemäß durch seine Regeln begünstigt oder benachteiligt. Daß man nicht darauf verzichten will, diese Regeln zu setzen, ist ebenso erklärte Absicht der Bundesregierung wie die Übernahme von Geschäften, die ansonsten Länder wie China betrieben. Dies funktioniert um so besser, als der erreichte Stand der Produktivität und das Ausmaß nationaler Kapitalmacht durch die Verrechtlichung der Handelsbedingungen eine Gleichheit der beteiligten Parteien suggeriert, mit der sich die materielle Ungleichheit ihrer ökonomischen Möglichkeiten auf höchst profitable Weise bewirtschaften läßt, ohne sich den Vorwurf blanker Räuberei gefallen lassen zu müssen. In der Absicht, diesen Standortvorteil durch TTIP insbesondere gegenüber den Ländern des Südens und Ostens, aber auch den eigenen Lohnabhängigen auszubauen, sind sich deutsche Konzerne, Investoren und Politiker allemal handelseinig.

Die internationale Handelspolitik in ihrer heutigen, auf bilateralen Verträgen basierenden Form initiiert mithin einen Wettstreit zwischen Staaten, die miteinander ebenso konkurrieren, wie sie sich anderen gegenüber verbünden. Daß die Bildung internationaler Freihandelszonen nicht einmal alle daran beteiligten Bevölkerungen begünstigt, läßt sich analog am Beispiel einer EU studieren, die mit der Schaffung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ökonomische Verhältnisse zwischen Staaten zementiert hat, die den schwächeren Volkswirtschaften massive Einbrüche ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit beschert.

Die davon profitierende Bundesrepublik unterhält zudem mit zahlreichen Staaten bilaterale Handelsabkommen, in denen deutsche Unternehmen durch Investitionsschutzklauseln begünstigt werden, ohne daß dies hierzulande überhaupt zur Kenntnis genommen worden wäre. Auch das ist ein Grund zu fragen, ob die Bundesregierung für die Forderung, dem Abschluß eines transatlantischen Freihandelsabkommen keine sozialen und ökologischen Standards zu opfern, überhaupt der richtige Ansprechpartner ist. Zum einen betreibt sie mit der mehr oder minder gegen alle Menschen in der EU gerichteten Austeritätspolitik ein Krisenmanagement, das die Bevölkerungen haftbar macht für einen Kredit, dem die realwirtschaftliche Basis längst weggebrochen ist und der um so mehr zu einem politischen Mittel der Unterwerfung von der Krise besonders gebeutelter Staaten unter die Imperative von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit geworden ist. Zum andern ist es vor dem Hintergrund der Geschichte imperialistischer Staatenkonkurrenz, ihrer Eskalation in zwei von Deutschland ausgehenden Weltkriegen und der neuerlichen Verschärfung des Verhältnisses zu Rußland in Folge des Versuches der EU und USA, ihren wirtschaftspolitischen und geostrategischen Einfluß in der Ukraine geltend zu machen und die Osterweiterung der NATO ungeachtet der damit einhergehenden Gefahr fortzusetzen, nicht abwegig zu behaupten, daß es sich bei der Weiterentwicklung der internationalen Handelsarchitektur nach neoliberaler Maßgabe um das ökonomische Äquivalent zu ansonsten militärisch ausgetragenen Gewaltverhältnissen handelt. Zum dritten ist zu fragen, ob eine Politik ungeminderten Wachstums in Anbetracht des rapide fortschreitenden Klimawandels und der Verwüstung ganzer Regionen vor allem im Globalen Süden durch fossilistische, mineralische und agrarische Ressourcenausbeutung auch nur mittelfristig eine wünschenswerte Option sein kann.


Installation mit trojanischem Pferd aus Holz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Versteckt im Offensichtlichen?
Foto: © 2016 by Schattenblick

All inclusive - eine soziale Bewegung für fast alle Menschen und Streitfelder

Für den Widerstand gegen TTIP und andere sogenannten Freihandelsabkommen stellt sich mithin ein ganzes Bündel von Fragen. Sie betreffen diverse Politikfelder, deren Bearbeitung in jedem einzelnen Fall viel Sachkompetenz voraussetzt. Will man den Dingen ein wenig mehr auf den Grund gehen, dann rücken Fragen nach dem Verhältnis von kapitalistischer Vergesellschaftung und staatlicher Regulation, von produktiver Notwendigkeit und ökologischer Verträglichkeit, von individueller Freiheit und institutionalisierter Verrechtlichung, von persönlichem Vorteilsstreben und kollektivem Gemeinwohl, von gesellschaftlicher Produktion und privatwirtschaftlichem Interesse in den Blickpunkt. Menschen zu gemeinschaftlichem Handeln zu mobilisieren, die merken, daß TTIP sie ganz persönlich angeht und darüberhinaus schon länger virulente Fragen aufwirft, erfordert zudem ein praktisches und organisatorisches Geschick, das erlernt und entwickelt werden will.

Eine auf diesen Feldern aktive soziale Bewegung ist im Idealfall so heterogen wie die Vielfalt an Problem- und Themenstellungen und so geschlossen, wie es ihre politischen Schlagkraft erfordert. Eine solche Bewegung in Gang zu setzen ist eine Aufgabe, die außerhalb hochentwickelter administrativer Apparate in Politik und Wirtschaft kaum zu meistern ist. Daß sich mit dem Bündnis TTIP unfairhandelbar dennoch eine zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, Verbände und Vereine umfassende Bewegung gebildet hat, ist ein Verdienst, das nicht nur erfahrenen Aktivistinnen und Aktivisten sowie professionalisierten Funktionsträgern in Verbänden und NGOs geschuldet ist, sondern ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern.

Der spektakuläre Erfolg, am 10. Oktober 2015 mit 250.000 Demonstrantinnen und Demonstranten in Berlin kundzutun, daß dieses Projekt der EU-Kommission und Bundesregierung nicht kampflos hingenommen werden wird, ist äußerer Ausdruck einer organisatorischen Koordination und inhaltlichen Arbeit, die für sich genommen eine Errungenschaft darstellt. Die Breite der auf das eine Ziel, TTIP zu stoppen, gerichteten Bewegung bringt zugleich Probleme mit sich, die sich schon von der politischen und ideologischen Herkunft ihrer Aktivistinnen und Aktivisten her nicht vermeiden lassen. Wo die gesellschaftlichen Widersprüche in ihrer politischen und sozialen Verortung so breit ausgespannt sind wie in diesem Fall, weichen die Positionen und Forderungen desto mehr voneinander ab, je mehr ins Grundsätzliche und Prinzipielle gegangen wird. Solange die Verhinderung dieses Handelsabkommens auf der Agenda steht, mag es nicht erforderlich sein, an den Widersprüchen zu rühren, die der globalen Entuferung staatlicher und wirtschaftlicher Interessen vorausgehen und damit dokumentieren, daß es sich bei TTIP um ein prozessuales Geschehen gesellschaftlicher Transformation handelt, dessen Antriebe und Zielsetzungen erst im größeren Kontext vollständig entschlüsselt werden können.

Die sich jedem Menschen irgendwann einmal stellende Frage danach, was er denn tun kann, um offenkundig inakzeptable Zumutungen und Übergriffe zu verhindern, hat in den sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte weithin sichtbar Form und Gestalt angenommen. Das Bündnis TTIP unfairhandelbar stellt, auch wenn sich viele seiner Aktivistinnen und Aktivisten dessen nicht gewahr sein mögen, einen Kulminationspunkt des sozialen Widerstands dar, sind doch die wesentlichen Streitfelder klassenantagonistischer, sozialökologischer und staatskritischer Art in ihm repräsentiert. Auf der Aktionskonferenz des Bündnisses in Kassel ging es in erster Linie um Strategie und Taktik des weiteren Vorgehens. Doch Forderungen danach, sich in der allgemeinen Wahrnehmung nicht links verorten zu lassen, wie dem entgegengesetzte Stimmen, die das besonders häufig thematisierte Umwerben der SPD kritisierten, lassen erkennen, daß zumindest für den Fall einer Zukunft über Erfolg oder Niederlage bei der Verhinderung von TTIP hinaus einiger Klärungsbedarf zum Verhältnis von Widerstand und Kompromiß besteht. Über das erfreuliche Zeichen dafür, daß die Verhältnisse auch in der Bundesrepublik vielleicht doch noch in Bewegung geraten, soll an dieser Stelle weiter berichtet werden.


Blick auf Kassel von der Wilhelmshöhe - Foto: © 2016 by Schattenblick

Barockes Ordnungsstreben hilft hier nicht weiter
Foto: © 2016 by Schattenblick

6. März 2016


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