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BERICHT/043: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (1) (SB)


Brandbeschleuniger Bruttoinlandsprodukt

Session an der Universität Leipzig am 3. September 2014



So zutreffend das Postulat anmuten mag, daß die einzige Quelle der Wertschöpfung die menschliche Arbeitskraft sei, droht dieses als Zugewinn aufgefaßte Konstrukt des Werts doch den Umstand zu verschleiern, daß es sich dabei um die Verfügung über Leib und Leben von Menschen handelt, deren Vernutzung und Vernichtung dem daraus resultierenden Produkt erst die Bemessungsqualität des mehr oder minder Wertvollen verleiht. Wie Herrschaft nur auf Grundlage einer mit Machtmitteln erzwungenen wie auch durch Eigenbeteiligung stabilisierten Unterwerfung gesichert und fortgeschrieben werden kann, läßt sich ihre Produktionsweise als Schaffung von Unwert charakterisieren, also des unumkehrbaren Verbrauchs potentieller Entwürfe einer anderen menschlichen Entwicklung und konkreter Lebensmöglichkeiten.

Was den Kapitalismus als vorerst höchstentwickelte Form gesellschaftlich organisierter und global expandierender Verfügungsgewalt betrifft, hat sich an der Plünderung sogenannter natürlicher Ressourcen, insbesondere aber einer forcierten Verwertung der Menschen selbst seit den Tagen der ursprünglichen Akkumulation vom Grundsatz her nichts geändert. Wurden einst zu Hunderttausenden zählende Indianervölker in den Silberminen zu Tode geschunden, um den Aufstieg der spanischen Kolonialherren zu befördern, so haben innovative Schübe der Produktionsweise und ihrer weltweiten Durchsetzung seither dazu geführt, daß heute mehr Opfer des globalen Arbeitsregimes in Sklaverei geknechtet werden und mehr Menschen verhungern oder an Armutsfolgen sterben als je zuvor.

Wollte man daher von Fortschritt sprechen, so allenfalls im Sinne einer fortschreitenden Entuferung des Verschlingens, dessen materielle Basis euphemistisch als Wirtschaft bezeichnet wird. Daß diese notwendig wachsen muß, solange ihre nicht zu bändigenden Triebkräfte nicht vollständig aus dem Feld geschlagen sind, verdankt sich ihrem Grundprinzip, unausgesetzt Verfügungswert zu generieren. Da dieser nur in einem erbitterten Verdrängungsprozeß miteinander konkurrierender Partialinteressen realisiert werden kann, ist Stagnation gleichbedeutend mit einem Verlust an Zugriffsgewalt, also für deren Akteure nur zum Preis des eigenen Niedergangs zu haben.

Ist die Entfaltung der Produktivkräfte - also das Vermögen, Qualität und Ausmaß von Verbrauch und Zerstörung zu steigern - ein Wesensmerkmal der kapitalistischen Produktionsweise, so läßt sich Wachstum nur im Kontext der in den Produktionsverhältnissen materialisierten Herrschaft angemessen auf den Begriff bringen. Wachstum von dieser Herkunft zu entkoppeln, indem man es irrtümlich zum Wesensgrund der Problemlage erklärt und diese somit unzulässig auf eine Glaubensfrage reduziert, gliche dem Ansinnen, dem Tiger zu predigen, er möge künftig kleinere Brocken verschlingen, auf daß man sich mit ihm anfreunden kann.

Als ideologisches Konstrukt dient der Wachstumsbegriff zum einen dem Zweck, Ausbeutung und Unterdrückung im nationalen wie weltweiten Maßstab mittels der Behauptung auszublenden, eine wachsende Volkswirtschaft fördere das Wohlergehen aller. Zum andern wird dem krisengeschüttelten Kapitalismus die Wachstumsdoktrin als Patentrezept verordnet, um seinen zunehmend in Frage gestellten Ewigkeitsanspruch mit einer Durchhalteparole zu versehen, die jeglichen Einwänden den Rang ablaufen soll. Längst hört man sich die aktuelle Wachstumsprognose mit derselben Selbstverständlichkeit wie den Wetterbericht an, wobei der obligatorische Pseudozweifel an der Treffsicherheit der Vorhersage den unhinterfragten Glauben an deren prinzipielle Möglichkeit und Aussagekraft nur um so nachhaltiger zementiert.

Eingeschworen auf die Zahlen vor und hinter dem Komma, die wie ein Damoklesschwert über dem Wohl und Wehe künftiger Lebensverhältnisse zu hängen scheinen, gerät der Primat anwachsender Produktivität zu einem Glaubensbekenntnis eigener Art. Die dabei anfallenden Verluste an Subsistenz und Selbstbestimmung erscheinen akzeptabel, wenn sie von schlechtergestellten Gruppen der eigenen Bevölkerung oder der anderer Länder erlitten werden. Als Kehrwert eigener Vorteilsnahme leisten sie unverzichtbare Dienste bei der Befriedung eines bürgerlichen Unmutes, der als sozialdarwinistisches Spaltprodukt von der Angst umgetrieben wird, vielleicht nicht zu den Siegern der Geschichte zu gehören. Sozialer Widerstand hingegen, der sich grenzüberschreitend formiert und dem nationalen Besitzbürgertum die internationale Solidarität der Lohnabhängigen und Eigentumslosen gegenüberstellt, wird staatlicherseits massiv bekämpft, weil er sich tatsächlich als frei von Konkurrenz und damit unbestechlich erweisen könnte.


Kennziffern blenden soziale Widersprüche aus

Mathematisiert in Gestalt des gesellschaftlichen Gesamtprodukts oder Bruttoinlandsprodukts (BIP), gerinnt das vergleichsgestützte Vorteilsstreben zu einer vermeintlich objektiven Bemessungsgröße des Wachstums. Wenngleich die wenigsten wissen, was genau es damit auf sich hat, huldigt ein neoreligiös anmutender Kult dem Götzen BIP, der am 31. Dezember 1999 in Anwesenheit berühmter Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften wie Bill Nordhaus oder James Tobin als größte Erfindung des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde. Dabei rühmte man die moralische Überlegenheit dieses Parameters, da er die allermeisten Ökonomien vergleichbar mache. Dieser Triumph einer aufoktroyierten Bemessungsgröße über jegliche gesellschaftlichen Widersprüche und die daraus resultierenden Lebensverhältnisse legt den Verdacht nahe, daß es sich beim BIP um ein bedeutsames Instrument zur Durchsetzung herrschender Interessen handelt.

Um dieser Frage nachzugehen, hilft es weiter, die heute gängige Auffassung in der Volkswirtschaftslehre im Lichte der Marxschen Theorie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Nach Marx setzt sich der Wert des Einzelprodukts wie auch des volkswirtschaftlichen Gesamtprodukts aus den drei Bestandteilen c, v und m zusammen. Dabei ist c das zur Herstellung des Produkts eingesetzte konstante Kapital, also das für die Produktions- und Arbeitsmittel vorgeschossene Geld. Dessen Wert wird nicht neu produziert, sondern im Produktionsprozeß auf dessen Ergebnis, das neu hergestellte Produkt, übertragen und durch den Warenverkauf konstant ersetzt. v ist das variable Kapital, nämlich die an die Verkäuferinnen und Verkäufer ihrer Arbeitskraft zu zahlende Lohnsumme. Schließlich kommt der Mehrwert m, also der Überschuß des gesamten Produktenwertes über die Kosten seiner Herstellung (c + v), durch denjenigen Teil der Arbeitszeit zustande, den die Arbeiterinnen und Arbeiter unentgeltlich verrichten.

Marx verstand unter Arbeit die zweckmäßige Tätigkeit des Menschen, der die Naturstoffe verändert, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er maß sie in der dazu erforderlichen Zeit, wobei er die Unterschiedslosigkeit verschiedener Tätigkeiten unterstellte und dies als abstrakte Arbeit zusammenfaßte. Er ging von einem Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit aus: Als konkrete Arbeit überträgt sie den Wert der verbrauchten Produktionsmittel auf das neu hergestellte Produkt, ohne daß dabei zusätzlicher Wert geschöpft würde. Lediglich als abstrakte Arbeit fügt sie diesem übertragenen Wert neuen Wert hinzu. Daß dieser nur aus menschlicher Arbeit stammen kann, ist ihrem Zweck, die Reproduktion der Arbeitskraft der Lohnabhängigen durch den Kauf von Lebensmitteln aller Art zu gewährleisten, geschuldet.

Indem Marx eine Kritik der politischen Ökonomie leistet, bricht er mit der vorgeblich neutralen Beschreibung der für gerecht erachteten Produktionsverhältnisse. Kapital und Arbeit verhalten sich gegenläufig, weil sich ersteres nur durch den Mehrwert vergrößern läßt, den letztere erbringt. Die dafür zuständigen Arbeiterinnen und Arbeiter wurden historisch als kleinbäuerliche Landbevölkerung der Grundlagen ihrer Subsistenzwirtschaft beraubt und als urbane Proletarier dazu "befreit", ihre Arbeitskraft auf dem Markt feilzubieten. Dort treten sie Käufern gegenüber, die darauf aus sind, ihre Arbeitskraft gewinnbringend zu verwerten. Wo der weder über Land noch andere Produktionsmittel verfügende Mensch darauf angewiesen ist, seine Lebenskraft und -zeit in den Dienst eines Lohnherrn zu stellen, um nicht zu verhungern, ist er einem Abhängigkeitsverhältnis ausgesetzt, das ihm kaum die Wahl läßt, eine nicht durch ihren Warencharakter fremdbestimmte Arbeit zu verrichten und dabei Einbußen aller Art zu erleiden.

Demgegenüber geht die gegenwärtige Wirtschaftstheorie davon aus, daß das Produkt durch das Zusammenwirken von drei Produktionsfaktoren entsteht, nämlich Arbeit, Boden und Kapital, die entsprechend ihrem Anteil am Entstehen des Produkts Anspruch auf Einkommen haben. Alle drei Einkommensarten seien erarbeitet, der Anspruch auf sie sei daher gerechtfertigt. Indem die Herkunft des Kapitals und der Verfügung über den Boden (oder allgemeiner die natürlichen Ressourcen) ausgeblendet bleibt, werden die bestehenden Besitzverhältnisse als gegeben und unantastbar vorausgesetzt. Wo in den mathematischen Formeln die Variable L für Arbeit steht, abstrahiert diese von allen realen Widerspruchslagen und bleibt in ihrer Bemessung wie auch Bedeutung diffus.

Das "Zusammenwirken" der drei Produktionsfaktoren kann allenfalls versuchen, die Verteilung der Einkommen zu erklären, scheitert aber an einer schlüssigen Herleitung des Gesamtprodukts und seines Werts. Die Volkswirtschaftslehre kennt keine Kategorie "konstantes Kapital", und die Gesamtrechnung weist keine Summe für den Produktionsverbrauch aus: Der Verbrauch an Material, Energie und Dienstleistungen wie auch die Abschreibungen werden nicht zusammengefaßt. Vielmehr werden vom Produktionswert sofort die Vorleistungen abgezogen, die etwa 50 Prozent seines Werts ausmachen, woraus man das BIP erhält, das zum Ausgangspunkt der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird. Erst später werden die Abschreibungen subtrahiert, woraus das Nettoinlandsprodukt resultiert, das sich in Arbeitnehmerentgelt, Nettobetriebsüberschuß und Selbständigeneinkommen gliedert.


Dein Geld, mein Geld, unser Wachstum?

Das unterstellte Zusammenwirken der drei postulierten Produktionsfaktoren harmonisiert die gesellschaftlichen Verhältnisse, indem es die Herkunft der Herrschaft aus der Unterjochung und des Reichtums aus der Armut, also der fortgesetzten Hervorbringung, Gewährleistung und Verschärfung derselben, unterschlägt. Aus eben diesem Grund ist das BIP als ein Maß für die Summe der in einem Jahr hergestellten Güter und Dienstleistungen gleichgültig gegenüber der grundsätzlichen Widerspruchslage, die bei der Konstruktion dieser Bemessungsgröße nicht zufällig unter den Tisch fällt. Allen Geldwert aufzusummieren, der in einem Jahr kreuz und quer durchs Land geflossen ist, unterstellt einen gemeinsamen Topf, der zusammen gefüllt und zusammen verkonsumiert wird. Setzt man das unhinterfragt voraus, kann man sich zwar um Verteilungsgerechtigkeit streiten, weicht aber weit vor der Konfrontation mit diesen Verhältnissen zum Zweck ihrer Überwindung zurück.

Die weit verbreitete Kritik am BIP, es sei kein akzeptabler Wohlstandsindikator, da es weder die zunehmend ungleiche Verteilung der Einkommen noch die ökologischen Zerstörungen und die daraus resultierenden Wohlstandsminderungen mißt, geht insofern fehl, als sie die Stoßrichtung dieses Instruments mit seiner ideologischen Botschaft verwechselt. Als Meßgröße der Kapitalverwertung beziffert das BIP eben das, was ihm eine verkürzte Kritik als vermeintlichen Konstruktionsmangel vorhält. Daher stellt sich die Frage, ob die Ergänzung des BIP um weitere und immer neue Indikatoren, bei denen man die eigenen Bedürfnisse besser aufgehoben wähnt, tatsächlich die für untauglich befundenen Kriterien aus den Angeln hebt oder nicht im Gegenteil eine zwangsläufig fremdbestimmte Bemessung um so unabweislicher inthronisiert.

Solange man meint, Ökonomie und Herrschaft trennen zu können, indem man der Wirtschaft für besser erachtete Alternativen per Überzeugungsarbeit anempfiehlt, macht man die Rechnung ohne das dem Wirtschaften innewohnende Gewaltverhältnis. Entweder ist dieses Ansinnen integrierbar und trägt mithin zur Perfektionierung der Zurichtung des dem Arbeitszwang unterworfenen Menschen bei, oder es wird schlichtweg ignoriert. Sollte man aber tatsächlich an empfindlicher Stelle kratzen, sind die ausgefahrenen Krallen repressiver Staatlichkeit nicht weit. Wem dieser Gedankengang mißfällt, weil er den hermetischen Ausschluß jeglicher Fluchtwege postuliert, ist auf einer Spur, die zu verfolgen das Ausmaß des Verhängnisses nur um so deutlicher macht. Demgegenüber mutet die Hoffnung, die alte Warengesellschaft könne in die Organisation der vielbeschworenen Nachhaltigkeit hinüberwachsen, natürlich attraktiver an. Wie belastbar diese Vorstellung ist und was es mit dem Konstrukt Nachhaltigkeit auf sich hat, sollte Teil des Diskussionsprozesses sein, den die Degrowth-Konferenz angestoßen hat.

(wird fortgesetzt)


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
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2. Februar 2015


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