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BERICHT/027: Wendland frei trotz alledem - Den Stab weiterreichen ... (SB)


Jahrzehnte des Widerstands und kein Ende


Ortsschild Gorleben - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Feuer zu machen, war noch nie eine sonderlich gute Idee. Daß dieser Fähigkeit eine Schlüsselfunktion bei der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung zugeschrieben wird, dürfte der fatalen Neigung unserer Spezies geschuldet sein, sich zur Krone der Schöpfung zu erklären, weil sie zu größtmöglicher Zerstörung unter ihresgleichen wie auch zu Lasten aller anderen Arten in der Lage ist. Verbrennungsprozesse in Gang zu setzen, heißt vorhandene Potentiale unter mehr oder minder großen Verlusten unumkehrbar zu vernichten und dabei Schadensfolgen in die Welt zu setzen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Das mag für gewisse Fristen den Eindruck erwecken, kontrollierbar und nutzbringend zu sein, ignoriert aber den grundsätzlich zerstörerischen und irreversiblen Charakter dieses Vorgangs. Dabei blendet man systematisch alles aus, was nicht dem eigenen Vorteil dient, sich also am Nachteil anderer bemißt. So werden Sourcen verbraucht, giftige Gase und Partikel freigesetzt, hochkonzentrierte Schadstoffe produziert und Abfälle angehäuft.

Man nennt das Fortschritt und meint damit die erbitterte Konkurrenz um Vorherrschaft in Gestalt einer überlegenen Technologie, die in Krieg oder Frieden ein Regime der Ausbeutung und Ausplünderung sicherstellt und in die Zukunft fortschreibt. Da Herrschaft ihrem Wesen nach nur die Ratio der Vervollkommnung kennt, schürt sie im wortwörtlichen wie übertragenen Sinn unaufhörlich jenen Brand, auf dessen Esse sie ihre Übermacht schmiedet. So halten schlußendlich die gesellschaftlichen Eliten einiger weniger Nationen das atomare Feuer in Händen, das nahezu alle Lebensformen auf dem Planeten auslöschen könnte oder in Reaktoren gezwängt den ökonomischen Vorsprung verewigen soll. Nukleares Zündeln bis hin zum aberwitzigen Kalkül, begrenzte Atomschläge oder sichere Kernkraft für machbar zu erklären, treibt im militärisch-zivilen Gleichschritt den Tanz auf dem Vulkan über jede Grenze ernüchterter Umkehr hinaus.

Die Weltkriegsgefahr im Zuge der Offensive von NATO und EU gegen die Atommacht Rußland oder die Katastrophen von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima, von der entufernden Abfolge unzähliger bekanntgewordener und geheimgehaltener Störfälle im sogenannten Normalbetrieb ganz zu schweigen, reichen für sich genommen offensichtlich nicht aus, die Kriegstreiber zu zügeln oder ein umfassendes Moratorium bei der Kernenergie auf den Weg zu bringen. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Über Feuerkraft und Brennelemente zu gebieten, repräsentiert zwei zentrale Aspekte der Verfügungsgewalt, die Produktion von Unwert zu forcieren. Nicht die Schaffung menschenwürdiger Lebensverhältnisse oder die Verschonung der Umwelt ist das Ziel solcher zivilisatorischer Entwicklung, sondern die Sicherung eigenen Überlebens unter bestmöglichen Umständen auf dem Rücken unzähliger Opfer.

Von einer Minderheit zur Ultima ratio erklärt und durchgesetzt, kommt Herrschaft in all ihren Spielarten nie ohne die Beteiligung der Beherrschten aus, die von ihrer überwältigenden Mehrzahl keinen Gebrauch zur Abschaffung dieses Zwangsverhältnisses machen. Sich am Feuer zu wärmen und zu laben, in dem andere verbrannt werden, mutet wie der Spatz in der Hand an, der ungleich einträglicher und sicherer als die Taube des Fortkommens aller auf dem Dach eines fundamentalen Kurswechsels erscheinen mag. Daß das Versprechen auf Wirtschaftswunder und Wohlergehen ein bloßes Lehen ist, das einem jederzeit entzogen werden kann, realisiert man erst dann, wenn Krisenfolgen auch die Metropolengesellschaften heimsuchen und innovative Strategien der Herrschaftssicherung die traditionellen Strukturen der Interessenvertretung geschleift und die Menschen zu Individuen, selbst verantwortlich für das eigene Schicksal, atomisiert haben.

Transparent 'Atomstaat stillegen' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick


Wer wehrt sich gegen das Atomklo?

Um ihr "Nukleares Entsorgungszentrum" zu errichten, hatte sich die Atomwirtschaft nicht ohne Grund den nordöstlichsten Zipfel Niedersachsens ausgesucht. Damals noch im Zonenrandgebiet gelegen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, wie es euphemistisch heißt, ist der Landkreis Lüchow-Dannenberg mit heute gut 49.000 Einwohnern auf einer Fläche von rund 1200 km2 nicht nur der kleinste in Deutschland, sondern auch der am dünnsten besiedelte. Wo ließe sich das hochbrisante Material besser sammeln, lagern, wiederaufarbeiten oder einfach in der Erde verscharren, als in diesem abgeschiedenen Winkel der Republik? Wo wäre weniger Widerstand der ortsansässigen Bevölkerung zu erwarten als in dieser strukturschwachen Hinterwäldlerecke fernab aller Großstädte und Durchgangsverkehrswege?

Daß dieses Kalkül unverhofft in die Hose gegangen ist und die Adepten des Atombrands ihre Maske fallen lassen mußten, mit der sie sich als verantwortungsbewußte Hüter des Feuers im Dienste energiesicherer Versorgung der Konsumgesellschaft larviert hatten, läßt sich auf mehrere Fehleinschätzungen zurückführen. Sie übersahen zum einen die bereits erfolgende Zuwanderung von urbanen Zwängen abgestoßener Städter, die in Folge agrarindustrieller Übernahmen stillgelegte kleinbäuerliche Betriebe und leerstehenden Wohnraum mit alternativen Vorstellungen vom Leben auf dem Lande neu besiedelten. Neben dieser tendenziellen Durchsetzung der einheimischen Bevölkerung durch zugewanderte, zumeist junge Leute mit neuen Entwürfen von Erwerbsweise, Kreativität und Lebenspraxis war es vor allem der aufkeimende bäuerliche Widerstand, der im vermeintlichen Niemandsland die nuklearen Okkupanten auf widerständig-zupackende Weise damit konfrontierte, daß er sich die Nutzflächen, Liegenschaften und gewachsenen sozialen Bezüge nicht zum Preis einer tickenden Zeitbombe rauben lassen würde. Aller Verlockung durch großzügige Kaufangebote und Drangsalierung im Weigerungsfalle zum Trotz, der sich die im Landkreis ansässigen Bauern ausgesetzt sahen, ließ deren Gegenwehr leistende Fraktion nicht locker. Sie wurde mutiger, lernte dazu und setzte ihre Kenntnisse und Mittel nicht selten höchst kreativ im praktischen Widerstand ein.

Ein weiterer Faktor, der die politisch-ökonomischen Pläne der Atomlobby durchkreuzte, war die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg. Sie wurde 1972 gegründet, um ein Atomkraftwerk in Langendorf an der Elbe zu verhindern, und ist somit eine der ältesten Bürgerinitiativen in Deutschland. Nach der Standortbenennung Gorlebens als "Nukleares Entsorgungszentrum" am 22. Februar 1977 setzte sich die Initiative das Ziel, die Einrichtung einer Wiederaufarbeitungsanlage und des Atommüllagers zu verhindern. Sie wuchs zur größten regionalen Widerstandsgemeinschaft gegen Atomtransporte zum Atommüllager heran und entwickelte entgegen allen Erwartungen ihrer Gegner eine bemerkenswerte Langlebigkeit, so daß einige ihrer Mitglieder heute in der dritten Generation in der Anti-Atom-Bewegung im Wendland aktiv sind. Möglich wurde dies nicht zuletzt dadurch, daß sie sich als eigenständig und parteilos versteht und daher eine beträchtliche Immunität gegen Vereinnahmungs- und Spaltungsversuche entwickelt hat. Die BI hat heute über 1000 Mitglieder und finanziert sich aus deren Beiträgen sowie Spenden. In Zusammenarbeit mit dem Netzwerk X-tausendmal quer und der Bäuerlichen Notgemeinschaft organisierte sie friedliche Proteste an der Castorstrecke. [1]

Verschiedene Installationen der Anti-Atom-Bewegung - Fotos: © 2014 by Schattenblick Verschiedene Installationen der Anti-Atom-Bewegung - Fotos: © 2014 by Schattenblick Verschiedene Installationen der Anti-Atom-Bewegung - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Zeichen des Protestes vor dem Erkundungsbergwerk Gorleben
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Daß der Widerstand im Wendland zu einem Synonym für die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland geworden ist, verdankt sich in seiner gesellschaftspolitischen Dimension und Bedeutung insbesondere einem weitreichenden Umsteuerungsprozeß großer Teile der bundesrepublikanischen Linken in den 1970er und 1980er Jahren. Nachdem sich die weit verbreitete Erwartung einer bevorstehenden Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zerschlagen hatte und die Aufbruchstimmung verflogen war, suchten viele engagierte Menschen neue Perspektiven und Betätigungsfelder. Nicht wenige fanden sie in der Umwelt- und insbesondere der Anti-Atomkraft-Bewegung, die bislang vernachlässigte politische Felder eröffnete, konkrete Handlungsoptionen bot und sich in den rasch wachsenden Trend fügte, dem unabsehbar langen Kampf um eine von Grund auf andere Gesellschaft eine sofort umsetzbare alternative Lebenspraxis vorzuziehen.

Zwangsläufig entfaltete sich diese Bewegung zu einem breiten Spektrum, das von radikalökologischem Aktivismus als integralem Bestandteil der nach wie vor angestrebten Gesellschaftsveränderung auf der einen bis zu einer gutsituierten grünen Bürgerlichkeit mit Ambitionen auf die Übernahme des politischen Mainstreams auf der anderen Seite reichte. Als repressive Staatlichkeit im Deutschen Herbst ihre Zähne und Klauen offen zeigte, setzte um so mehr eine Massenflucht in grüne und bunte Ideologien, Schutzräume und Karrieren ein, die den Niedergang der deutschen Linken forcierte. In diese Phase des Umbruchs fällt die eigentliche Hochzeit der Anti-Atom-Bewegung im Wendland, die sich auf diesen Schwerpunkt konzentrierte und dadurch eine Tradition begründete, die auch in späteren Jahren noch eine enorme Mobilisierungfähigkeit entfaltete.

LKW-Plane mit Protesttransparent - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick


Chronik des Widerstands im Wendland

Feuer war auch im Spiel, als es im August 1975 ausgerechnet an jenen drei Orten brannte, die in die engere Wahl für den Bau eines "Nuklearen Entsorgungzentrums" gezogen wurden. In Lichtenhorst, Lutterloh und Gorleben fraßen die Flammen 8.000 Hektar Wald und 5.000 Hektar Moor und Heide. Als Ursache wurde Brandstiftung ermittelt, doch blieben die Täter unerkannt. Nachdem erste Bohrtrupps für Baugrunduntersuchungen durch Sitzblockaden behindert worden waren, umstellten Bauern am 19. März 1979 das Bohrdepot bei Gorleben mit Traktoren. Am 25. März startete der Bauerntreck nach Hannover, wo am 31. März 100.000 Menschen gegen die Atomkraft demonstrierten. Unter dem Eindruck dieses Protests und sicher auch der Havarie in Harrisburg am 28. März befand der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, daß eine Wiederaufarbeitungsanlage technisch machbar, aber politisch nicht durchsetzbar sei. Am Bau eines atomaren Zwischenlagers und des Atommüllendlagers in Gorleben hielt man jedoch fest.

Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt ließ bei Gorleben ab 1979 Bohrungen durchführen, um den Salzstock auf seine Eignung zur Einlagerung von radioaktivem Abfall zu untersuchen. Dagegen führten örtliche Atomkraftgegner kleinere, aber erfolglose Besetzungsaktionen an den Tiefbohrstellen 1002 und 1003 durch. In der Folge planten sie eine größere Besetzung unter Beteiligung auswärtiger Atomkraftgegner. Nach einer Demonstration am 3. Mai 1980 unter dem Motto "Kampftag der Wenden" zogen 5000 Menschen auf das Gelände der geplanten Tiefbohrstelle 1004 zwischen den Dörfern Gorleben und Trebel. Dort riefen Atomkraftgegner die Republik Freies Wendland als eigenen Staat aus, worauf der niedersächsische Innenminister Egbert Möcklinghoff von "Hochverrat" sprach. Ein Grenzübergang mit Schlagbaum am Zufahrtsweg, Flaggen mit dem Wendenwappen und der Anti-AKW-Sonne und sogar ein sogenannter Wendenpaß symbolisierten als äußere Zeichen den Widerstandsgeist.

Die etwa 1000 ständigen Besetzer errichteten auf Grundlage schon zuvor getroffener Vorbereitungen vor Ort in den folgenden Tagen ein Dorf mit 110 Hütten aus Holz und Lehm. Es gab Gemeinschaftseinrichtungen, Gewächshäuser, eine Krankenstation, eine Mülldeponie sowie eine Sauna und Badehütten. Wasser wurde durch einen windradbetriebenen Tiefbrunnen gefördert und mit einer Solaranlage erwärmt. Von Anwohnern aus der Region wurden die Besetzer mit Bauholz und Lebensmitteln versorgt. Hervorzuheben ist auch das Gemeinschaftsleben auf basisdemokratischer Grundlage: So bildete man einen Sprecherrat und traf Entscheidungen in regelmäßig stattfindenden Plena.

An den Wochenenden kamen jeweils mehrere tausend Sympathisantinnen und Sympathisanten, aber auch Schaulustige auf das besetzte Gelände. Darunter fanden sich auch Prominente wie der damalige Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder, der Widerstandskämpfer Heinz Brandt, die Liedermacher Walter Mossmann und Wolf Biermann, der Fotograf Günter Zint, der SPD-Politiker Jo Leinen und der Schriftsteller Klaus Schlesinger ein. Es wurden Vorträge, Diskussionsrunden, Lesungen, Rockkonzerte und Puppentheatervorstellungen durchgeführt, auf einem Turm ging der Piratensender Radio Freies Wendland auf Sendung.

Am Morgen des 4. Juni 1980 wurde das Gelände auf Anordnung der von Helmut Schmidt geführten Bundesregierung durch die niedersächsische Polizei und den Bundesgrenzschutz mit etwa 3500 Beamten geräumt. Rund 2000 Besetzer hatten sich auf dem Dorfplatz zu einer Sitzblockade versammelt und wurden weggetragen, was ohne größere Zwischenfälle vonstatten ging. Damit endete die Republik Freies Wendland, die den Protest vor Ort mit einer alternativen Lebenspraxis verband - wenngleich nur befristet, so doch als Entwurf praktizierten Widerstands, der ein Zeichen weit über das Wendland und die frühen 1980er Jahre hinaus setzte.

In Reaktion auf den Baubeginn der Zwischenlagerhallen folgten am 4. September 1982 etwa 10.000 Menschen dem Aufruf zu einem "Tanz auf dem Vulkan". Eine Menschenkette und eine Wendlandblockade im Frühjahr 1984 konnten den ersten Transport nicht abwenden. Zwei Jahre nach Baubeginn, am 8. Oktober 1984, wurden Atommüllfässer aus dem AKW Stade per Lastwagen angeliefert, immer wieder gestört durch Sitzblockierer. Ende der 1980er Jahre wurden Fässer aus dem belgischen Mol von der Hanauer Firma Transnuklear in Gorleben angeliefert, wobei Schmiergelder in Millionenhöhe flossen. Radioaktiver Müll aus einem havarierten Forschungsreaktor wurde untergemischt, andere Fässer blähten auf oder rosteten. Im Januar 1988 schütteten Bauern Mutterboden in die Toreinfahrt des Zwischenlagers und pflanzten Bäume. Im März 1988 demonstrierten 8.000 Menschen gegen die Atomtransporte, 1.296 Fässer mußten wieder ausgelagert und neu konditioniert werden.

Um die Pilot-Konditionierungsanlage als Verbindungsstück von Zwischen- und Endlagerung zu verhindern, besetzten am 2. Februar 1990 Hunderte das Baugelände. Drei Tage später kamen 5000 Menschen zur ersten deutsch-deutschen Anti-Atom-Demonstration nach Gorleben, am 11. März demonstrierten 7000 Menschen gegen den Bau des AKW Stendal.

Der erste Castor sollte 1994 aus dem AKW Philippsburg angeliefert werden, doch verzögerte sich der Transport. Unterdessen wurden an der Strecke Hütten gebaut, Planen zwischen den Bäumen gespannt und die Trutzburg "Castornix" errichtet. Trotz eines Versammlungsverbots gingen am 19. November etwa 2000 Menschen auf die Bahngleise, am 21. November stoppte das Verwaltungsgericht Lüneburg den bevorstehenden Transport in letzter Minute. Am 24. April 1995 bahnten 6.500 Polizisten und BGS-Beamte im Wendland dem ersten Castorzug unter Einsatz von Schlagstöcken und Wasserwerfern den Weg ins Zwischenlager.

Die folgenden Jahre waren geprägt vom Castorprotest. Nach einer kurzen Unterbrechung wegen äußerlicher Kontaminierung der Behälter stellen sich 10.000 Menschen quer, als 2001 die Transporte wieder aufgenommen werden. Obgleich die Transporte fortan gebündelt und in den kalten Monat November verlegt wurden, konnten auch die größten Polizeieinsätze der Nachkriegsgeschichte mit bis zu 18.000 Beamten den Widerstand nicht bändigen.

Am 29. August 2009 startete der größte Anti-AKW-Treck in der Geschichte der Bundesrepublik in Gorleben und fuhr über Schacht Konrad und die havarierten Lagerstätten Asse II und Morsleben nach Berlin. Dort demonstrierten am 5. September 40.000 Menschen, eskortiert von mehr als 400 Traktoren. Nachdem die CDU/FDP-Regierung die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert und das Gorleben-Moratorium aufgehoben hatte, brauchte der zwölfte Castortransport im November 2010 bereits 92 Stunden. Im Herbst 2011 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen um den dreizehnten Castortransport. Rund 20.000 Menschen demonstrierten in Dannenberg für die Stillegung aller Atomkraftwerke und gegen Gorleben als Atommüllendlager, der Konvoi mit dem Strahlenmüll brauchte 125 Stunden und 49 Minuten von La Hague bis ins Zwischenlager.

Turm und Ummauerung mit Stacheldraht - Foto: © 2014 by Schattenblick Turm und Ummauerung mit Stacheldraht - Foto: © 2014 by Schattenblick Turm und Ummauerung mit Stacheldraht - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gut geschütztes Erkundungsbergwerk Gorleben
Fotos: © 2014 by Schattenblick


Gorleben unter dem Damoklesschwert

Und heute? Die Bundesregierung hat 2011 einen schrittweisen Atomausstieg und im Juli 2013 das Standortauswahlgesetz (StandAG) beschlossen, um die Suche nach einem geeigneten Atommüllendlager angeblich transparent und ergebnisoffen neu aufzunehmen [2]. Das Zwischenlager Gorleben kommt für die Einlagerung der verglasten radioaktiven Abfälle aus der Wiederaufarbeitung nicht mehr in Frage, da der brisante Müll kraftwerksnah gelagert werden soll. Anfang des Jahres teilte die Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS) als Betreiberin des Lagers mit, es sei ausgeschlossen, daß die 21 Behälter mit Abfällen aus England und die fünf Behälter, die Deutschland noch aus Frankreich zurücknehmen muß, nach Gorleben kommen. Und schließlich machte im Sommer die erfreuliche Nachricht die Runde, daß die Arbeiten im Erkundungsbergwerk eingestellt und dessen Anlagen abgebaut werden sollen.

Fast möchte man meinen, daß der Widerstand im Wendland nach Jahrzehnten hartnäckigen Kampfes endlich sein Ziel erreicht hat. Doch dieser Eindruck trügt: Wenngleich sich eine Energiewende abzuzeichnen und das Damoklesschwert nicht länger über Gorleben zu hängen scheint, ist damit die Absage an die Atomkraft und das Endlager im Wendland keineswegs unumkehrbar festgeschrieben. Nach wie vor existiert das Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle, und wenngleich die Pilot-Konditionierungsanlage ihren Betrieb nie aufgenommen hat, steht doch die Infrastruktur für ein komplettes nukleares Entsorgungszentrum bereit.

Die BI Lüchow-Dannenberg fordert denn auch ein sofortiges Ende der Atommüllproduktion, den ungehinderten Ausbau regenerativer Energien und eine dezentrale Energiepolitik. Sie setzt sich dafür ein, das Erkundungsbergwerk nicht wie geplant als Grube intakt zu lassen, sondern mit dem aufgetürmten Salz der Abraumhalde wieder aufzufüllen. Die Umweltorganisation Greenpeace und der Grundbesitzer Fried Graf von Bernstorff haben gegen weitere Arbeiten im Salzstock geklagt.

Solange in Gorleben mit hohen Investitionen geschaffene Anlagen vorhanden sind, kann man bei der Endlagersuche keinesfalls von einem offenen Verfahren sprechen. So befürchtet die Bürgerinitiative, daß der von ihr für ungeeignet gehaltene Salzstock Gorleben-Rambow als Atommüllendlager legitimiert werden soll. Sie führt weiter ihre "Sonntagsspaziergänge" durch, die das Erkundungsbergwerk inzwischen mehr als 250mal umrundet haben und mit dem anschließenden Gorlebener Gebet enden. Zudem soll die inzwischen abgeschlossene Unterschriftenkampagne "Castorstopp 2015" ein Zeichen setzen, daß man sich auch künftig entschieden gegen alle Transporte zur Wehr setzen wird. Gefordert wird ein genereller Castorstopp: Solange es für Endlagerung keine erkennbare Lösung gibt, sollte der Atommüll bleiben, wo er ist.

Wappen der Republik Freies Wendland - Grafik: von Rfw.png: Karlklaus derivative work: Fatelessfear (Diskussion) (Rfw.png) [Public domain], via Wikimedia Commons

Republik Freies Wendland ... Utopie mit Zukunft
Grafik: von Rfw.png: Karlklaus derivative work: Fatelessfear (Diskussion) (Rfw.png) [Public domain], via Wikimedia Commons


Taktischer Rückzug vor einer strategischen Offensive?

Energiekonzerne und Energiepolitik, die bei ihren Entwürfen Jahrzehnte vorausschauen, haben einen langen Atem. Bewegungen des Widerstands mit Repression zu überziehen, ist eine ihrer Optionen, sie auszusitzen, totlaufen zu lassen und mit Zugeständnissen hinters Licht zu führen eine andere. Auch wenn die Bundesregierung den Atomausstieg verkündet hat, ist das Bremsmanöver des nuklearen Zuges allenfalls ansatzweise eingeleitet worden. Bezeichnenderweise wurde keine Vollbremsung auf die Tagesordnung gesetzt, so daß künftige Regierungspolitik auch die Kernenergie erneut für unverzichtbar und ausbaufähig erklären kann. Angesichts der Ukrainekrise und der Konfrontation mit Rußland werden längst Stimmen laut, die mit Blick auf die Gefahr ausbleibender Versorgung mit Erdgas und Erdöl auf heimische Energieträger wie insbesondere die besonders klimaschädliche Braunkohle setzen. Auch über Atomkraftwerke samt allen anderen damit verbundenen unbewältigten Problemen ist mit Sicherheit noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Daher sollte man vorerst besser von einem taktischen Rückzug der Atomlobby ausgehen, der ihre nächste Offensive vorbereitet. Was in der Vergangenheit als "Atomstaat" diskutiert wurde, ist eine unter mehreren repressiven Optionen, die aufgrund ihres Arsenals an legalistischen Zwangsmaßnahmen unverzichtbar für die weitreichende Kontrolle der Bevölkerung sind, wovon die Wendländer ein Lied singen können. Folglich geht es um mehr als die Profite der Stromkonzerne, den Filz von Wirtschaft und Politik oder das erforderliche Umdenken von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die nicht einzuhegende Krise der kapitalistischen Wirtschaftsweise verlangt aus Sicht ihrer maßgeblichen Protagonisten nach einer Innovation der Verfügungswerte, ohne daß ihnen diese im Zuge der unvermeidlichen Neuformation von Herrschaft entgleiten. Dezentralisierung und Rekommunalisierung oder gar Selbstversorgung und Autarkie, die sich tendenziell einer Gesellschaftsordnung mit verengten Mechanismen der Zuteilung oder Aberkennung von Existenzmöglichkeiten entziehen, stehen nicht auf der Agenda herrschaftsrelevanter Inbesitznahme künftiger Entwicklung - sofern sie sich nicht vor den Karren vorgeblicher Bürgerbeteiligung und der Neuen Grünen Ökonomie spannen lassen.

Aus der Geschichte des Widerstands im Wendland zu lernen, kann sich nicht in nostalgischer Rückschau erschöpfen. Wie erfolgreich man die Kämpfe der Vergangenheit auch einschätzen mag, sind sie doch verlorengegangen, solange niemand den Geist des Aufbegehrens in neuen Auseinandersetzungen wachruft. An Fronten mangelt es nicht, denkt man etwa an die Waldbesetzung im Hambacher Forst, die Klimacamps im Rheinischen Braunkohlerevier und in der Lausitz, die Aktionen gegen das Gefechtsübungszentrum in der Altmark oder die jüngsten Hausbesetzungen in Hamburg, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine junge Generation von Aktivistinnen und Aktivisten setzt in entschiedenem Engagement und Lebenspraxis Ansätze um und fort, die, ohne sich explizit darauf zu beziehen, an die Freie Republik Wendland anknüpfen. Gelänge hier ein fruchtbarer Brückenschlag, wäre nicht auszuschließen, daß sich sogar der lange Atem projektiver Herrschaftssicherung angesichts neu erwachten Widerstands am Ende als kurzatmiges Unterfangen erweist.

Elbe vom Wendlandufer aus gesehen - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Elbe vom Wendlandufer aus gesehen - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Die Elbe bei Hitzacker
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Heidelandschaft - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Heidelandschaft - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Nemitzer Heide bei Trebel
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Elbe vom Wendlandufer aus gesehen - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Elbe vom Wendlandufer aus gesehen - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Die Elbe bei Vietze
Fotos: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.bi-luechow-dannenberg.de/

[2] http://endlagerdialog.de/tag/endlagersuchgesetz/

29. August 2014