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BERICHT/024: Flucht der Fremden - Mitverschuldet, fortverdrängt (SB)


"Eines Rechtsstaates nicht würdig - Diskriminierung und Abschiebung der Roma und Sinti"

Menschenrechtssalon am 20. November 2013 im Hamburger Museum für Völkerkunde


Im Foyer des Völkerkundemuseums - Foto: © 2013 by Schattenblick

Rolf Becker zitiert aus Dokumenten bürokratischer Verächtlichkeit
Foto: © 2013 by Schattenblick

Am 20. November fand im Foyer des Hamburger Museums für Völkerkunde die Auftaktveranstaltung des Menschenrechtssalons statt, die unter dem Thema "Eines Rechtsstaates nicht würdig - Diskriminierung und Abschiebung der Roma und Sinti" stand. Auf Einladung der Kirchlichen Hilfsstelle für Flüchtlinge "fluchtpunkt", des Ida Ehre Kulturvereins und des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins informierten Experten über den rechtlichen, historischen und politischen Hintergrund der Problematik. Mittels Berichten und Fotos wurde ein Bild der derzeitigen Lage in den Herkunftsstaaten gezeichnet, Lesungen und Musik bereicherten das Programm der Veranstaltung.

Unter der Moderation von Michail Paweletz (NDR) diskutierten der Schauspieler Rolf Becker, der Anwalt Dr. Christian Schneider, Bernd Mesovic von Pro Asyl, die Flüchtlings- und Menschenrechtsbeauftragte der Nordkirche Fanny Dethloff, Matthäus Weiß vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma Schleswig-Holstein und nicht zuletzt Tornado Rosenberg, der mit seinem Trio auch das vorzügliche musikalische Rahmenprogramm gestaltete. Der Abend war in drei Gesprächsrunden mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegliedert, was den Zuhörerinnen und -hörern Gelegenheit gab, sich mit verschiedenen Aspekten des Themas vertraut zu machen und zwischendurch wie auch im Anschluß an die Veranstaltung rege auszutauschen.

In Mühsal verbringe ich den Tag
und die Nacht in Schmerz.
Seufzer bringt die Dämmerung mir,
weinend geht die Sonne auf.

Nach dieser einleitenden Rezitation las Rolf Becker aus den Akten dreier Roma aus Mazedonien und Montenegro, deren Asylverfahren mit einer Ablehnung endeten. "Eine allgemeine extreme Gefahrenlage liegt nicht vor, ergibt sich auch nicht aus der wirtschaftlichen Situation", hieß es gleichlautend in den Begründungen. Der niedrigste Lebensstandard auf dem Westbalkan abgesehen vom Kosovo, eine extrem hohe Arbeitslosenquote und massive Benachteiligung bei Bewerbungen, miserable Wohnungen, geringe Einkünfte, fehlende Schulbildung der Kinder und unablässige Anfeindungen geben aus Sicht deutscher Behörden mithin keinerlei Anlaß, von menschenunwürdigen und gefährdenden Lebensverhältnissen in den Herkunftsländern auszugehen.

Wie ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, hat die Ausgrenzung und Drangsalierung der Sinti und Roma eine lange Tradition. Im 15. Jahrhundert kamen die Sinti als Flüchtlinge vor den Türken nach Mitteleuropa, und weil sie Christen waren, erhielten sie zunächst Schutzbriefe. Schon 1498 wurden sie jedoch als angebliche türkische Spione vom Freiburger Reichstag für vogelfrei erklärt. Es war ihnen daraufhin jahrhundertelang nicht erlaubt, sich niederzulassen und einen Beruf auszuüben. So entstand das Bild des teuflischen Zigeuners, der sich auf einer nie endenden Bußfahrt befindet.

Die Frage, was bei der Begegnung dieser Volksgruppe mit der damaligen Gesellschaft schiefgelaufen ist, müßte man nach Ansicht von Matthäus Weiß an die Mehrheitsgesellschaft richten. Sie liebt den sogenannten Zigeuner, wenn er Musik macht, beim Lagerfeuer sitzt und Geschichten erzählt, doch neben und mit ihm leben will sie nicht. Staaten grenzen Menschen aus, die einfach nur leben wollen, aber die man nicht leben läßt. Sinti und Roma waren ursprünglich seßhaft, sie arbeiteten als Goldschmiede, Restauratoren, Maler und Musiker, bis man ihnen ihre Lebensgrundlage entzog. In den Ländern des Westbalkans leben die Roma heute von Müllhalden, indem sie aus den gesammelten Überresten geringfügigste Einkünfte erzielen.

Die Zeiten, als sich der Komponist Franz Liszt stolz als "Ersten Zigeuner des ungarischen Königreiches" bezeichnete, gehören der Vergangenheit an. Wie Rolf Becker berichtete, wird das Thema Sinti und Roma heutzutage in den Künsten kaum umgesetzt. Es gebe fast keine sie betreffenden Theaterstücke, da man andernfalls Angehörige dieser Volksgruppen ins Ensemble holen müßte. Darum aber machten Theaterleute und Kulturpolitiker einen großen Bogen. Er selbst machte als Kind in einem kleinen Dorf Schleswig-Holsteins erstmals Bekanntschaft mit dem "fahrenden Volk". Nach dem Krieg waren die Dorfbewohner zunächst erleichtert, als Sinti und Roma als Scherenschleifer und Kesselflicker wieder auftauchten. Wohnen durften sie jedoch nicht im Dorf, da man ihnen nachsagte, daß sie des nachts Wäsche oder gar kleine Kinder stehlen. Nicht zuletzt zog man in Zweifel, daß die "Zigeuner" im KZ umgebracht wurden - über 500.000, wie man heute weiß. So wurden die Tatsachen verdrängt, die Vorurteile hatten weiterhin Bestand.

Im Jahr 1956 lehnte der Bundesgerichtshof Ansprüche von Roma, die das KZ überlebt hatten, ab und bezeichnete dabei ihre Deportation als bloße Umsiedlung. In der Urteilsbegründung wurden die "Zigeuner" als solche der Kriminalität bezichtigt. Ihnen fehle der sittliche Antrieb zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen sei, urteilten unter anderem Richter, die bereits der NS-Justiz treue Dienste geleistet hatten. Daß dieser rassistische Blick keineswegs ein bloßes Relikt vergangener Zeiten ist, belegte Rolf Becker mit der Aussage eines Bremer SPD-Bürgerschaftsabgeordneten: "Sie kommen aus einer archaischen Welt. Väter haben keine Hemmungen, ihre Kinder zum Anschaffen und Stehlen statt zur Schule zu schicken. Sie schlagen ihren Frauen die Zähne aus, gönnen sich selbst Stahlzähne. Viele junge Roma-Männer schmelzen sich mit Klebstoffdünsten das Gehirn weg." Ähnliche Aussagen finde man auch in Protokollen des Deutschen Bundestags, als Schröder und Fischer neuen Kurs anlegten. Wie wolle man da von der breiten Bevölkerung erwarten, daß sie zur Besinnung kommt!

Kleine Gesprächsrunde - Foto: © 2013 by Schattenblick

Christian Schneider, Matthäus Weiß, Moderator Michail Paweletz
Foto: © 2013 by Schattenblick

Wie Christian Schneider berichtete, waren Sinti und Roma in den 1970er Jahren in Hamburg Mitbegründer der Stiftung "Hilfe für NS-Verfolgte". Entschädigungsansprüche gibt es demzufolge in unterschiedlichster Form, wobei die Hamburger Stiftung Menschen helfen will, die anderswo nichts bekommen und nur über geringe Einkünfte verfügen. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es Jahrzehnte, bis Sinti und Roma überhaupt als Opfer wahrgenommen wurden. Nicht selten waren die Täter von einst längst wieder in Amt und Würden.

Dennoch bekräftigt Matthäus Weiß, daß man aus der grausamen Vergangenheit keinen Haß begründen dürfe, da dieser wiederum zu neuem Haß führe. Die Generation der Großmütter und Großväter, die das KZ überlebten, habe ihre Selbstachtung bewahrt: "Sie haben die Sinti und Roma damals nicht ausgerottet, und das wird auch nie passieren, außer man nimmt uns den Stolz und den Respekt voreinander. Aber das wird keinem gelingen." Viele Menschen der Mehrheitsgesellschaft erzählten ihren Kindern, was die "Zigeuner" angeblich alles machen. Dabei verhalte es sich genau umgekehrt. Seine Familie habe mehr als 100 Menschen im KZ verloren, und doch hasse er nicht, wenn er einem blonden Deutschen auf der Straße begegne. Man müsse begreifen, daß die heutige Generation nichts mit den Greueln von damals zu tun hat. Was man aber nicht begreifen und den eigenen Kinder und Enkeln nicht erklären könne, sei dies: Die überlebenden Täter haben ihre Kinder nicht aufgeklärt, sondern im Gegenteil in neuen Posten und Ämtern weitergemacht wie zuvor und Urteile über Sinti und Roma gefällt, die im KZ waren. Er selbst habe 22 Jahre gebraucht, um Schutz und Förderung der Sinti und Roma in der Landesverfassung Schleswig-Holsteins festschreiben zu lassen: Schutz für die Kinder und Enkel, Förderung der Bildung, eine Rente für die Alten, Wohnrecht statt Vertreibung.

Serbien ist seit 2012 offizieller Beitrittskandidat der EU. Von 2007 bis 2013 flossen 1,5 Milliarden Euro an das Land, wofür die EU Reformen verlangt, darunter auch die Anerkennung der Menschenrechte von Minderheiten. Bernd Mesovic wies darauf hin, daß in Serbien viele Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo Zuflucht gesucht haben, wo sie in ständiger Furcht vor Übergriffen und Verfolgung gelebt hatten. Im Kosovo schreite die Renationalisierung und Reethnisierung massiv voran, wobei die Roma der Kollaboration mit den Serben bezichtigt und vertrieben werden. Generell leben die Roma in den meisten dieser Länder am Rande der Müllkippen bar jeder sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte, die ihnen systematisch vorenthalten werden. Dem fügte Rolf Becker hinzu, daß die Roma im Kosovo unter unmittelbarem Druck der UCK-Nachfolgeorganisationen stehen, während ihre wachsende Ablehnung in Serbien insbesondere mit der Verarmung der serbischen Bevölkerung zugenommen habe, denen die eigenen Betriebe, Wohnungen und vieles mehr weggenommen wurden.

Christian Schneider vertrat die Auffassung, daß sich Deutschland hinter der europäischen Politik verstecke. Der Kosovo-Krieg unter deutscher Beteiligung werde zumeist als Erfolg gewertet und dies, obwohl man doch aus der Nazizeit gelernt haben müßte, daß Verantwortung, die mit Gewalt ausgeübt wird, auch Verantwortung für die Folgen einschließt. Letzteres sei in der deutschen Politik jedoch nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Wie Bernd Mesovic ausführte, sei im Falle der Roma bei den Asylverfahren die Anhörungsdauer sehr kurz, und die Begründungen zeigten, daß die Verhältnisse im Herkunftsland massiv schöngeredet werden. Man habe es dabei offensichtlich mit politischen Vorgaben zu tun, die das Bundesamt für Flüchtlinge auf höhere Weisung umsetzt. So werden die Verfahren gegen Roma im Zuge einer Entmutigungsstrategie vorgezogen, damit schneller abgeschoben werden kann. Kurze Fristen reduzieren wiederum die Möglichkeiten der Antragsteller, Zugang zu Anwälten zu erlangen. Zudem habe der Bundesinnenminister angekündigt, Serbien und Mazedonien auf die Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten zu setzen, was vorerst zurückgestellt, aber offenbar nicht aufgegeben wurde. Es existiere Antiziganismus bis hinauf in die Regierungspolitik, und das sei so gewollt, schlußfolgerte Mesovic.

Mögen einzelne Maßnahmen gegen Roma nicht wie Verfolgung erscheinen, so können sie doch in ihrem Zusammenwirken eben dies bedeuten. Fehlende Gesundheitsversorgung, kürzere Lebenserwartung, Duldung von Übergriffen, keine Reaktion der Behörden auf Beschwerden müßten eigentlich beim Asylverfahren im Einzelfall untersucht und zusammen bewertet werden. Das Bundesamt produziere jedoch lediglich schematisierte Textbausteine und zeige keinerlei Interesse an den konkreten Fällen und Verhältnissen. Auf diese Weise werde das Minimum eines fairen und individuellen Asylverfahrens unterlaufen. Dabei lieferten die euopäischen Staaten einander einen Wettlauf der Schäbigkeit, wobei die Anerkennungsquoten in Deutschland seit Jahren am schlechtesten sind. Auf diese Weise werde ein Rotationsprinzip der Flüchtlingsbewegungen am Leben gehalten, während substantielle Hilfe ausbleibt.

Christian Schneider fügte dem hinzu, daß die Sprache der Roma auf europäischer Ebene als Minderheitssprache anerkannt ist. Demnach müßten Roma in deutschen Asylverfahren in ihrer Sprache angehört werden, was jedoch nicht der Fall ist. Zudem war die Aufhebung der Visumspflicht für Serbien oder Mazedonien mit der Aufforderung verbunden zu verhindern, daß Roma in die EU gelangen. Das hat zur Folge, daß aus Deutschland abgeschobenen Menschen aus diesen Ländern die Pässe bei der Ankunft abgenommen werden. Wenngleich die betreffenden Staaten in diesen und zahlreichen anderen Fällen immer wieder vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt werden, hat das keine nennenswerten Konsequenzen.

Kleine Gesprächsrunde - Foto: © 2013 by Schattenblick

Rolf Becker, Fanny Dethloff, Bernd Mesovic
Foto: © 2013 by Schattenblick

Fanny Dethloff erinnerte daran, daß es in den 90er Jahren zur Kontaktaufnahme zwischen der Kirche und verschiedenen Romagruppen kam, diese Kontakte jedoch später vernachlässigt worden seien. Heute stehe wieder eine ganze Reihe von Familien unter kirchlichem Schutz. Es sei ein hartes Brot und zerreiße einen oft, weil in den Familiengeschichten so viel an Krankheit, Verfolgung, Vergewaltigung in Kriegen und Vertreibung zusammenkomme. Warum habe man in Europa so viel vergessen, nicht nur, was im Dritten Reich geschah, sondern auch, daß die Vertreibung danach weiterging? In ihren Gesprächen mit Politikern aller Parteien müsse sie immer wieder aushandeln, welche moralischen Grundlagen man teile. Dabei sei es wichtig, sich zu erinnern und, indem man sich erinnere, voranzugehen. Sie finde es erdrückend, welche Rolle Deutschland in Europa spielt, gerade wenn es um Minderheiten, Asylrecht und Abschottung des reichen Europas gegen die ärmeren Länder geht.

Ganz schlimm finde sie die Pauschalisierung, wo es sich doch um verschiedene Familien mit unterschiedlichen Schicksalen handle. Man tue gut daran, noch einmal nachzufragen, aus welchen Gründen diese Menschen gekommen sind, denn dies zu unterlassen, verletze eine menschenrechtliche Verpflichtung. Es gebe positive Beispiele, wo sich ganze Städte wie Münster mit der "Aktion 302" eingemischt und alle Abschiebungen verhindert haben. In Hamburg habe man das ebenfalls versucht, doch sei es zu ihrem großen Bedauern nicht gelungen, diesem Beispiel zu folgen. Um so mehr sei man daher verpflichtet, genau hinzusehen, wie es den Abgeschobenen heute geht. Kinder, die in Hamburg über Jahre zur Schule gegangen sind, schreiben in ihren Schulheften immer wieder die gleiche Seite ab, damit sie bloß das Deutsche nicht verlernen:

Das zerreißt jedem das Herz, der das mitkriegt. Diese Dinge müssen wir wissen und weitersagen, da diese Menschen unsere Nachbarn sind und uns etwas angehen. Diese überfallartigen Aufgriffe morgens um zwei oder drei in der Unterkunft, damit um sechs Uhr der Flieger geht. Wo kommen wir denn da hin? Abschiebung im Morgengrauen, damit auch alle in den Betten anzutreffen sind und niemand dazwischenkommt, schon gar nicht ein Anwalt, den man noch anrufen kann. Erst gestern ging wieder eine Sammelabschiebung von Düsseldorf nach Serbien. Dort ist es kalt, die Leute haben kein Feuerholz, das geht gar nicht. Das ist eine Abschiebung ins Nichts und für die Kranken eine Abschiebung in den Tod.
Machen wir uns nichts vor. Wir müssen das aushalten und sind gefordert, Menschenrechtszeugen zu sein. Menschenrechte sind nicht zu verhandeln, und unsere Menschenwürde hängt davon ab, daß wir für die Würde unserer geringsten Schwestern und Brüder eintreten. Jetzt. Wir verlieren unsere eigene Würde, wenn wir unsere europäischen Werte preisgeben und so tun, als seien das nur irgendwelche Leute, die nach Serbien abgeschoben werden. Da verlieren wir unser ganzes Erbe mit, da riskieren wir unsere eigene Würde, denn wir müssen danach in den Spiegel schauen können. Ich kann das ganz schlecht.

Was ist zu tun, um die Lage der Sinti und Roma zu verbessern? Michail Paweletz warnte vor der Schere im Kopf des Journalisten, und Rolf Becker machte geltend, daß Appelle an Politiker und Medien fruchtlos blieben. Man müsse vielmehr ganz unten ansetzen mit Basisgruppen in der Bevölkerung und in den Gewerkschaften. Dann wahre man die kleine Chance, daß sich doch etwas ändert. Christian Schneider verwies auf Initiativen von Roma und Sinti in den europäischen Gremien, die darauf abzielten, als Roma und Sinti wahrgenommen zu werden. Sie könnten sich mit Unterstützung von EU-Geldern organisieren und selbst eine Stimme geben, um zu berichten, was in ihrem jeweiligen Land geschieht. Bernd Mesovic schlug vor, daß sich Deutschland bereiterklären könnte, die überschaubare Zahl von Roma, die noch im Kosovo leben, aufzunehmen. Allerdings gebe es derzeit nicht einmal das humanitäre Minimum wie einen Abschiebestopp im Winter. Dennoch müsse man solche Anliegen immer wieder beharrlich vortragen und dürfen sich nicht entmutigen lassen.

Daß Hartnäckigkeit und ständige Präsenz vonnöten seien, unterstrich auch Matthäus Weiß. Auf diese Weise habe man es allen Widerständen zum Trotz geschafft, die Landesverfassung in Schleswig-Holstein zu ändern. Nun gelte es, für eine praktische Umsetzung zu sorgen. Früher durften auch die Sinti nicht länger als zwei, drei Tage an einem Ort bleiben und mußten dann weiterziehen. Den Roma gehe es noch heute so: Sie würden in Deutschland zwar nicht gejagt und geschlagen wie anderswo, doch verwehre man ihnen ihre Rechte. Was bleibe ihnen übrig, als sich an die Straße zu stellen? Hunger sei Krieg für jene Menschen, die jeden Tag ihre Seele aushungern müssen. Das sei gewollt in den Herkunftsländern der Flüchtlinge und nicht minder gewollt im deutschen Asylsystem. Wäre das alles nicht gewollt, würde man in jedem Land die Menschen als Menschen behandeln.

Vortrag vor großer Gesprächsrunde - Foto: © 2013 by Schattenblick

Rolf Becker spricht, Tornado Rosenberg musiziert
Foto: © 2013 by Schattenblick

Hegemonialinteressen erzeugen Fluchtbewegungen

Die Abschiebung in der Bundesrepublik lebender Roma in Staaten des Westbalkan isoliert von dem historischen Hintergrund der deutschen Südosteuropapolitik zu betrachten hieße, dem an den Opfern des deutschen Imperialismus begangenen Unrecht ein weiteres hinzuzufügen. So wie es selbstverständlich ist, daß die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin Hitlerdeutschlands den Opfern des Holocausts und anderer Verbrechen von SS und Wehrmacht stets auf eine Weise entgegentreten sollte, die die blutige Geschichte eigener Aggressionen in Rechnung stellt, so gilt dies auch für die heute wieder überall in Europa diskriminierte und verfolgte Minderheit der Roma.

So weist die deutsche Südosteuropapolitik seit Mitte des 19. Jahrhunderts die bemerkenswerte Kontinuität einer raumgreifenden Expansion auf, die mit der Besetzung Jugoslawiens 1941 einen grausamen Höhepunkt erreichte. Allein bei den Luftangriffen auf die offene, also demilitarisierte Hauptstadt Belgrad im April 1941 im Rahmen der Operation "Strafgericht" sind bis zu 30.000 Menschen umgekommen. Die Wehrmacht ging in ethnisch sortierender Absicht gegen Serbien vor, weil man die gleichfalls zu dem Königreich der Südslawen gehörigen Kroaten bereits auf der eigenen Seite wußte. Die dort mit Hilfe Deutschlands etablierte Ustascha-Diktatur des Ante Pavelic ermordete im Konzentrationslager Jasenovac bis zu 700.000 Serben und weitere 200.000 Juden, Roma und oppositionelle Kroaten. Während der deutschen Besetzung Jugoslawiens mit einer halben Million Soldaten mußte vor allem die serbische Bevölkerung einen hohen Blutzoll entrichten.

Daß die Bundesrepublik sich vor diesem Hintergrund am völkerrechtswidrigen Überfall der NATO auf Jugoslawien im März 1999 beteiligte, ist für die Geschichte der jugoslawischen Roma von besonderem Belang. Die damit militärisch unterstützten albanischen Separatisten der serbischen Provinz Kosovo standen mit ihren bewaffneten Kräften der UCK zumindest mittelbar in der Tradition jener kosovoalbanischen Milizen, die im Zweiten Weltkrieg in Kooperation mit deutschen Truppen an der Vertreibung und Ermordung von Serben, Roma und Juden im Kosovo beteiligt waren. Damals wurden 10.000 bis 30.000 Mitglieder dieser Gruppen ermordet und mindestens 100.000 vertrieben, um Platz für aus Albanien nachrückende Menschen zu machen. Es zeugte mithin von nicht geringer Geschichtsblindheit, als Bundeskanzler Gerhard Schröder die Beteiligung Deutschlands am Jugoslawienkrieg am 20. Juli 1999 in einer Ansprache auf einer Gelöbnisfeier der Bundeswehr damit rechtfertigte, daß deren Soldatinnen und Soldaten umsetzten, "was wir alle aus der Geschichte gelernt haben: Verantwortung für die Menschenrechte zu übernehmen - auch und gerade dort, wo deutsche Armeen in der Vergangenheit Terror und Verbrechen über die Völker gebracht haben."

Dies ist nicht nur anmaßend und infam, weil der Angriff der NATO auf Jugoslawien ohne UN-Mandat erfolgte und damit gegen das Gewaltverbot der UN-Charta verstieß, um 2008 in die Abtrennung des Kosovo von Serbien zu münden, wodurch das Prinzip der territorialen Souveränität von Staaten durch die westliche Wertegemeinschaft aufgekündigt wurde. Die Eroberung des Kosovo führte auch zur Vertreibung von, je nach Quelle, 150.000 bis 250.000 Serbinnen und Serben sowie 70.000 bis 130.000 Roma, Ashkali und Balkanägypter. Letztere gelten in den Augen der Vertreiber allesamt als Roma und sind bis heute von rassistischen Nachstellungen aus den Reihen der albanischen Mehrheitsbevölkerung des Kosovo bedroht.

Diese ethnisch motivierte "Säuberung", die mit der Ermordung, Folterung und Entführung Tausender Betroffener, unter ihnen auch loyal zu Jugoslawien stehender Albanerinnen und Albaner, einherging, war dem nationalistischen Separatismus der kosovoalbanischen UCK geschuldet, die sich als Fußtruppe der NATO unentbehrlich gemacht hatte. Ihre Führer stellen heute noch einen Großteil der albanischen Oligarchie des Kosovo, der sich zwischenzeitlich zu einer Drehscheibe der organisierten Kriminalität entwickelte und ohne finanzielle Unterstützung aus EU-europäischen Kassen nicht überlebensfähig wäre.

Was immer sich die serbischen Behörden vor dem Angriff der NATO bei dem Versuch, den albanischen Separatismus zu unterdrücken, haben zuschulden kommen lassen, wurde im Nachhinein mit mindestens gleicher Münze heimgezahlt. Dies erfolgte jedoch im Unterschied zur Situation vor 1999 unter den Augen der KFOR, der von den Truppenkontingenten der NATO und anderer Staaten gebildeten Besatzungsmacht. Dies geht auch aus Untersuchungen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hervor, die schon deshalb besonders glaubwürdig sind, da die Organisation den Krieg der NATO gegen Jugoslawien guthieß und nicht die mindeste Sympathie für die Belgrader Regierung unter Präsident Slobodan Milosevic erkennen ließ. So wurde 2004 berichtet [1]:

Umso betroffener war unsere Menschenrechtsorganisation, als im Juni 1999 aus der albanischen Mehrheit, die gerade zu Opfer geworden war, eine große Tätergruppe wurde, die vergleichbare Verbrechen an den Minderheiten der Provinz verübte. Besonders von der Verfolgung betroffen waren die Volksgruppen der Roma und Aschkali. Radikale Albaner zerstörten 14.000 von 19.000 ihrer Häuser und 75 ihrer Siedlungen und Stadtteile. Zahlreiche Minderheitenangehörige wurden misshandelt, gefoltert, entführt, vergewaltigt, ermordet oder verschwanden für immer. In panischer Flucht verließen 70 % der Roma und Aschkali den Kosovo.
(...)
Nach Schätzung des Leiters des GfbV-Teams im Kosovo haben die Minderheiten der Serben, Roma, Aschkali und anderen über 1 000 Tote seit 1999 zu beklagen. (...) Die aktuell erschütternden so genannten 'drive-by-shootings', bei denen aus dem Auto auf Serben, Roma oder andere Minderheiten geschossen wird, bleiben unbestraft. Mindere Vergehen werden meist gar nicht erst angezeigt, da die Opfer Angst vor Vergeltungsschlägen haben. Diese beinahe vollkommene Straffreiheit bei Straftaten gegen die Minderheiten hat die Opfer so verschüchtert, dass sie ihr letztes Vertrauen in die internationalen Schutzeinrichtungen verloren haben.

Schon im Juni 2002 plante die rot-grüne Bundesregierung, die nichts unternahm, die Vertreibungen nichtalbanischer Minderheiten aus dem Kosovo zu verhindern, so daß sie unter den Augen der angeblich so geschichtsbewußten Bundeswehr erfolgten, die Abschiebung der rund 38.000 jugoslawischen Roma, die als Bürgerkriegsflüchtlinge in der Bundesrepublik lebten. Man könnte meinen, Bundesinnenminister Otto Schily, unter dessen Federführung dies geschah, wollte nichts anbrennen lassen, sprich die Verstetigung eines befristeten Status zum Gewohnheitsrecht verhindern. Seit 2005 treffen regelmäßig Roma-Familien auf dem Flughafen in Pristina ein, die aus Deutschland abgeschoben werden und dann vor dem Nichts stehen. Die Behauptung der rot-grünen Bundesregierung, durch den Krieg gegen Jugoslawien ein multiethnisches Kosovo sicherzustellen, wurde zumindest in den ersten Jahren nach 1999 dadurch ignoriert, daß der kosovoalbanischen UCK freie Hand bei der Durchsetzung ihrer Absicht gelassen wurde, einen serben- und romafreien Staat unter eigener Herrschaft zu schaffen.

Völlig unterschlagen wird bei dieser Entwicklung, daß die durch Josip Broz Tito gegründete Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien nicht nur ein sozialistischer Staat war, in dem Ansätze einer Emanzipation seiner Bewohner von ökonomischer Ausbeutung entwickelt wurden, von denen heutige Lohnsklaven nurmehr träumen können. Titos Jugoslawien hat antikolonialistische Bewegungen in aller Welt unterstützt, war ein wesentlicher Motor der antiimperialistischen Blockfreienbewegung und hat niemals einen Krieg gegen ein anderes Land geführt. Ethnische Gruppen wie die Roma konnten in Jugoslawien, das schon aufgrund seiner föderalistischen Struktur, in der verschiedene ethnisch-religiöse Traditionen friedlich nebeneinander existierten, ein hochdifferenziertes System der Wahrung von Minderheitenrechten entwickelt hatte, weit besser leben als in der EU. Dies galt in gewissem Maße für die gesamte realsozialistische Staatenwelt der Region:

In den südosteuropäischen Ländern und den sogenannten Visegrád-Staaten lebt die große Mehrheit der europäischen Roma-Bevölkerung. In der sozialistischen Phase eröffneten sich für Roma eine Reihe von individuellen Möglichkeiten der Qualifizierung und des sozialen Aufstiegs. Es entwickelten sich "Roma-Eliten mit hoher Qualifikation, wie sie in Westeuropa nicht zu finden sind." [2]

Milosevic übernahm die tragische Rolle, dieses Vermächtnis zu bewahren, obwohl der verbliebene Rest Jugoslawiens den hegemonialen Interessen der EU und dabei insbesondere Deutschlands im Wege stand. Die Unterstellung, es habe sich bei ihm um einen großserbischen Nationalisten gehandelt, war zwar ein wichtiger Bestandteil des Versuchs, der nach dem Verschwinden der Sowjetunion um ihre Existenzberechtigung kämpfenden NATO in den jugoslawischen Sezessionskriegen ein neues Aufgabenfeld zu eröffnen. Sie ist allerdings anhand seiner Aussagen vor dem sogenannten Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, vor dem sich zwar die Gegner der NATO, nicht jedoch die Regierungen der Militärallianz rechtfertigen müssen, anhand seiner Reden als Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien wie anhand der Tatsache, daß die serbischen Nationalisten um Radovan Karadzic und die einflußreiche orthodoxe Kirche seine politischen Gegner waren, leicht zu widerlegen. Das heißt nicht, daß er nicht gegen die Lebensinteressen bestimmter Menschen und Gruppen verstoßen hätte, doch wer wollte einen Milosevic dafür verdammen, wenn gleichzeitig die ökonomischen und militärischen Gewaltverhältnisse, die aus dem machtpolitischen Kalkül der EU und USA hervorgehen, für akzeptabel befunden werden?

Dieser Hintergrund ist für die Problematik der Abschiebung der nach Deutschland geflohenen Roma auch deshalb nicht belanglos, weil diese Gruppe der europäischen Bevölkerung zusehends einem Rassismus ausgesetzt ist, dessen Bekämpfung sich die Regierungen der NATO-Staaten gleichzeitig ans Revers heften, um etwa geostrategische Interessen in der postsowjetischen Staatenwelt oder im Nahen und Mittleren Osten zu legitimieren. Der Zerfall Jugoslawiens war nicht zuletzt Ergebnis des deutschen Hegemonialstrebens innerhalb der EU und darüber hinaus, so daß die Verpflichtung, den daraus resultierenden sozialen Verwerfungen zumindest auf humanitäre Weise Rechnung zu tragen, nicht minder gegeben ist als in anderen Fällen, in denen kolonialistisch und imperialistisch bestimmte Verwerfungen massenhaftes Elend produzieren.

Daß für Staaten nur Interessen zählen und auf humanitäre Linderungen lediglich in diesem zweckbedingten Kontext zu hoffen ist, zeigte sich auch bei den Verhandlungen um die Entschädigungszahlungen an NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter. Von den Verhandlungen um die Modalitäten der finanziellen Wiedergutmachung blieben Sinti und Roma ausgeschlossen. Nachdem sie schon in den 1960er Jahren bei der Verteilung von 60 Millionen Mark für Holocaustopfer durch die deutsche Industrie leer ausgingen, konnten sie trotz vorheriger Zusage durch den damaligen Kanzleramtsminister Bodo Hombach auch an den Spitzengesprächen, die 1999 unter Beteiligung der Bundesregierung, der deutschen Industrie, des US-Außenministeriums und der Jewish Claim Conference geführt wurden, nicht teilnehmen. Die rot-grüne Bundesregierung, die fast zeitgleich den Jugoslawienkrieg als Verhinderung eines neuen Auschwitz inszenierte, berief sich schlicht darauf, daß Hombachs Zusicherung keine Rechtsbindung habe. Bei der anschließenden Auszahlung der Entschädigung wurden die betroffenen Sinti und Roma ebenfalls benachteiligt. [3]

Beim Auftritt im Völkerkundemuseum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Tornado Rosenberg Trio spielt auf
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Freiheit, die Gauck und Merkel nicht meinen ...

Wie bei dem Thema Flucht und Vertreibung, das die voraussichtlich nächste Bundesregierung zugunsten der Vertriebenenverbände in einem neuen Aufschwung geschichtsvergessenen Revisionismus stärken will, deutlich mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es um die Lebensinteressen von Flüchtlingen aus außereuropäischen Ländern geht, unterliegt auch der Anspruch auf Reise- und Bewegungsfreiheit ganz unterschiedlichen, meist sozial bestimmten Kriterien. Die Verfolgung der Sinti und Roma in Europa gründet zu einem Gutteil auf dem Verdacht, eine nomadisierende Lebensform verfüge über zu geringe Loyalität gegenüber staatlichen Gemeinwesen und entziehe sich auch sonst der administrativen Kontrolle, der das bürgerliche Subjekt auf immer engere Weise ausgesetzt sein soll.

Wo die zur Entfachung von Wirtschaftswachstum allseits geforderte Mobilität des Kapitals, der Arbeit und Personen keine Grenzen kennt, sind diese für Menschen, die von anderen Kontinenten in die EU reisen, um dort Schutz und Sicherheit zu finden, um so enger gezogen. Sie sehen sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, lediglich "Wirtschaftsflüchtlinge" zu sein, die die sozialen Sicherungssysteme mißbrauchen wollen. Der globalen Businesselite, die von einer Metropole zur nächsten jettet, um die Geschäfte weltweit agierender Konzerne zu führen, werden hingegen alle nur denkbaren Annehmlichkeiten bereitet. Die Realität einer Reisefreiheit, die als zentraler Wert liberaldemokratischer Staaten propagiert wird, ist so sehr von Klassenwidersprüchen bestimmt, daß das Mißverhältnis zwischen refugee und business class kaum noch in einen gedanklichen Zusammenhang gebracht werden kann.

Auch wenn Sinti und Roma heute überwiegend seßhaft leben, so haftet ihnen das nomadisierende Element als ein Makel an, der sich aus der nicht von vorneherein gegebenen Verwertbarkeit und Verfügbarkeit durch die Welt wandernder Menschen ergibt. Das verrät viel über den hohlen Charakter jenes Anspruchs auf Freiheit, den die Apologeten der neoliberalen Gesellschaft wie eine Monstranz vor sich hertragen. Sie ist als Attribut kapitalistischer Verwertungslogik so funktional und zweckrational bestimmt, daß die Freiheit autonomen und selbstbestimmten Lebens demgegenüber nur als verwerfliche Eigenmächtigkeit erscheinen kann.

Banner der Veranstaltung - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.gfbv.de/inhaltsDok.php?id=447&stayInsideTree=1&backlink=veroeffentlichungen_archiv_liste.php?bereich=2004

[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Roma#cite_ref-68

[3] http://www.foerdervereinroma.de/archiv/270103.htm


6. Dezember 2013