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BERICHT/022: Lampedusa in Hamburg - Nachlese (SB)


Flüchtlingssolidarität - dem Prinzip "teile und herrsche" die Wirkmächtigkeit entziehen

Großdemonstration zur Anerkennung der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" am 2. November 2013


Der Demonstrationszug bewegt sich auf den Jungfernstieg zu - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine Demonstration setzt Zeichen - Solidarität mit der Gruppe Lampedusa inmitten der Hamburger Innenstadt
Foto: © 2013 by Schattenblick

  • "Wir kämpfen für unsere Rechte!" - "Wir sind gekommen, um zu bleiben!"
  • "Was moralisch falsch ist, kann politisch nicht richtig sein"
  • "Kommt zusammen gegen Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit und Rassismus"
  • "Der Hamburger Senat blockiert weiterhin jede gerechte Lösung für die libyschen Kriegsflüchtlinge 'Lampedusa in Hamburg'"

So in etwa lauteten, wie einem auf der Demonstration in der Hamburger Innenstadt am 2. November 2013 verteilten Flugblatt der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" zu entnehmen war, die Kernaussagen und zentralen Forderungen einer Protest- und Solidaritätsbewegung, die sich anläßlich der besonders prekären Lage der rund dreihundert durch den Krieg der NATO-Staaten gegen Libyen aus ihrem Leben gerissenen Menschen entwickelt hat, nachdem diese im Frühjahr dieses Jahres auf Hamburgs Straßen sich selbst überlassen worden waren. Ohne tatkräftige Hilfe und Unterstützung aus der Bevölkerung, einiger Kirchengemeinden sowie eines buntgewürfelten Spektrums zivilgesellschaftlicher Gruppen und Organisationen hätten diese Menschen, die sich zur "Gruppe Lampedusa in Hamburg" zusammengeschlossen haben, kaum überleben können. Bis heute haben sie hier keinen offiziellen Status, keinen wirksamen Schutz vor der ihnen drohenden Abschiebung nach Italien und keinerlei Ansprüche auf Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung, um von einer Arbeitserlaubnis zu dem Zweck, selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen zu können, ganz zu schweigen.

Mit einer Großdemonstration die Anerkennung der Gruppe Lampedusa und ein Einlenken des Hamburger Senats, aber auch eine generelle Zäsur in der bundesdeutschen wie auch europäischen Flüchtlings(abwehr)politik erreichen zu wollen, entbehrt nicht eines gewissen Dilemmas, da die Adressaten der Kritik zugleich auch diejenigen sind, an die Forderungen und Appelle gerichtet werden. Die von der Gruppe Lampedusa, weiteren Flüchtlingsgruppen sowie vielen Unterstützerinnen und Unterstützern organisierte und mitgetragene Demonstration konnte als voller Erfolg gewertet werden gemessen an der Zahl der Teilnehmenden, die von der Polizei auf 9000 und von den Veranstaltern auf bis zu 15.000 oder sogar 25.000 geschätzt wurde. So viele Menschen auf die Straße zu bringen, ist in der jüngeren Vergangenheit bei den Demonstrationen zur Flüchtlingssolidarität in Hamburg noch nicht gelungen. Diese Breite des Protests scheint allerdings auch mit einem weitgesteckten Spektrum der durch Sprechchöre und Transparente sowie die zahlreichen Wort- und Redebeiträge zum Ausdruck gebrachten Standpunkte und Forderungen zu korrespondieren, war doch in ihnen weitgehend auf Positionen und Inhalte verzichtet worden, die das dem eher bürgerlichen Lager zuzuordnende Protestpotential abschrecken und von einer Teilnahme hätten abhalten können.

Transparent am Schauspielhaus mit folgendem Text 'Die Überlegung, die den Menschen dazu brachte, Mauern und Festungsgräben zu bauen, um sich von anderen abzugrenzen, bezeichnet man mit dem Begriff Apartheid. Ryszard Kapuscinski' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Hachmannplatz, Sammlungsort der Demonstration - das Deutsche Schauspielhaus zeigt Flagge
Foto: © 2013 by Schattenblick

Und so kommt der Protest gegen die Behandlung, die die Stadt Hamburg gerade diesen Flüchtlingen angedeihen läßt, sehr wohl auch aus ihrer politischen Mitte, wiewohl es sich linke und gewerkschaftliche Parteien, Organisationen und Gruppen nicht nehmen ließen, ihre jeweiligen politischen Standpunkte in diesem Zusammenhang deutlich zu machen und den Kampf der Lampedusa-Flüchtlinge zu unterstützen. Dem Senat wurde durch die Forderung, die Gruppe Lampedusa nach § 23 des Aufenthaltsgesetzes anzuerkennen, ein konkret-juristischer Vorschlag zur politischen Lösung dieser andauernden humanitären Katastrophe gemacht. Damit signalisierten die Demonstrationsveranstalter und -teilnehmenden zugleich auch ihre prinzipielle Dialog- und Verhandlungsbereitschaft mit der Hamburger Landesregierung, der offenbar vermittelt werden sollte, daß sie bei Fortsetzung ihres bisherigen harten Kurses gerade auch gegenüber dieser Flüchtlingsgruppe der Zustimmung eines womöglich nicht unerheblichen Teils der eigenen Klientel respektive Wählerinnen- und Wählerschaft verlustig gehen könnte. Diesem Ansatz zufolge wäre der Senat gut beraten, um der eigenen Wiederwählbarkeit willen den ihr angeratenen und nach dem Dafürhalten der Demonstranten und Demonstrantinnen auch ohne Gesichtsverlust realisierbaren Vorschlag einer Anerkennung nach § 23 Aufenthaltsgesetz umzusetzen.

Wer Rechte generell als Mittel und Instrumente in der Hand des Stärkeren, der über die Macht- und Gewaltmittel zu ihrer Durchsetzung verfügt, begreift, könnte den Schritt, sie für die Flüchtlinge auf dem Verhandlungs- und Appellwege einfordern zu wollen, aber auch als einen politischen Offenbarungseid empfinden, da mit dem Senat derjenige adressiert wird, der bereits erklärt hat, daß die Anträge auf eine Aufenthaltserlaubnis abgelehnt werden würden. Es läge auf dieser Linie, die Flüchtlinge ihrerseits zu moderaten Formen des Protestes zu animieren und ihnen zu verdeutlichen, daß die von ihnen erwünschte Anerkennung durch Aktionen und Inhalte gefährdet werden könnte, die den wo auch immer zu verortenden Konsens der politischen Mitte verletzen. Parolen wie "Was moralisch falsch ist, kann politisch nicht richtig sein" könnten auf taktischen Erwägungen dieser Art beruhen, stellen sie doch auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens ab, der niemandem wehtut und inhaltlich bis zur Bedeutungslosigkeit leerzulaufen droht, da Begriffe wie Moral und Politik, richtig und falsch austauschbar sind und einer auf die Vermittlung und Akzeptanz der Herrschaft des Menschen über den Menschen gerichteten und damit zweckgebundenen Sprache zugeordnet werden können.

Die Demonstration, von einigen Teilnehmenden ob ihrer großen Zahl und überbordenden Stimmung frenetisch als "Rebellion", um nicht zu sagen "Revolution" gefeiert, hat mit Sicherheit das Ziel erreicht, bei den rund 300 Angehörigen der "Gruppe Lampedusa", aber auch anderen Menschen in einer ähnlichen Situation faktischer Rechtlosigkeit und Überlebensnot, Hoffnungen zu schüren und ihnen zu vermitteln, daß sie in ihrem Existenzkampf nicht allein stehen. Perspektiven dieser Art entbehren keineswegs einer konkreten Basis, da die Unterstützerszene, bestehend aus engagierten Privatpersonen, kirchlichen Kreisen wie der St.-Pauli-Gemeinde, die mit 80 Lampedusa-Flüchtlingen die größte Gruppe beherbergt, und weiteren gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Aktivistinnen und Aktivisten in den zurückliegenden Monaten längst bewiesen hat, daß Solidarität mit der Lampedusa-Gruppe für sie kein leeres Wort ist.

Transparent mit der Aufschrift 'Refugees welcome - ver.di Jugend Hamburg' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Hamburger Gewerkschaftsjugend heißt Flüchtlinge willkommen
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Nüchtern betrachtet nehmen die Unterstützenden dem Staat, genauer gesagt der Stadt Hamburg, Mühen und Kosten ab, die ihm in Hinsicht auf die hier lebenden Geflohenen eigentlich oblägen. Die Frage, ob ihnen, wie von ihnen selbst und den Demonstrationsteilnehmenden gefordert, nach § 23 Aufenthaltsgesetz ein gemeinsamer legaler Aufenthaltsstatus oder, wie vom Senat angeboten, für die Dauer ihrer Einzelverfahren eine Duldung gewährt werden sollte, erwächst zu einer Schein-Debatte, die leicht vergessen läßt, daß der Senat auf dieser Ebene am längeren Hebel sitzt und offenbar nach wie vor gewillt ist, sich das Problem dieser in der Öffentlichkeit präsenten und beachteten Flüchtlingsgruppe irgendwie vom Hals zu schaffen.

Die Grenzen einer solchen Appell-Politik können schneller erreicht sein, als es die streckenweise euphorisiert wirkenden Demonstrationsteilnehmenden womöglich wahrhaben wollen. In die für die Betroffenen hochprekäre Frage der Identitätsfeststellung ist inzwischen etwas Bewegung gekommen. In einem Offenen Brief der Lampedusa-Gruppe an den Hamburger Senat hatten die libyschen Kriegsflüchtlinge ihre Befürchtungen, abgeschoben zu werden, sobald sie den Behörden ihre Identität und Fluchtgeschichte offenbaren, deutlich gemacht [1]:

Wir sind nicht grundsätzlich dagegen, unsere Papiere den Behörden auszuhändigen, sodass Recht geltend gemacht werden kann. Angesichts der Ablehnung jeglicher Annäherung und Offenheit für unsere existenzielle Not, befürchten wir jedoch, dass Sie lediglich unsere unmenschliche Abschiebung vorbereiten wollen. In unserer verzweifelten Lage müssen wir wissen was passieren wird, wenn wir unser Leben den Behörden anvertrauen. Wir wissen nicht was Sie vor haben und haben Angst davor, dass die europäische Politik unser Leben ein weiteres Mal zerstört.

Pastor Mathias Benckert, Vizesprecher der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, hatte wenige Tage vor der Großdemonstration in Hamburg erklärt, daß es zu den Angeboten des Innensenators, die auch eine Unterbringung in Hamburg und sogar die Chance auf eine Arbeitserlaubnis beinhalten würden, aus Sicht der Kirche "in absehbarer Zeit keine bessere Alternative" [2] geben würde. Wäre der Senat gewillt, von der seitens der Lampedusa-Flüchtlinge so sehr gefürchteten Abschiebung abzusehen, wäre es ihm ein Leichtes, in einer rechtsverbindlichen, das heißt, ihn selbst bindenden Erklärung für Abhilfe zu sorgen. So er dies unterläßt und nicht mehr als eine Duldung anbietet, bei der es sich, wie die Anwältinnen und Anwälte der Flüchtlinge wiederholt deutlich gemacht haben, um nicht mehr als eine jederzeit widerrufbare Bestätigung einer Aussetzung der Abschiebung handelt, muß angenommen werden, daß er nach wie vor die Absicht verfolgt, früher oder später die in Hamburg politisch überaus rege "Gruppe Lampedusa" aufzulösen und ihre Mitglieder außer Landes zu schaffen.

Blick auf Binnenalster und Jungfernstieg, im Hintergrund das Rathaus - Foto: © 2013 by Schattenblick

Weltstadt ohne Herz - Hamburgs Türen für unwillkommene Kriegsflüchtlinge verschlossen
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Juristisch gesehen stellt eine Abschiebung die zwangsweise Durchsetzung einer Ausreiseverpflichtung dar. Sie basiert insofern auf einem aufenthaltsrechtlichen Verwaltungsakt, der ohne Identitätsfeststellung der Betroffenen nicht vollzogen werden kann. Bereits vor der Demonstration vom 2. November sollen sich nach NDR-Angaben 25 Flüchtlinge bereit erklärt haben, ihre Personalien und Fluchtgründe anzugeben [3], worüber sich Innensenator Michael Neumann sehr gefreut habe. Die von ihm geleitete Behörde wies die Hamburger Polizei an, ab dem 11. Oktober verstärkte Kontrollen dunkelhäutiger Menschen in den von der Gruppe Lampedusa am meisten frequentierten Stadtteilen St. Pauli und St. Georg durchzuführen, was zu scharfen Protesten, Anfragen in der Bürgerschaft und Spontandemonstrationen führte. Zur Begründung gab die Innenbehörde an, daß durch die Personenkontrollen Identität und Aufenthaltsstatus der Lampedusa-Flüchtlinge hätten festgestellt werden sollen.

Nach der Demonstration scheint die Bereitschaft der Betroffenen, sich bei der Polizei zu melden ungeachtet des erhöhten Risikos, abgeschoben zu werden, noch weiter angestiegen zu sein. Wie ein Sprecher der Innenbehörde am 12. November gegenüber dem Hamburger Abendblatt erklärte, hätten sich inzwischen 30 Lampedusa-Flüchtlinge persönlich bei der Ausländerbehörde gemeldet, und es kämen "täglich mehr". [4] Stellt auch dies einen Erfolg - wenn dieser Begriff hier überhaupt angemessen ist - der Demonstration dar, da sich die Betroffenen von der hohen Teilnehmerzahl, der guten Stimmung und dem vielfältigen Zuspruch einen wenn nicht juristisch, so doch politisch wirksamen Schutz vor Abschiebung versprechen?

Transparent mit der Aufschrift 'Im Namen der Demokratie und der Menschenrechte: Stoppt die Heuchelei!' und gemalten NATO-Flugzeugen, die ein Land im Nahen Osten bombardieren - Foto: © 2013 by Schattenblick

Solidarität mit der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" nicht ohne Kritik am NATO-Krieg in Libyen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Forderung nach Anerkennung der Flüchtlinge nach § 23 Aufenthaltsgesetz wurde auf der Demonstration eingebettet und umrahmt durch die Ablehnung des NATO-Krieges gegen Libyen, der dieses spezifische Flüchtlingselend erst ausgelöst hat, sowie der via Frontex und Dublin II/III exekutierten Menschenabwehr der Europäischen Union. Um von einer solchen Kritik zu einer grundsätzlichen Infragestellung und Inangriffnahme gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse zu kommen, wären wohl noch einige Schrittfolgen zu vollziehen, die ohne die Berücksichtigung eigener Anteile und Beteiligungsinteressen am Gegenstand der Kritik kaum zu nennenswerten Ergebnissen führen würden. Gründet nicht der relative Wohlstand, auf den die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft, aber auch ihre protestierenden Mitglieder zugreifen können, auf einem ungeachtet einer formal vollzogenen Dekolonisation des afrikanischen Nachbarkontinents aufrechterhaltenen Ausbeutungs- und Unterwerfungsverhältnis gegenüber den sogenannten Entwicklungsländern, bei denen es sich nicht zufällig um die Armuts- und Elendsregionen handelt, aus denen so viele zu Flüchtlingen erklärte Menschen aus purer Überlebensnot zu entkommen suchen?

Auf seiten der Flüchtlinge, die bereits durch diese Bezeichnung auf den Status entwurzelter bzw. durch das Geschehen der Flucht und nicht der dieser zugrundeliegenden existentiellen Not - Vertreibung, Hunger oder Krieg - definierter Menschen festgeschrieben werden, mehren sich Bestrebungen, sich nicht nur von staatlicher Drangsal und Entrechtung, sondern auch von der wohlmeinenden Bevormundung solidarischer Unterstützerinnen und Unterstützer zu emanzipieren. Eine 17jährige, aus Afghanistan stammende Sprecherin des 2005 gegründeten bundesweiten Zusammenschlusses jugendlicher Flüchtlinge (Youth Without Border - Jugendliche ohne Grenzen) machte auf der Demonstration in ihrem Redebeitrag deutlich, daß sie "mit eigener Stimme" und nicht über Stellvertreter sprechen und selbst entscheiden wollen, welche Aktionsformen sie wählen.

Ein Vertreter der Verdi-Jugend berichtete nicht ohne einen gewissen Stolz, daß ein Großteil der Lampedusa-Gruppe vor drei Monaten der Gewerkschaft beigetreten sei und betonte die Gemeinsamkeiten zwischen Gewerkschaftern bzw. Arbeitenden und den Flüchtlingen ("Wir sind alle Lohnabhängige - unabhängig von der Herkunft"). Zuvor hatte er darauf hingewiesen, daß die Bedingungen in Italien so katastrophal sind, weil die Niedriglöhne hier in Deutschland sie kaputtgemacht haben, und daß die Flüchtlinge gezwungen sind, in diesem Niedriglohnsektor zu arbeiten. Eine wenn auch indirekte Kritik an den Unterstützern hätte sich aus dem Redebeitrag eines Angehörigen von "The Voice", wie sich eine Selbstorganisation von Flüchtlingen nennt, die all denen eine Stimme geben will, die im Mittelmeer und anderswo bereits gestorben sind wie auch jenen, die dies noch tun werden, herauslesen lassen. Hätten sich bei dem Fazit - "no one will give us freedom, if we don't fight" (niemand wird uns unsere Freiheit geben, wenn wir sie uns nicht erkämpfen) - auch die so zahlreich erschienenen Unterstützer(gruppen) gemeint gefühlt können oder sollen?

Tafel mit der Inschrift 'Wir gedenken der jüngsten Opfer der Europäischen Flüchtlingspolitik', 'Boatspeople Freedom Movement' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Gedenktafel der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" für die Toten im Mittelmeer
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Bereitschaft der Geflohenen, sich in ihrer extrem prekären Lage Hoffnungen machen zu lassen, korrespondiert womöglich mit dem Interesse der Unterstützenden, einer Konfrontation auszuweichen, wie sie entstehen könnte, würde der Unterschied zwischen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen wie behauptet tatsächlich aufgelöst werden. Das Engagement für die Flüchtlinge, so richtig und wichtig es selbstverständlich ist, könnte zugleich dazu beitragen, das eigene Arrangement mit den eigentlich als inakzeptabel erachteten gesellschaftlichen Verhältnisse zu kaschieren, was erklären könnte, warum auf der Demonstration den wortstarken Bekundungen vermeintlicher Gemeinsamkeiten doch ein schaler Nachgeschmack anhaftete. So wurde eine Realität suggeriert, die neben intensiven Gefühlen eine neue schöne Welt als Phantasma an den Abendhimmel der geschäftigen Hamburger Innenstadt projizierte, die alle Anwesenden und Mitmarschierenden, Flüchtlinge wie Unterstützende, zu einen vorgab.

Demonstrationszug im Vordergrund, dahinter das Hamburger Rathaus - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wer ist Hamburg? Die Menschen auf der Straße oder im Rathaus?
Foto: © 2013 by Schattenblick

"Kein Mensch ist illegal" war ebenso zu vernehmen wie die Parole "Bleiberecht überall", doch nahezu ohrwurmmäßig prägte sich der Lampedusa-Song sowie der Sprechgesang: "We are here to stay" (Wir sind hier, um zu bleiben) ein. Der Schauspieler Rolf Becker schien mit seinem Redebeitrag ins Schwarze getroffen und den Erwartungen der Demonstrationsteilnehmenden vollauf entsprochen zu haben, wurden doch seine Sätze und Parolen mit deutlichem Zuspruch bedacht. "Wir sind eben am Rathaus vorbeigegangen. Sie meinen, sie vertreten das Gesetz und meinen ihren Besitz. Sie überhören das Signal, das weltweit ein Echo finden wird. Wir setzen euch ein Nein entgegen, irgendwann machen die Völker nicht mehr mit", erklärte er, auch an die Adresse des Hamburger Senats gerichtet. "Das Gesetz wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für das Gesetz", stellte er fest, um zu schlußfolgern, daß, wenn das Gesetz das Menschenrecht verletzt, es geändert oder abgeschafft werden müsse.

Becker unterstrich die zentrale Forderung der Demonstration nach Anerkennung der Gruppe Lampedusa nach § 23 Aufenthaltsgesetz mit den Worten "Die Regierenden müssen es nur wollen". Er kritisierte die lange Untätigkeit des Hamburger Senats und mahnte an, daß eine Lösung von ihm nicht im Alleingang durchgesetzt, sondern im Dialog mit den Flüchtlingsorganisationen, Kirchen, Moscheen und sonstigen Unterstützergruppen entwickelt werden sollte. Mit den Worten "Diese Welt gehört nicht euch, sie gehört uns allen", brachte der Schauspieler abschließend noch einmal die Hoffnungen, Wünsche und Perspektiven der protestierenden Flüchtlinge wie auch der übrigen Demonstrationsteilnehmenden zum Ausdruck.

Transparente mit der Aufschrift 'Refugees welcome' und 'Hoch die internationale Solidarität' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Internationale Solidarität in der linken Demonstrationskultur tief verankert
Foto: © 2013 by Schattenblick

Der nächste Sprecher überbrachte Grüße und Unterstützung aus dem südlichen Afrika und formulierte einen internationalistischen Ansatz, indem er erklärte, daß wir alle Bürger dieser Welt und keine Flüchtlinge seien, und endete mit einem Appell an die Menschlichkeit, genauer gesagt an den durch die Menschenrechte versprochenen Schutz mit den Worten: "Wir haben alle Ängste. Menschenrechte sind dafür da, uns zu beschützen, also macht die Menschenrechte wahr." Daß die Menschenrechte nicht zuletzt auch im NATO-Krieg gegen Libyen, der das Flüchtlingselend der Lampedusa-Gruppe - neben der generellen Abwehrpolitik gegen unwillkommene Geflohene in den Staaten der EU - erst ausgelöst hat, zu Propagandazwecken eingesetzt und insofern mißbraucht wurden, hielt diesen Redner nicht davon ab, die Einlösung des Menschenrechtsversprechens einzufordern.

Zu Wort kam während des unerwartet langen Demonstrationszuges, der sogar eine Routenänderung erforderlich machte, damit Anfang und Ende nicht miteinander kollidierten, auch ein Repräsentant der St. Pauli Ultras, wie sich die Fans des Hamburger Fußballvereins FC St. Pauli nennen, deren Zugehörigkeit zur linken Szene schon in ihrem Logo mit dem Konterfei Che Guevaras unübersehbar ist. Für die Sankt Pauli Ultras erklärte ihr Sprecher, daß sie weiter Seite an Seite mit den Genossen kämpfen und sich mit allen Mitteln mit den Flüchtlingen solidarisieren werden. "Die Flüchtlingslager in aller Welt entsetzen uns", erklärte er und machte deutlich, daß die Unterstützung der Flüchtlinge für die Ultras selbstverständlicher Bestandteil ihrer Art, "Fußball zu leben", sei. Als Beispiel schilderte er, daß zu jedem Heimspiel des Vereins eine Flüchtlingsgruppe aus Mecklenburg-Vorpommern eingeladen, aus ihrer Unterkunft abgeholt und nach dem Spiel sowie einem anschließenden gemeinsamen Essen wieder zurückgebracht wird.

Transparent mit der Aufschrift 'Gegen den Rassismus von Senat und Polizei: Lampedusa ist überall! Bleiberecht für alle! Interventionistische Linke, Avanti' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kritik an den jüngsten Polizeieinsätzen gegen Flüchtlinge in Hamburg
Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine Sprecherin des Hamburger "Bündnisses gegen imperialistische Aggression" brachte ebenfalls ihren großen Respekt vor dem Mut und der Entschlossenheit der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" zum Ausdruck. "Ihr erinnert uns daran, daß ihr in Libyen ein gutes Leben hattet, bevor die NATO-Bomben es kaputtgemacht haben und daß die sogenannten Rebellen nicht für euch gesprochen haben, während die Medien hier für diesen Krieg eingetreten sind", erklärte sie. Damals - 2011 - seien noch nicht so viele Menschen auf der Straße gewesen wie jetzt. "Diese Regierung ist nicht auf eurer Seite, aber die Bevölkerung - wir - sind an eurer Seite, wir kämpfen gemeinsam".

Genaugenommen können die Demonstrationsteilnehmenden, mag ihre Zahl auch noch so hoch eingeschätzt werden, mit der Bevölkerung Hamburgs nicht gleichgesetzt werden. Träfe dies zu, wäre die Haltung des Hamburger Senats, die ihrerseits kaum isoliert von der Politik der deutschen Bundesregierung wie auch der Europäischen Union analysiert und bewertet werden kann, kaum zu erklären. Bei aller Unterstützung und Sympathie - vielfach wird bereits von einer Welle der Solidarität oder dem Entstehen einer Flüchtlingssolidaritätsbewegung gesprochen - für die Gruppe Lampedusa gerät der Blick für die nüchternen und nach wie vor harten Realitäten leicht ins Hintertreffen. So steht zu befürchten, daß der Hamburger Senat mit seinem wachsweichen Vorschlag, die Lampedusa-Flüchtlinge mögen Einzelanträge auf eine Aufenthaltserlaubnis stellen, die zwar abgelehnt werden würden, den Betroffenen jedoch für die Dauer des Verfahrens eine Duldung ermöglichten, lediglich unterbreitet wurde, um die momentane öffentliche Resonanz und Unterstützung leerlaufen zu lassen.

Transparent mit der Aufschrift 'None is free while someone is oppressed' (niemand ist frei, solange ein anderer unterdrückt wird) - Foto: © 2013 by Schattenblick

Freiheit und Unterdrückung können nicht ko-existieren Foto: © 2013 by Schattenblick

Fraglos wäre ohne die Aktivitäten der "Gruppe Lampedusa in Hamburg" die Solidaritätswelle oder -bewegung gar nicht erst entstanden. Die rigiden Polizeikontrollen, mit denen der Hamburger Senat vorgeblich versucht hat, die Identitäten und Fluchtgeschichten der Lampedusa-Flüchtlinge festzustellen, könnten insofern auch als ein Versuch bewertet werden, diese in die Isolation zurückzutreiben, in der Flüchtlinge in Deutschland normalerweise zu leben gezwungen sind, weil sie systematisch und mit gezieltem Griff möglichst fern der Wohnorte und kulturellen Zentren der hiesigen Bevölkerung untergebracht und durch die Residenzpflicht davon abgehalten werden, das ihnen zugewiesene, abgelegene Terrain zu verlassen. Der "Gruppe Lampedusa in Hamburg" ist es zumindest ansatzweise gelungen, Brücken zur übrigen Bevölkerung und vielen in ihr relevanten Gruppierungen und Organisationen zu schlagen mit dem Ergebnis, daß immer mehr Hamburger Bürgerinnen und Bürger nicht länger hinzunehmen bereit sind, wie mit diesen als irgendwie fremd definierten und ausgegrenzten Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung umgegangen wird.

Divide et impera, teile und herrsche, lautete schon im alten Rom das Prinzip der Herrschaft des Menschen über den Menschen, das nicht das Geringste an Aktualität verloren hat. Aus Sicht derjenigen, die den Status Quo der gesellschaftlichen Elitenordnung gegen Unwuchten aller Art zu verteidigen suchen, könnte insofern die eigentliche Brisanz der Proteste einer in einer Metropole wie Hamburg eigentlich verschwindend kleinen Gruppe wie der Lampedusa-Flüchtlinge schon in dem Beispiel liegen, das sie durch ihren organisatorischen Zusammenhalt und ihre kontinuierlichen Aktivitäten geben. Dies wurde in Hamburg offenbar bereits verstanden und aufgegriffen, scheinen doch immer mehr Menschen zu spüren, daß weitaus mehr im Argen liegt und nicht nur zu Flüchtlingen gemachte Menschen von einer Politik betroffen sind, deren Unbarmherzigkeit und prinzipielle Härte sich an dieser Stelle zeigt und damit einen Vorgeschmack darauf liefert, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ganz generell zuzuspitzen drohen, so dieser angesichts der weltweiten Hunger- und Mangellage im Grunde absehbaren Entwicklung nicht Einhalt geboten wird.

Der Demonstrationszug bewegt sich um die Binnenalster - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Lampedusa-Demonstration an der Binnenalster
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Offener Brief der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" an den Senat der Stadt Hamburg und Erneuerung unseres Gesprächsangebots vom 16.10.2013
http://lampedusa-in-hamburg.tk/

[2] Wendung. Flüchtlinge von St. Pauli wollen sich bei Behörden melden. 29.10.2013
http://www.mopo.de/politik/wendung-fluechtlinge-von-st--pauli-wollen-sich-bei-behoerden-melden,5067150,24817654.html

[3] Lampedusa-Flüchtlinge uneins. NDR aktuell - 30.10.2013 15:00 Uhr
http://www.ndr.de/regional/hamburg/fluechtlinge561.html

[4] Ausländerbehörde - Mehr als 60 der "Lampedusa-Flüchtlinge" namentlich bekannt. Hamburger Abendblatt, 12.11.2013 http://www.abendblatt.de/hamburg/article121815706/Mehr-als-60-der-Lampedusa-Fluechtlinge-namentlich-bekannt.html


Bisherige Beiträge zu "Lampedusa in Hamburg" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

INTERVIEW/032: Lampedusa in Hamburg - Tor ohne Tür, Flüchtling A. Tchassei im Gespräch (SB)
INTERVIEW/033: Lampedusa in Hamburg - Christenpflicht und Staatsräson, Pastor Sieghard Wilm im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: Lampedusa in Hamburg - das fordert die Geschichte, mit Andreas Gerhold im Gespräch (SB)

www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR:
REPRESSION/1509: Wir sind Deutschland? - Wir sind Lampedusa! (SB)

Siehe auch Beiträge zum Flüchtlingssterben im Mittelmeer:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → BRENNPUNKT: SEEGRENZE

http://schattenblick.de/infopool/europool/ip_europool_brenn_seegrenze.shtml

Siehe auch Beiträge zu Flüchtlingsprotesten:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → TICKER: FLUCHT

http://schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_ticker_flucht.shtml

18. November 2013