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BERICHT/018: Megacities - Besitzstandsselektive Dynamik (SB)


Kampf um Landrechte, Löhne und Arbeitsbedingungen in Dhaka

Sessions 3 und Vb am 14./15. April 2013 in Bonn


Häuser in verschiedenen Zuständen der Fertigstellung - Foto: © by Soman [CC-BY-SA-3.0 via Wikimedia Commons]

Urbanes Panorama Dhaka
Foto: © by Soman [CC-BY-SA-3.0 via Wikimedia Commons]

Wie der Textilminister von Bangladesch, Abdul Latif Siddique, kürzlich erklärte, sei der Einsturz des Rana Plaza zu grauenhaft gewesen, um nicht beachtet zu werden: "Wir meinen es jetzt ernst. Hoffentlich wird es besser." [1] Wenngleich er mit diesen Worten zahllosen Menschen in aller Welt aus der Seele gesprochen haben dürfte, sind die Interessen und Konsequenzen, die sich um die verheerendste Katastrophe in der Textilindustrie des Landes ranken, höchst widersprüchlicher Natur. Seit dem Einsturz des achtstöckigen Geschäfts- und Fabrikgebäudes im Industriegebiet Savar nordwestlich der Hauptstadt Dhaka am 24. April, bei dem offiziellen Angaben zufolge 1127 Menschen getötet und 2438 verletzt wurden, kämpfen die Arbeiterinnen und Arbeiter verstärkt um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Ansätze der Beschäftigten in der Textilindustrie, ihre Interessen durchzusetzen, wurden in der Vergangenheit immer wieder gewaltsam unterdrückt. Als nach dem Einsturz des Rana Plaza landesweit zahlreiche Fabriken bestreikt wurden und Hunderttausende in Dhaka und anderen Industriegebieten auf die Straße gingen, setzte Premierministerin Scheich Hasina Wajed Polizei, Militär und Sondereinsatzkräfte zur Aufstandsbekämpfung ein, um den Protest einzudämmen und niederzuschlagen.

Erst Anfang der Woche griff die Polizei wieder hart gegen rund 5000 Menschen durch, die sich in einem Gewerbegebiet Dhakas versammelt hatten, um für eine Anhebung ihrer Einkünfte zu demonstrieren. Polizisten feuerten Tränengas und Gummigeschosse in die Menge und verletzten dabei zahlreiche Menschen. Wie der örtliche Polizeichef in Rechtfertigung des repressiven Vorgehens erklärte, hätten die Demonstranten eine Straße blockiert und dann Autos und Fenster demoliert. Auch nördlich der Hauptstadt kam es am selben Tag zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, als rund 2000 Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Schließung ihrer Fabrik protestierten. Der Eigentümer habe diese nach tagelangen Streiks für höhere Löhne kurzerhand dichtgemacht. [2]

Demonstranten und Polizisten - Foto: © by Soman [CC-BY-SA-3.0 via Wikimedia Commons]

Widerstand ruft Staatsgewalt auf den Plan
Foto: © by Soman [CC-BY-SA-3.0 via Wikimedia Commons]

Ernst meint es die Regierung offensichtlich damit, das Aufbegehren im Keim zu ersticken und unter die Schwelle einer massenhaften Bewegung zurückzudrängen, die eine grundsätzliche Verbesserung ihrer existentiellen Bedingungen erzwingen könnte. Zwar läßt man derzeit eine Anhebung des Mindestlohns prüfen, doch reichen die üblichen Einkünfte in der Textilindustrie trotz gradueller Anhebungen in der Vergangenheit noch immer nicht aus, um auch nur die notwendige Ernährung und Unterkunft abzudecken. Die Hoffnung unzähliger Arbeiterinnen und Arbeiter, mit ihrer Knochenarbeit in den Sweatshops geringfügige Rücklagen zur Unterstützung von Angehörigen oder gar spätere Existenzgründungen zu ermöglichen, bleibt weithin unerfüllt.

Unter dem Druck westlicher Käuferfirmen, die Sicherheit in den Textilfabriken zu erhöhen, sieht sich die Regierung veranlaßt, die Gebäude auf Einsturzgefahr hin zu überprüfen. Nach den Worten des Textilministers führt man eigene Untersuchungen durch und rechnet mit 200 bis 300 gefährdeten Gebäuden, die man sehr schnell finden und schließen werde. Woher er diese Gewißheit nimmt, ist jedoch unerfindlich. Nach dem Rana-Plaza-Unglück beauftragten Regierung und Textilbranche die Bangladesch University of Engineering and Technology mit Sicherheitsprüfungen. Die Ingenieure erhielten zunächst Anfragen von 400 Fabrikbesitzern, doch als die Arbeit begann, waren plötzlich viele unerreichbar, so daß nur 200 Gebäude untersucht werden konnten. Laut vorläufigen Ergebnissen wiesen 20 Fabriken so schwerwiegende Mängel auf, daß die Prüfer sie schließen ließen. Einige Gebäude hatten zu dünne Säulen, um ihr Gewicht zu tragen, während andere bereits Risse zeigten und einsturzgefährdet waren. Die meisten waren bei den Bauarbeiten ganz ohne Ingenieure ausgekommen, und in zahlreichen Gebäuden fanden die Prüfer illegale Zusatzetagen vor.

Da die Überprüfungen von den Besitzern freiwillig beantragt und bezahlt wurden, gehen die Sachverständigen davon aus, daß die geprüften Gebäude zu den sichereren der Branche gehören. Der Zustand der weiteren 4000 Textilfabriken im Land dürfte noch wesentlich schlimmer sein. "Wir dürfen nicht wegen einiger Gebäude die gesamte Industrie zerstören", gab der Vizepräsident des Textilexporteurverbands BGMEA, Shahidullah Azim, die Marschrichtung vor. Wie er versichert, sei Rana Plaza ein Weckruf für die Unternehmer gewesen, die sich nun mit der Bausicherheit ihrer Fabriken beschäftigten. "Vorher war das nicht in unseren Köpfen. Wir haben nie an so etwas gedacht", behauptet Azim. Diese Aussage entbehrt jeder Glaubwürdigkeit, da bereits 2005 beim Einsturz der Spectrum-Fabrik 64 Menschen ums Leben kamen und der Verband schon damals vorgeschlagen hatte, die Bausicherheit der Fabriken zu kontrollieren, was jedoch nie umgesetzt wurde.

Offenbar brachte Kanadas High Commissioner in Dhaka, Heather Cruden, in einer Rede vor der Diplomatic Correspondents Association of Bangladesch (DCAB) treffsicher auf den Punkt, worum es für die Eliten des Landes und ausländische Interessengruppen derzeit vor allem geht. Bangladesch leide an einer "Krise der Glaubwürdigkeit" und sei gehalten, letztere in den Augen der Welt wiederherzustellen. Wie Cruden unter anderem warnte, sei man sehr besorgt, daß die eindrucksvolle soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes durch die Rana-Plaza-Tragödie und die aktuellen politischen Unruhen gefährdet werde. Käufer würden "wegen der Streiks" nervös, da eine fristgerechte Auslieferung nicht mehr sichergestellt sei. Regierung und Unternehmer müßten bei der Sicherheit am Arbeitsplatz zusammenarbeiten, um das Vertrauen internationaler Käufer wiederherzustellen, so daß weitere Investitionen fließen könnten. Corporate Social Responsibility sei zur Problemlösung bestens geeignet, da sie Leben und Sicherheit der Beschäftigten, ihrer Familien und ihrer Gemeinden verbessere. [3]

Auf Befriedungsstrategien zur Kaschierung und Einhegung aufbrechender Widerspruchslagen setzt offenbar auch die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), die an dem Abkommen für die Textilindustrie in Bangladesch mitgearbeitet hat. Nachdem die "Kampagne für saubere Kleidung" und hiesige Gewerkschaften seit Jahren für dieses Abkommen geworben hatten, schaltete sich die GIZ im November 2012 in die Verhandlungen über das Brandschutzabkommen ein. Kritikern aus den Reihen des Beschäftigten-Netzwerks "tie Germany", der "Kampagne für saubere Kleidung" und der Grünen zufolge kamen die deutschen Entwicklungshelfer den Unternehmen dabei entgegen, Sicherheitsauflagen weitreichend zu verwässern wie auch die Bemühungen der örtlichen Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zu untergraben.

Im GIZ-Vorschlag, der am 29. April bei einem Treffen mit deutschen Unternehmen in Eschborn auf dem Tisch lag, war keine Liste der Zulieferbetriebe, die unter das Brandschutzabkommen fallen, vorgesehen. Auch sollten Berichte über die Sicherheitsinspektionen in den Fabriken nicht öffentlich werden, vielmehr war nur vage von "Feedbackrunden", "gelernten Lektionen" und "Beispielen guter Praxis" die Rede. Und nicht zuletzt sollten Gewerkschaftsvertreter bei Schulungen gar nicht erst anwesend sein wie auch den Arbeiterinnen und Arbeitern keine Mitspracherechte eingeräumt wurden, welche Reparaturen und Renovierungen erforderlich seien. Inzwischen haben die Ereignisse diese Kontroverse insofern überholt, als 38 Unternehmen im Gefolge des Rana-Plaza-Einsturzes ein verbindliches Brand- und Gebäudeschutzabkommen unterzeichnen wollen. Dessen ungeachtet drängt sich der Verdacht auf, daß die dem Bundesentwicklungsministerium unterstellte GIZ ihre Politik nicht nach dem Wohl der Menschen, sondern nach den Interessen der Konzerne ausrichtet, wie es einer der Kritiker formulierte. [4]

Die internationale Kritik nach dem Rana-Plaza-Einsturz hat sich zudem als Türöffner für die wirtschaftliche Einflußnahme der Vereinigten Staaten erwiesen. Die US-Regierung bietet Bangladesch schon seit mehreren Jahren ein Handelsabkommen an, dessen Unterzeichnung Dhaka jedoch bislang aufgrund von Bedenken, hinsichtlich der Arbeitsrechte und des Schutzes geistigen Eigentums in den Schwitzkasten genommen zu werden, abgelehnt hatte. Formal unabhängig davon leitete die Obama-Administration Anfang des Jahres eine Überprüfung ein, ob Bangladesch weiterhin in Genuß des Generalized System of Preferences (GSP) kommen soll, das für Tausende von Handelsgütern Zollfreiheit gewährt. Vor wenigen Tagen kündigte Washington eine alsbaldige Entscheidung über eine mögliche Suspendierung des GSP an, sollte Bangladesch seine Arbeitsbedingungen nicht verbessern. [5]

Unter dem massiven Druck westlicher Regierungen im Gefolge des katastrophalen Fabrikeinsturzes in Savar hat Bangladesch nun nachgegeben und dem Handelsabkommen mit den USA zugestimmt. Auf Beschluß des Kabinetts soll das Trade and Investment Cooperation Framework Agreement (TICFA) in absehbarer Zeit unterzeichnet werden, das einen Ausbau von Handel und Investitionen zwischen den beiden Ländern zum Ziel hat. Nun hofft man in Dhaka, daß Bangladesch damit weiter vom GSP profitieren kann. Mit einem Gesamtumfang von 5,4 Milliarden Dollar im Jahr 2012 ist der beiderseitige Handel aus Sicht der USA marginal, für Bangladesch hingegen sehr bedeutsam. Daß hier nicht zwei Partner ein Abkommen auf Augenhöhe schließen, liegt auf der Hand. Wenngleich Arbeitsrechte und -bedingungen des Landes zweifellos einer grundlegenden Verbesserung bedürfen, haftet der Instrumentalisierung des Rana-Plaza-Einsturzes doch etwas Erpresserisches an, dessen Folgen Bangladesch gewiß nicht zum Vorteil gereichen werden.

Verstopfte Straße im Abendverkehr - Foto: © by Soman [CC-BY-SA-3.0 via Wikimedia Commons]

Mobilität kurz vor dem Stillstand
Foto: © by Soman [CC-BY-SA-3.0 via Wikimedia Commons]


Dhaka - Unwohnlichste Stadt der Welt?

Da die Hauptstadt Bangladeschs nicht nur als die weltweit am schnellsten wachsende Riesenstadt gilt, sondern zugleich einen der höchsten Anteile in Armut lebender Bewohner aufweist, sind ihre Nöte geradezu Legion. Lebten 1980 rund drei Millionen Menschen in Dhaka, so sind es heute fünfmal so viele, wobei sich 40 Prozent von ihnen in den Elendsvierteln auf einem Zwanzigstel der Fläche drängen. Täglich strömen etwa 1.400 neue Siedler herein, so daß die Einwohnerzahl im nächsten Jahrzehnt auf 25 Millionen steigen könnte. [6]

Selbst die Regierung räumt ein, daß unablässiger Zustrom und mangelnde Planung die soziale und physische Infrastruktur an den Rand des Zusammenbruchs getrieben haben. Überflutungen, rapide sinkender Grundwasserspiegel, durch giftige Abwässer aus Hunderten von Kunststoff- und Recyclingfabriken, Ziegeleien und Gerbereien verseuchte Gewässer, müllverstopfte Abwasserkanäle, fehlender Zugang zu sauberem Trinkwasser, Luftverschmutzung, Verkehrschaos, grassierende Krankheiten, dramatische Wohnungsnot - die Liste katastrophaler Szenarien ließe sich fortsetzen. Als "unwohnlichste Stadt der Welt" hat der "Economist" Dhaka bezeichnet, und so muten hochfliegende Pläne der Stadtregierungen nach Erlangung der Unabhängigkeit Bangladeschs im Jahr 1971, Entwicklungskonzepte zu entwerfen und umzusetzen, heute wie Geschichten aus einer untergegangenen Märchenwelt an. Schon der erste Gesamtplan wurde von der rasanten Entwicklung überholt, die Umsetzung eines neuen Anlaufs 1997 bis heute verschleppt.

Zwei Kinder vor verschmutztem See - Foto: © 2013 by Schattenblick

Selbst zum Baden ungeeignet ...
Foto: © 2013 by Schattenblick

Je stärker die Wirtschaft in internationale Verwertungsketten vernetzt wird, desto wilder wuchern Megastädte wie Dhaka entlang der neuen ökonomischen Expansionslinien. Der Form nach demokratisch regiert, wird das Land von politischen Dynastien beherrscht, die staatliches Handeln mit ökonomischer Vorteilsnahme gleichsetzen und die Früchte ausgeprägt neoliberaler Privatisierung in die eigene Tasche lenken. Eine extreme Zentralisierung blockiert landesweite Entwicklungskonzepte wie auch eigenständige Ansätze anderer Zentren und niedrigerer Ebenen. Die Premierministerin teilte Dhaka 2011 in zwei Bezirke und setzte Interimsverwalter ein, so daß die Hauptstadt gegenwärtig nicht einmal einen Bürgermeister hat.

In Dhaka wächst neben den Slums auch die Mittel- und Oberschicht, die an Niedriglohnindustrien, Bauboom, Wucherzinsen und -mieten verdient. Der Kampf um Land zählt zu den zentralen Auseinandersetzungen in der Megastadt, da die Bauindustrie die Armen verdrängt und Entwicklungspläne zumeist mit Vertreibung gleichzusetzen sind. Selbsthilfeorganisationen kämpfen vielerorts in Dhaka für bessere Lebensbedingungen und nicht zuletzt Eigentumsrechte in den mehr als 4000 Slums, um den Planierraupen Einhalt zu gebieten, die noch die letzte Habe der Armen zerstören und sie wiederum zu Flüchtlingen machen.


Lehren aus sechs Jahren Forschung

Beim Abschlußkolloquium des DFG-Schwerpunktprogramms "Negacities-Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change" im Wissenschaftszentrum Bonn stand das Interesse im Mittelpunkt, den eskalierenden Problemlagen der Riesenstädte durch langjährige Forschungsarbeit belegte Ansätze informeller Bewältigung auf der Ebene unmittelbar betroffener Bevölkerungsteile entgegenzustellen. Dies trug dem Phänomen Rechnung, daß sich selbst unter den widrigsten Bedingungen urbaner Elendsquartiere angesichts der Notwendigkeit, das Überleben zu organisieren, mannigfaltige Handlungsweisen, Beziehungen und Strukturen der Versorgung, Behausung und Erwerbstätigkeit herausbilden.

In Session 3 zum Thema "Urban Environment, Health and Climate Change", die von Prof. Dr. Alexander Krämer (Chair) und Dr. Anwar Zahid aus Dhaka (Discussant) geleitet wurde, stellten Prof. Dr. Elmar Kulke und Prof. Dr. Wilfried Endlicher eine Reihe von diesbezüglichen Forschungsergebnissen vor. Wie die Untersuchung der Morbiditäts- und Mortalitätsraten unter verschiedenen Gesichtspunkten gezeigt hatte, ragen bestimmte Jahre und Jahreszeiten auf Grund von Wirbelstürmen und Überschwemmungen heraus, wobei einige Landesteile wie küstennahe Regionen in besonderem Maße betroffen sind. Deutlich wurde auch, daß vor allem kleine Kinder und ältere Menschen sowohl von extrem kalten als auch sehr heißen Perioden in Mitleidenschaft gezogen werden. So sind beispielsweise Todesfälle aufgrund kardiovaskulärer Erkrankungen in den Sommermonaten in städtischer Umgebung auffällig, während im Winter Kälte und Luftverschmutzung zusammenwirken, zumal viele Häuser und Wohnungen nicht für Kältewellen ausgelegt sind. Wie dabei immer wieder anklingt, erhöht Armut die Gefahr, extremen klimatischen Einflüssen zum Opfer zu fallen, da die Slums zumeist in Risikozonen entstehen wie auch die Mittel fehlen, sich vor diesen Einflüssen zu schützen.

Plastik-Recycling in Dhaka - Foto: © 2013 by Schattenblick

Krankmachende Arbeitsbedingungen ...
Foto: © 2013 by Schattenblick

Vorgestellt wurde auch eine Studie zum Recycling von Plastikabfällen, das sich in einer Kette vom Sammeln in Haushalten und auf Müllkippen über Klein- und Großhändler bis hin zum Einschmelzen und Aufbereiten und schließlich der Herstellung neuer Endprodukte vollzieht. Diese Arbeiten werden teils informell, teils formell verrichtet, wobei die hergestellten Produkte zumeist in Bangladesch selbst verwendet, nicht jedoch exportiert werden. Der informelle Sektor zeichnet sich durch stark belastende Arbeitsbedingungen aus, und da Verträge mündlich geschlossen werden, existiert keinerlei Rechtsschutz. 60 Prozent der Befragten bezeichneten ihre Tätigkeit als schädlich, rund 70 Prozent litten an mindestens einer Krankheit.

Grundsätzlich müsse man von einer ausgeprägten ökonomischen, sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Ungleichheit ausgehen. Da das Wachstum der Städte landwirtschaftlich nutzbare Flächen zerstört, verschärfen sich die Probleme bei der Lebensmittelversorgung. Dabei ist die informelle Ökonomie nicht notwendigerweise marginal, sondern vielmehr essentiell für das Funktionieren der städtischen Wirtschaft, zumal formelle und informelle Sektoren häufig miteinander verflochten sind.

Frauen beim Wasserholen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kostbares Gut Wasser
Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Qumrul Hassan aus Dhaka ging in seiner Präsentation "Dhaka City Water Supply Condition: A Mega Challenge for City Dwellers" auf verschiedene Aspekte des mangelnden Zugangs zu sauberem Trinkwasser ein. Wenngleich in der Vergangenheit zahllose innerstädtische Wasserwege die ökonomischen Lebensadern Dhakas waren, sind diese weitgehend verschwunden. Noch vorhandene Gewässer sind in so hohem Maße mit Giftstoffen belastet, daß selbst das Waschen und Baden darin gesundheitsgefährdend ist. Aus Tiefbrunnen gefördertes oder aufbereitetes Trinkwasser ist ein kostbares Gut, das mangels einer funktionsfähigen Versorgungsstruktur von zahlreichen privaten Akteuren verkauft wird. So spiegelt die Wasserversorgung geradezu exemplarisch die eskalierenden Probleme Dhakas, doch zugleich auch die außerordentliche Flexibilität und Funktionsfähigkeit der informellen Kompensation wider.

Session Vb unter Leitung von Prof. Dr. Peter Herrle (Chair) und M.A. Geoffrey Payne (Discussant) war dem Themenkomplex "Informality and Urban Governance" gewidmet. Dr. Taibur Rahman Sumon aus Dhaka, der im Finanz- und Planungsministerium seines Landes tätig ist, konnte anhand seiner Forschungsarbeit aus erster Hand über Infrastrukturmaßnahmen im Kontext des entufernden Wachstums der Megacity berichten. Wie dabei vor allem deutlich wurde, wirken bei jeglichen Maßnahmen zahlreiche Interessengruppen und Akteure zusammen, die mittels ausgiebiger Verhandlungen unter einen Hut gebracht werden müssen. Dhaka expandiert und wird von der sogenannten "unsichtbaren Hand" (Kreibich, 2010) regiert, war eine besonders einprägsame Aussage seines Fazits.

Folie 'Learning from Dhaka' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Lehren aus Dhaka ...
Foto: © 2013 by Schattenblick

Unter dem Thema "Learning from Dhaka. Modes of the production of urban space and conceptualisations of urban informality" stellten Prof. Dr.-Ing. Sabine Baumgart, Dr. Kirsten Hackenbroch, Dr. Shahadat Hossain und Prof. Dr. Volker Kreibich einige zentrale Befunde und Schlußfolgerungen ihrer sechsjährigen Forschungsarbeit vor. Allein in diesem Zeitraum ist Dhaka von 12 auf 15 Millionen Einwohner gewachsen und mit 200.000 Einwohnern pro Quadratkilometer außerordentlich dicht besiedelt. Die Riesenstadt zeichnet sich durch eine starke Fragmentierung der baulichen Struktur und Besiedlung aus, und wenn von öffentlichem und sozialem Raum die Rede ist, stößt man allenthalben auf eklatante Widersprüche. So wurde beispielsweise eine Armensiedlung, die für den Anschluß an die Wasserversorgung vorgesehen war, im selben Zeitraum auf ministerielle Anordnung gewaltsam geräumt, als private Immobilienfirmen dort bauen wollten.

Auf den ersten Blick zeichneten sich die untersuchten Armenviertel durch eine völlige Abwesenheit administrativer Durchdringung und eine Abkopplung von städtischen Prozessen aus. Demgegenüber wiesen Quartiere der Mittelschicht eine größere Präsenz der Behörden im Alltag auf, doch überlagerten auch hier lokale Organisationsformen die formelle Struktur. Wer sich in Dhaka behaupten will, muß sich innerhalb wie außerhalb offizieller Strukturen bewegen. So verhandeln die zahllosen Wasserhändler mit den Technikern des offiziellen Versorgers, machen Politiker für sich Werbung, indem sie etwa Wassertanks installieren lassen. Dabei führt die Abwesenheit fester Regularien und Werte zu Unsicherheit und temporären Verhältnissen, die sich unter dem Einfluß verschiedenster Interessen jederzeit ändern können. Vieles muß immer wieder neu ausgehandelt werden. So könne man "Informality" hier als Strategie dominanter Gruppen auffassen, die in der Lage sind, ihren informellen Zielsetzungen Legitimität zu verleihen.

Am Rand der expandierenden Megacity Dhaka kommt es immer wieder zu Konflikten um Landrechte. Wohnungsprojekte werden vielfach auf Flächen realisiert, die ursprünglich als Überflutungszonen ausgewiesen waren. Spätere Planungen staatlicher Stellen, die selbst kommerzielle Interessen vertreten, weisen die betreffenden Flächen plötzlich als Bauland aus. Öffentliche Institutionen treiben die Privatisierung massiv voran. Eine andere Vorgehensweise besteht darin, außerhalb des Gebiets tätig zu werden, das von den Einschränkungen des Masterplans erfaßt wird. Kauf und Verkauf von Land werden von einem komplexen Geflecht verschiedener Akteure durchgeführt, was nicht zuletzt auch die Anfertigung offizieller Dokumente betrifft.

Widerstand gegen diese Praktiken des Immobiliensektors beginne beim Protest der ursprünglichen Landbesitzer gegen die Enteignung und dem Appell an potentielle Käufer, keinen Grund und Boden zu erwerben, dessen Besitzrechte umstritten sind. Dies habe sich insofern als ein recht wirkungsvolles Manöver erwiesen, als die Immobilienbranche darauf reagieren mußte. Mögliche Erfolge solcher Gegenstrategien hingen freilich in hohem Maße von den jeweils beteiligten politischen Interessen ab.

Geoffrey Payne gab einen bezeichnenden Dialog mit einem Regierungsvertreter in Dhaka wider. Auf die Frage, ob es nicht vordringlich sei, die Lebensverhältnisse der Armen zu verbessern, erwiderte dieser, daß man dann nur noch mehr von ihnen anlocken würde. Payne gab demgegenüber zu bedenken, genau dies sei die Regierungspolitik in den letzten 30 Jahren gewesen, ohne daß die Zuwanderung gebremst worden wäre. Sei es nicht von allgemeinem Interesse, die Gesundheit der Armen zu verbessern, eine Wasserversorgung zu gewährleisten und Lebensraum zu schaffen, kurz ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen? Der Staat unterwerfe sich jedoch geradezu privaten Interessen, die sehr eng gefaßt seien. Dennoch schafften es die Armen irgendwie, ihr Überleben zu sichern, doch seien ihre Möglichkeiten außerordentlich beschränkt. Besonders gefährlich sei die unablässige Verdrängung und Enteignung von Landbesitzern in der Peripherie, zumal es in Asien diverse Beispiele gebe, wie man diese Problematik wesentlich besser handhaben kann. Hier sei die internationale Gemeinschaft mit ihren diversen Institutionen und NGOs gefragt, auch in Dhaka Initiativen und Modelle einzubringen. Die Gemeinde der Wissenschaftler sollte ihre Expertise verstärkt in diesem Prozeß geltend machen, um den Privatsektor einzugrenzen und zu verantwortungsvollerem Handeln zu bewegen.

Dazu bliebe anzumerken, daß nichts und niemand den Widerstand der Drangsalierten ersetzen kann. Daß solche Auseinandersetzungen auch in Dhaka geführt werden, blendete die Öffentlichkeit in den westlichen Ländern lange Zeit weitgehend aus. Erst die Tragödie des folgenschwersten Fabrikeinsturzes in einer langen Kette ähnlicher Ereignisse mit geringeren Opferzahlen hat die Lebensverhältnisse vieler Millionen Menschen in der Megacity wie auch in ganz Bangladesch in den Blickpunkt gerückt. Sofern Wissenschaft in dieser Widerspruchslage Partei für "die Verdammten dieser Erde" ergreift - um mit Frantz Fanon zu sprechen -, stellt sich ihr die Frage, ob und wie sie emanzipatorische Bestrebungen und Kämpfe befördern und unterstützen könnte.

Fußnoten:

[1] http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/asien-und-ozeanien/Die-4000-Bauruinen-von-Bangladesh/story/14482690

[2] http://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-dienstleister/bangladesch-polizei-feuert-traenengas-auf-textilarbeiter/8366064.html

[3] http://bdnews24.com/bangladesh/2013/06/16/eyes-of-the-world-on-bangladesh

[4] http://www.taz.de/Arbeitsbedingungen-in-Bangladesch-/!116892/

[5] http://www.livemint.com/Politics/DmtPQrcWj7f6t7IKxT4xGM/Bangladesh-approves-trade-deal-with-US.html

[6] http://www.zeit.de/2013/15/megacity-dhaka-urbanisierung/seite-1


Bisherige Beiträge zum Kolloquium "Megacities - Megachallenge" im Schattenblick unter INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

BERICHT/015: Megacities - Rauburbane Sammelpunkte (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0015.html

BERICHT/016: Megacities - Evolution der Umlast (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0016.html

BERICHT/017: Megacities - Marktaufbruch der Sieger und Verlierer (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0017.html

INTERVIEW/015: Megacities - Über den Tellerrand - Prof. Dr. Frauke Kraas im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0015.html

INTERVIEW/016: Megacities - Forschungsselbstzweck Überleben - Dr. Johannes Karte im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0016.html

INTERVIEW/019: Megacities - Freiheit, Gleichheit, Forschung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0019.html

INTERVIEW/020: Megacities - Konstruktdynamische Prozesse (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri20.html

INTERVIEW/022: Megacities - Fehlverteilung urban - Benjamin Etzold im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri22.html

INTERVIEW/023: Megacities - Elendsverteilungsvariante Dhaka (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri23.html

INTERVIEW/024: Megacities - Projekt interdisziplinär gelungen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0024.html

INTERVIEW/025: Megacities - Produktivität des Elends (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0025.html

INTERVIEW/026: Megacities - Blühende Stadt und sterbendes Land (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0026.html


20. Juni 2013