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SERIE/023: Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 21. Brief - Neudeck 12


Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 21. Brief

11.5.08

Neudeck 12


Ende Februar wurde ich verhaftet, jetzt ist es schon Anfang April und nach den frühlingshaften Temperaturen der letzten Tage wieder sehr kalt geworden. Ich muss zum Augenarzt und das bedeutet, nach Stadelheim transportiert zu werden. In Neudeck selber findet zweimal wöchentlich eine Sprechstunde beim Allgemeinmediziner statt, ab und zu kommt ein Gynäkologe ins Haus und außerdem können Termine beim Psychologen sowie einem Psychater vereinbart werden. Alle anderen medizinischen Fachgebiete sind in Stadelheim ansässig und so werde ich nach dem Mittagessen wieder einmal in eine kahle Zelle gesteckt, in der ich zusammen mit Frau S., einer kleinen, dicken Polin, auf den Transportbus warte. Frau S. ist eine Roma, sieht aus als wäre sie um die siebzig, ist aber in Wirklichkeit erst 54 Jahre alt und muss jetzt zum Orthopäden. Schon über eine Stunde sitzen wird eingesperrt da, ab und zu reden wir ein paar belanglose englische Sätze miteinander, zwischendurch schimpft Frau S. immer wieder auf Polnisch vor sich hin. Ich verstehe kein Wort, habe aber nicht das Gefühl, etwas zu versäumen. Irgendwann steht sie auf, stellt sich vor das vergitterte Fenster, schaut lange nach draußen und beginnt dann, ein wunderschönes, sehr trauriges Lied in polnischer Sprache zu singen. Ich bin wie verzaubert, von dem Bild und dem Gesang. Raum- und zeitlos ist das, niemals könnte man es "draußen" inszenieren oder arrangieren. Diese Sternstunde ist nur im Gefängnis möglich und der Eintrittspreis ist hoch. Als Frau S. ihr Lied beendet hat und sich zu mir umdreht, laufen ihr Tränen über das Gesicht. Ich mochte sie nie besonders, ihre ständige Schnorrerei und ihre laute Art gingen mir auf die Nerven, jetzt ist alles anders, ich fühle mich ihr tief verbunden. Endlich kommt der Transporter "Einsteigen! Hopp, hopp." Kein Gruß, keine Bitte, so etwas betrachtet man uns gegenüber wohl als Energieverschwendung. Unsere Begleiterin ist ausgerechnet Beamtin H., eine resolute ältere Dame, mit der mich nicht gerade ein inniges Verhältnis verbindet. Gleich bei der Ankunft in Stadelheim werde ich von ihr angeschnauzt, weil ich auf dem dortigen Parkplatz kurz nach recht und links schaue und nicht exakt ihren Fußspuren folge. "Ich gehe Ihnen doch hinterher." verteidige ich mich. "Ja, aber im Zickzack". So ähnlich muss sich ein Rekrut bei der Bundeswehr fühlen - nichts für mich! Zuerst trotten wir durch die langen Gänge zum Augenarzt, einem sachlichen jungen Mann. Er untersucht meine Augen gründlich, stellt eine Verschlechterung der Sehstärke fest und verschreibt mir eine neue Brille. Dann geht es weiter zum Orthopäden und während Fr. S. bei meiner Untersuchung mit im Behandlungsraum dabei war, ist es umgedreht genauso, Beamtin H. weicht sowieso nicht von unserer Seite. Der Orthopäde ist ein zackiger Typ, der rustikal auftritt. Während er an Frau S. dreht und klopft zieht sie eine große Show ab, jammert und lamentiert lauthals und als sie eine Spritze ins Hinterteil bekommt, schreit sie mehrfach schrill und sehr laut auf. Der Arzt, der mir während der Injektion gegenübersitzt, schaut mich an und wir müssen beide grinsen. Ich stelle mir vor, was in den Köpfen der Patienten - ausschließlich Männer - im vollen Wartezimmer draußen bei diesem Geschrei vorgehen mag - sehr vertrauensbildend dürfte sich das wohl nicht auswirken. Dann sind wir fertig, werden wieder verladen und nach Neudeck zurückgefahren. Dort findet in diesen Tagen, wohl weil Ostern vor der Tür steht, eine kleine Entlassungswelle statt. Etliche Frauen kommen von jetzt auf gleich frei, umso bitterer ist es für die, die dableiben müssen. Natürlich gehöre ich zu den letzteren. Für uns bedeutet Ostern nur, 22 ½ Stunden täglich in der Zelle zu hocken, ohne jede Abwechslung - von Karfreitag bis Ostermontag, 4 Tage lang. Schon über fünf Wochen bin ich hier und noch immer wache ich an manchen Tagen mit dem Gedanken auf: Es war alles nur ein Alptraum. Unsinn, alles ist wahr. Obwohl ich noch gar keine Anklageschrift, geschweige denn einen Gerichtstermin habe, spukt mir meine bevorstehende Verhandlung schon kräftig im Kopf herum. Immer wieder überlege ich, was ich dort wie sagen werde und je länger ich das tue, desto lächerlicher und abgedroschener kommen mir meine Sätze vor. Es ist alles so weit weg und ich bin hier völlig abgeschottet. Eine Sozialarbeiterin erzählt, das wäre durchaus so beabsichtigt, damit wir schon einmal Reue empfinden. Ich empfinde hier vieles: Angst, Ohnmacht, Wut, Verzweiflung, Trauer. All das kann man durch Zwang erreichen - Reue nicht.


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Quelle: Copyright by Heide Luthardt


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2008