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SERIE/013: Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 11. Brief - Neudeck 3


Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 11. Brief

2.3.08

Neudeck III


Alltag in Neudeck. Soviel ich hier auch vergessen mag und soll, eins lerne ich: Warten. Stunden, Tage, Wochen, Monate. Stundenlang sitze ich in kahlen Wartezellen, z.B. wenn der auswärtige Sozialdienst kommt, wir zum Facharzt nach Stadelheim gebracht werden, zur Polizei oder zu Gerichtsterminen. Zeitschriften oder Lesematerial gibt es nicht, also bleibt nur, die Wände anzustarren - meist Kacheln oder Rauhputz - zu dösen oder sich - falls vorhanden - mit Mithäftlingen zu unterhalten bzw. mehr oder weniger freiwillig unterhalten zu lassen, was nicht immer ein Vergnügen sein muss. Tage- und wochenlang warte ich auf langersehnte Post oder den Anwalt, der sich mit "Bis nächste Woche" verabschiedet hat und sich dann mehrere Wochen lang nicht blicken lässt - was übrigens das Normalverhalten der Anwälte zu sein scheint, auch bei meinen Leidensgenossinnen. Vier Monate warte ich auf die Anklageschrift, einen weiteren auf den Brief mit dem Gerichtstermin, insgesamt 6 Monate auf die Verhandlung. Lächerlich, wie sehr ich mich "früher" oft über eine halbe Stunde Verspätung der S-Bahn oder eine längere Wartezeit beim Arzt geärgert habe.

Eines Tages schließt eine Beamtin "meine Zelle" auf. "Frau L., zum Gutachter". Mir ist mulmig zumute, ich war noch nie bei einem Psychater und das Gefühl, daß der Herr von der Staatsanwaltschaft beauftragt wurde, macht die Sache nicht besser. Bei seinem letzten Besuch ermahnte mich mein Anwalt, ich solle mich bei den Tests konzentrieren und deutlich machen, daß von mir keine Wiederholungsgefahr ausgeht. Auf gar keinen Fall will ich unter die Strafgesetzbuchparagraphen 20, d.h. nicht schuldfähig oder 21, vermindert schuldfähig, fallen. Einen größeren Gefallen, als für "verrückt" erklärt zu werden, könnte ich dem Staat und den Medien ja garnicht tun. Ich werde in den Raum geführt, in dem der Gutachter, Herr S., schon wartet und wir geben uns die Hand. Er ist mir auf den ersten Blick sympathisch, ein jungenhafter Typ, offen und freundlich, mir fällt ein kleiner Stein vom Herzen. Nachdem wir uns kurz unterhalten haben, sagt er, daß er aufgrund der Zeitungsberichte einen ganz anderen Menschen erwartet hat. Dann gibt er mir etliche bedruckte Blätter Papier: Intelligenz- und Persönlichkeitstests. Während ich die Fragebögen ausfülle, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie er mich aufmerksam mustert, kein angenehmes Gefühl. Anschließend erzähle ich ihm meine ganze Lebensgeschichte, zwischendurch fragt er immer wieder nach, besonders, als wir auf meine Taten zu sprechen kommen. Ob ich überlegt hätte, zum Islam zu konvertieren? Nein, ebensowenig wie zum Christen- oder Judentum. Ob ich es nicht für verwerflich halte, Bomben zu legen? Doch, natürlich, ich halte jede Art von Bomben für verwerflich, das gilt aber auch für die Bomben der NATO. Dann verabschiedet sich Herr S., ein paar Tage später kommt er wieder, u.a. zur Sexualanamnese, wobei es weniger um Sexualität als um Beziehungen geht: Mit wem? Wie lange? Warum trennte sich wer von wem? Es folgen einige körperliche Tests: Reflexe abklopfen und neurologische Untersuchungen, beispielsweise die Zeigefinger bei geschlossenen Augen zur Nasenspitze führen usw. Kein Problem. Ganz zum Schluß noch ein paar Aufgaben mit Buchstabenreihen und geometrischen Formen, wobei ich mich aber nicht mehr richtig konzentrieren kann. Ich bin müde und weiß, hier werde ich nicht gut abschneiden, ansonsten habe ich das Gefühl, daß alles ganz gut gelaufen ist. Herr S. sagt: "Einen Paragraphen bekommen sie nicht von mir", Gott sei Dank, diesmal fällt mir ein riesengroßer Stein vom Herzen. Als er sich verabschiedet gibt er mir mit auf den Weg "Sie sind erfrischend normal. Passen Sie auf, daß Sie hier drin nicht rammdösig werden" und, ganz zum Schluß: "Sie gehören nicht ins Gefängnis" Über dieses Kompliment freue ich mich sehr, aber es hilft nichts. Ich bin hier!

Am nächsten Tag kommt mein Anwalt mit einem kurzen Vorbericht des Gutachters, er ist hochzufrieden. Ich werde als ideologisiert, aber nicht fanatisch beschrieben. Damit kann ich gut leben. Sind Politiker, Militärs und ein Großteil der Massenmedien, die Angriffskriege mit all ihren Begleiterscheinungen befürworten und der Wahnideologie vom Feindbild Islam anhängen, nicht ideologisiert? Oder Schlimmeres?


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Quelle: Copyright by Heide Luthardt


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2008