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OFFENER BRIEF/060: Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland (IPPNW)


IPPNW-Pressemitteilung vom 17. November 2016
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland

Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland

Offener Brief an Merkel, de Maizière, Steinmeier und von der Leyen


Die Ärzteorganisation IPPNW fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die Minister Thomas de Maizière, Frank-Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen in einem Offenen Brief auf, ihre Afghanistan-Flüchtlingspolitik im Sinne der Menschenrechte zu korrigieren. Wie als sicher eingestufte Regionen über Nacht zu hoch gefährlichen werden können, hätten die jüngsten todbringenden Taliban-Attacken in Masar-i-Scharif und anderen nordafghanischen Städten gezeigt. Laut Amnesty International hat sich die Zahl der Flüchtlinge innerhalb Afghanistans in den letzten drei Jahren auf über 1,2 Millionen verdoppelt. UNHCR geht davon aus, dass eine interne Schutzalternative in den vom aktiven Konflikt betroffenen Gebieten unabhängig davon, von wem die Verfolgung ausgeht, nicht gegeben ist. In Anbetracht dieser laut UNHCR katastrophalen humanitären Situation in Afghanistan sei es absurd, Menschen dorthin zurückschicken zu wollen, die in Deutschland Schutz gesucht haben. "Aufgrund der ärztlichen Ethik, der wir verpflichtet sind, müssen wir uns vor die gefährdeten afghanischen Flüchtlinge stellen, um gesundheitlichen Schaden von ihnen abzuwenden. Das bedeutet auch, dass wir als Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten nicht nur gegen die inhumane Abschiebepraxis protestieren, sondern uns auch aktiv gegen Abschiebemaßnahmen stellen werden, die Krankheit und Tod unserer Patientinnen und Patienten in Kauf nehmen würden. Wir sehen Zwangs-Abschiebungen nach Afghanistan als ein staatliches Unrecht an, das weder durch internationale Verträge noch durch das Grundgesetz gedeckt ist", heißt es in dem Brief.

Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten, die schutzsuchende Menschen u.a. aus Afghanistan begleiten und behandeln, hörten täglich Berichte über ihre schrecklichen Erlebnisse, die sie zur Flucht veranlasst haben. Sie erleben ihre Angst, wenn sie von Abschiebungen in ihr Herkunftsland hören und die Panik, die sie erfasse, wenn ihnen die Abschiebung angedroht werde.

"Wir sind angesichts Ihrer Maßnahmen gegen afghanische Flüchtlinge fassungslos. Aus eigener Anschauung wissen wir, dass gewaltsame Abschiebungen schwere Traumata auslösen und bei schon traumatisierten Menschen Reaktualisierungen mit gefährlichen psychischen Reaktionen hervorrufen", heißt es in dem Text weiter.

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Offener Brief

Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Herr Bundesinnenminister Thomas de Maizière
Herr Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier
Frau Bundesverteidigungsministerin Dr. Ursula von der Leyen
Innenminister der Länder (Innenministerkonferenz)

Berlin, 17. November 2016

Afghanistan - ein sicheres Herkunftsland?

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Ministerinnen und Minister,

die EU und damit auch die Bundesrepublik Deutschland hat Afghanistan (bzw. Teile davon) zum sicheren Herkunftsland erklärt und mit der afghanischen Regierung ein Rückübernahmeabkommen für Flüchtlinge geschlossen. Wie als sicher eingestufte Regionen über Nacht zu hoch gefährlichen werden können, zeigten vor wenigen Tagen die todbringenden Taliban-Attacken in Masar-i-Scharif und anderen nordafghanischen Städten.

Wir sind Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten, die schutzsuchende Menschen begleiten und behandeln, darunter viele aus Afghanistan. Wir erfahren täglich von ihren schrecklichen Erlebnissen, die sie zur Flucht veranlasst haben. Wir erleben ihre Angst, wenn sie von Abschiebungen in ihr Herkunftsland hören. Wir erleben die Panik, die sie erfasst, wenn ihnen selbst die Abschiebung angedroht wird. Wir sind angesichts Ihrer Maßnahmen gegen afghanische Flüchtlinge fassungslos. Aus eigener Anschauung wissen wir, dass gewaltsame Abschiebungen schwere Traumata auslösen und bei schon traumatisierten Menschen Reaktualisierungen mit gefährlichen psychischen Reaktionen hervorrufen.

Fluchtalternativen innerhalb Afghanistans werden von unseren Behörden als Möglichkeit beschworen. Aber wir lesen, hören und erfahren täglich von grausamen Gewalttaten, Anschlägen, Kriegshandlungen und Bombenexplosionen, von sich verschlechternder wirtschaftlicher und humanitärer Lage aus allen Teilen Afghanistans. Amnesty International stellte fest, dass sich in den letzten drei Jahren die Zahl der Flüchtlinge innerhalb Afghanistans (Binnenflüchtlinge, internally displaced persons, IDC) auf über 1,2 Millionen verdoppelt hat. Diese leben in der Regel unter menschenunwürdigen Umständen, so dass eine Fluchtalternative innerhalb Afghanistans nicht mehr besteht (s.o. aktuelle Anschläge im Norden des Landes).

In diesem Zusammenhang zitieren wir aus den "Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylbewerber vom 19. April 2016 (HCR/EG/AFG 16/02)". Dort heißt es zur internen Schutzalternative von Rückkehrern: "UNHCR geht davon aus, dass eine interne Schutzalternative in den vom aktiven Konflikt betroffenen Gebieten unabhängig davon, von wem die Verfolgung ausgeht, nicht gegeben ist....

UNHCR ist der Auffassung, dass eine vorgeschlagene interne Schutzalternative nur dann zumutbar ist, wenn der Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und zu (iii) Erwerbsmöglichkeiten gegeben ist. Ferner ist UNHCR der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann zumutbar sein kann, wenn betroffene Personen Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gruppe im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet haben und davon ausgegangen werden kann, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen...."

In Anbetracht dieser laut UNHCR katastrophalen humanitären Situation in Afghanistan ist es absurd, Menschen dorthin zurückschicken zu wollen, die bei uns Schutz gesucht haben. Aufgrund der ärztlichen Ethik, der wir verpflichtet sind, müssen wir uns vor die gefährdeten afghanischen Flüchtlinge stellen, um gesundheitlichen Schaden von ihnen abzuwenden. Das bedeutet auch, dass wir als Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten nicht nur gegen die inhumane Abschiebepraxis protestieren, sondern uns auch aktiv gegen Abschiebemaßnahmen stellen werden, die Krankheit und Tod unserer Patientinnen und Patienten in Kauf nehmen würden.

Wir sehen Zwangs- Abschiebungen nach Afghanistan als ein staatliches Unrecht an, das weder durch internationale Verträge noch durch das Grundgesetz gedeckt ist. Wir fordern Sie dringend auf, Ihre Afghanistan-Flüchtlingspolitik im Sinne der Menschenrechte zu korrigieren.

Mit freundlichen Grüßen

Carlotta Conrad,
Mitglied des Vorstands

Ernst-Ludwig Iskenius
Mitglied des AK Flüchtlinge/Asyl

Der Offene Brief an die Bundeskanzlerin und die Minister als PDF-Datei:
http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Offener_Brief__Bundesregierung_Afghanistan.pdf

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Quelle:
Pressemitteilung vom 17. November 2016
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Tel. 030/69 80 74-0, Fax: 030/69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2016

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