Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → FRIEDENSGESELLSCHAFT


STANDPUNKT/201: Zivile Sicherheitspolitik - Was der 1. September 2039 mit uns zu tun haben könnte (ZivilCourage)


ZivilCourage - Nr. 4 / 2019
Magazin der DFG-VK

Zukunftswerkstatt
Zivile Sicherheitspolitik
Was der 1. September 2039 mit uns zu tun haben könnte

Von Otto Reger


Es ist ein trüber, regnerischer Spätsommertag im Hambacher Forst an diesem 1. September 2039. Trotzdem ist die Stimmung unter den DFG-VK-Mitgliedern ausgelassen und optimistisch. Rund Tausend von ihnen sind in den Hambacher Forst gewandert, den die AktivistInnen von "Der Hambi bleibt!" vor der Abholzung in den 2020-er-Jahren bewahren konnten.

Es wird des einhundertsten Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkrieges gedacht und vor allem gefeiert:

Die seit 2020 unermüdlich angestrebte Konversion von Bundeswehr und Rüstungsindustrie ist so gut wie abgeschlossen und soll im nächsten Jahr mit einem Freudenfest begangen werden.

Es ist ein buntes Völkchen, welches sich in der so genannten Waldarena versammelt hat. Viele Mitglieder sind dabei aber nicht körperlich anwesend, weil ihre eingeschränkte Mobilität sie zwingt, zu Hause zu bleiben. Mithilfe menschengerechter Kommunikationstechniken sind sie auf einer riesigen Projektionsfläche mit personalisierten Flächen anwesend. Sie erinnert ein bisschen an die energiefressenden Monitorwände früherer Massen-Events. Doch die "E-Wall" wird klimaneutral betrieben, und wer sich in die Projektionsfläche einklinken will, kann das überwachungsfrei und mit garantierter persönlicher Datenhoheit tun.

Die Initiative "Künstliche Intelligenz für Menschen und Umwelt" hat es ja schließlich geschafft, ein UN-Abkommen zu erstreiten, das den Missbrauch von Algorithmen und Robotertechnologie für autonome Waffensysteme und andere Tötungsapparate verbietet.

Beschäftigte und Gewerkschaften haben sich aus der Erpressung in Form gut bezahlter Arbeitsplätze befreit und die Mächtigen in der Wirtschaft sowie Überzeugbare in der Politik mit sanfter Gewalt, also z.B. sprachgewaltigen Argumenten und Aktionen zivilen Ungehorsams, davon überzeugt, dass künstliche und vor allem menschliche Intelligenz auf konvertierten Arbeitsplätzen genutzt werden. So wurde es beispielsweise möglich, dass gelähmte und anders gehandicapte Menschen mittels ausgeklügelter Software und Hardware ihre Gedanken auf Displays zum Ausdruck bringen können.

Ein hoch betagter und vollständig gelähmter DFG-VK-Aktivist, der in der BoA-Kampagne ("Bundesrepublik ohne Armee") viele Jahre engagiert war, drückt auf dem Monitor seine Erinnerungen schriftlich aus. Diese werden mithilfe von Sprachsoftware unmittelbar hörbar umgesetzt. Von der humanen künstlichen Intelligenz entwickelte Apps ermöglichen es, Fotos aus den 1990er-Jahren einzubinden.

Der BoA-Aktivist lässt die jahrelangen engagierten Aktivitäten der BoA-KämpferInnen wieder aufleben, die irgendwann im Sande verliefen. Ohne Umsetzungsplan blieb das Ziel abstrakt, ohne Umsetzungsplan wurde keine Betroffenheit ausgelöst. Ein Land ohne Armee schien eine schöne Idee, aber auch nicht mehr.

Der BoA-Aktive erinnert rückblickend daran, wie erste Mitglieder in der DFG-VK 2018/19 erkannt hatten, dass das Schritt-für-Schritt-Szenario "Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik" der Hebel war, um den Mythos von der Wirksamkeit von Gewalt zu entzaubern und BoA mit einem ausgeklügelten Umsetzungskonzept zu revitalisieren.

Das Konzept "Sicherheit neu denken" bietet enorme Vorteile für die Friedensbewegung. Wenn man ein Ziel erreichen will, braucht man eine Vorstellung darüber, welche Mittel und Wege uns dort hinbringen können. Das ist die unverzichtbare Voraussetzung, um Interesse zu wecken und Gehör zu finden.

Aus diesem Grund haben friedensbewegte Menschen aus dem Kreis der evangelischen Kirche (darunter DFG-VK-Mitglieder) ein Konzept dafür entwickelt, wie es gelingen kann, die Bundeswehr und die Rüstungsindustrie abzuschaffen. Das wurde als Buch mit dem Titel "Sicherheit neu denken - Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik - Ein Szenario bis zum Jahr 2040" veröffentlicht. Im Folgenden nenne ich es kurzerhand Zivile Sicherheitspolitik, abgekürzt ZSP.

Wie konkret und durchdacht die Verfasser gearbeitet haben, geht aus der Tatsache hervor, dass ihre Überlegungen 165 Buchseiten umfassen. Das heißt, man muss entsprechende Lesebereitschaft aufbringen, wenn man das Konzept verstehen will. Diese Zeit ist sinnvoll eingesetzt, denn man erhält eine Menge an Fakten und Wissen und erkennt historische Zusammenhänge, die für Diskussionen z.B. bei Infoständen oder im Bekanntenkreis sehr nützlich sind.

ZSP überwindet das Eingemauert-sein im realpolitischen Denken und kann kleingeistige Handlungsblockaden auflösen.

ZSP besticht durch zahlreiche Vorteile:

• ZSP beschreibt konkret und anschaulich, welche Maßnahmen und Schritte eine Bundesregierung durchführen muss, um Militärapparate abzuschaffen. Das weckt das Interesse und die Neugier und schafft die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen.

• ZSP taugt dafür, dass sich die vielen Initiativen, Kampagnen und Organisationen (in der Friedensbewegung) mit teils unterschiedlichen Zielen (Bundeswehrpropaganda verhindern, Atomwaffen abschaffen, Rüstungsexporte verbieten, usw.) auf ein übergeordnetes gemeinsames Ziel ausrichten. Das dient dazu, sich besser zu koordinieren und das Nebeneinanderherwursteln und Nicht-beachten zu überwinden. Sie lernen voneinander im politisch-strategischen Denken und in ihren Aktionsformen. Sie machen sich ihre jeweiligen Erfolge bewusst und motivieren sich gegenseitig und bündeln ihre Kräfte.

• ZSP wiederbelebt politische Bildung und das Wissen über historische Zusammenhänge. Das Durcharbeiten des auf rund 160 Seiten dargestellten Konzeptes vermittelt wichtiges Wissen und Argumente und schärft das Denken in Zusammenhängen. Die Diskussion des Gelesenen mit anderen lässt vieles klarer werden und verdeutlicht, wie verschieden man Inhalte interpretieren kann. Das ist ein psychosozialer Prozess, der zugleich erfahrbar macht, dass wirksame politische Einflussnahme (auf die Entscheid enden) nur zusammen mit vielen anderen gelingen kann.

• ZSP ist bestens geeignet, die Ziele der Friedensbewegung wieder mehr in das Alltagsdenken und das tatsächliche Tun und Lassen der Menschen zu bringen. Ein Vergleich mit Sportfans verdeutlicht, was gemeint ist: Diese investieren viel an Zeit und Geld für ihren Verein, ihr Team. Das bringt ihnen keinen materiellen Gewinn, aber eine ideellen psychischen Vorteil.

• ZSP vermittelt die Erkenntnis, dass Friedensarbeit als politische Arbeit zweigleisig erfolgen muss. Einerseits sind Diskussionen mit Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Militär - Lobbyarbeit sozusagen - nötig. Andererseits müssen viele Menschen - "die Massen" - bereit sein, aktiv zu werden. Die Entscheidungsträger müssen merken, dass sie ohne eine Bereitschaft zum Kurswechsel eventuell ihre Macht verlieren könnten.

• Die Mehrheit in Meinungsumfragen für antimilitaristisch-pazifistische Positionen (keine Bundeswehrauslandseinsätze, Atomwaffenabzug, Rüstungsexportstopp) gibt es seit Jahren. Ohne den Druck durch ausdauernd aktive Menschen bleibt es nur eine Meinung und schafft keine Bereitschaft für wirklichen politischen und wirtschaftlichen Wandel.

• ZSP schafft das Bewusstsein, dass wir es überwinden müssen, im eigenen Saft zu schmoren. Das bedeutet: gezielt auf diejenigen zuzugehen, die Militär und Rüstung (noch) nicht prinzipiell in Frage stellen, sich aber beispielsweise fragen, ob Auslandseinsätze der Bundeswehr tatsächlich das Geld wert waren oder ob bestimmte Länder besser keine Waffen mehr bekommen sollten. Sich für Bündnisse mit entsprechenden Forderungen einzusetzen bringt uns weiter. Wichtig ist dabei, sich treu zu bleiben und radikale antimilitaristisch-pazifistische Positionen beizubehalten.

• ZSP kann nur dadurch erreicht werden, dass die sehr heterogenen Gruppen und Organisationen der Friedensbewegung immer wieder konstruktiv darüber streiten, mit welchen Forderungen und Aktivitäten das Ziel, Rüstungsindustrie und Bundeswehr abzuschaffen, erreicht werden kann.

• ZSP ist dazu geeignet, das gebannte und lähmende Starren auf (bewusst) eskalierte Konflikte und Krieg und durch (kapitalistische) Wirtschaftsinteressen forcierte (Klima-)Katastrophen zu überwinden.

• ZSP hat systematisch zusammengestellt, dass es die Konfliktlösung durch Verhandeln und Streitschlichtungsinstitutionen bereits gibt und sie erfolgreicher ist als der Einsatz von Militär, Waffen und Gewalt. ZSP greift auf internationaler Ebene auf, was bereits existiert und praktiziert wird, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) existiert schon lange, führt aber ein Schattendasein und ist nur wenigen bekannt. Daher ist es bereits ein Gewinn, wenn es gelingt, den Menschen darzulegen, welche wichtige Rolle sie bei Lösung von Konflikten spielt und weshalb sie u.a. personell aufgestockt werden muss. Es ist ein Erfolg der Friedensbewegung, dass es in Deutschland mit dem Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD) eine Organisation gibt, die es geschafft hat, dass zivile Friedensfachkräfte ausgebildet werden, die in Konfliktregionen an der friedlichen Konfliktbeilegung arbeiten.

• ZSP gibt es auch in einer englischen Übersetzung und belegt, dass es den Verfassern glaubhaft darum geht, nationale Grenzen zu überwinden. Tatsächlich geht das Szenario davon aus, dass ZSP auch Unterstützer in Schweden, Österreich und den Niederlanden findet.


Otto Reger ist seit vielen Jahren aktiv in der DFG-VK-Gruppe Mannheim-Ludwigshafen.

*

Quelle:
ZivilCourage - das DFG-VK Magazin, Nr. 4 / 2019, S. 34 - 35
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
Hornbergstraße 100, 70188 Stuttgart
Redaktion: ZivilCourage - das DFG-VK-Magazin,
Hornbergstraße 100, 70188 Stuttgart
Telefon: 0711 - 51 89 26 20
E-Mail: zc@dfg-vk.de
Internet: www.zc-online.de
 
Erscheinungsweise: fünf Mal jährlich
Jahres-Abonnement: 14,00 Euro inklusive Porto
Einzelheft: 2,80 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang