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STANDPUNKT/191: Ein kritischer Zwischenruf zu "Sicherheit neu denken" (ZivilCourage)


ZivilCourage - Nr. 1 / 2019
Magazin der DFG-VK

Im Ansatz gut, aber unzureichend
Ein kritischer Zwischenruf zu "Sicherheit neu denken"

Von Christoph Neeb


Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik macht gegenwärtig nicht den Eindruck, von einer langfristigen Strategie oder einem langfristigen Konzept geleitet zu sein so wie sie es war, als Willy Brandt die Entspannungspolitik oder Helmut Kohl die europäische Integration betrieben. Es ist deswegen verdienstvoll, die gegenwärtig bestehende Lücke zu nutzen, um eine neue langfristig angelegte Friedens- und Entspannungspolitik Deutschlands auf den Weg zu bringen. Eine Initiative dazu erscheint noch erfolgversprechender, wenn sie aus den Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppen kommt, und nicht alleine aus der Friedensbewegung.

Die Autorinnen und Autoren der Schrift "Sicherheit neu denken" (siehe die Rezension in der vorherigen Standpunkte-Nummer), die von DFG-VK-Mitgliedern, die kirchlich engagiert sind, mit initiiert und geschrieben wurde und die im Auftrag des evangelischen Oberkirchenrats in Karlsruhe herausgegeben wurde, nehmen sich den Atomausstieg und die Erlassjahr-Kampagne "Entwicklung braucht Entschuldung" zum Vorbild. Sie wollen so für eine deutsche Friedenspolitik nach dem Vorbild der Ostpolitik werben. Deutschland soll mit einer solchen Politik Ansätze wie die "Sustainable Development Goals" (SDGs) der Vereinten Nationen, den Aktionsplan "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" der rot-grünen Bundesregierung von 2004 und die Agenda 2063 der Afrikanischen Union aufnehmen und weiterführen. Deutschland soll trotz seiner Größe abrüsten und eine Politik nach dem Vorbild von Staaten wie dem Nato-Mitglied Island, dem OAS-Mitglied Costa Rica oder dem Inselstaat Mauritius führen.

Das ist manchem aus der Friedensbewegung nicht radikal genug: Warum fordern die Autoren nicht den Austritt Deutschlands aus der Nato? Die Antwort darauf, auch in der Friedensbewegung: Weil es darum geht, ein breites gesellschaftliches Bündnis zu schmieden, und da könnten bestimmte radikale Forderungen sogleich jeden Fortschritt blockieren.

Außerdem ist der Text für eine Kirche bereits eine radikale Wende, wie auf Seite 24 nachzulesen ist, wo einige kirchliche Veröffentlichungen zum "gerechten Frieden" aufgelistet werden, aber es "halten sich diese Texte die Möglichkeit offen, militärische Gewalt zum Schutz von Menschen einzusetzen. Einen deutlich stärkeren Impuls mit einem klaren Votum für Gewaltfreiheit gab es durch den friedensethischen Prozess, der 2011 in der Evangelischen Landeskirche in Baden begann".

Dies zu Ende gedacht bedeutet nicht weniger, als dass die Kirche in den Fragen von Krieg und Frieden zurückgeht zu ihrer Haltung vor der Konstantinischen Wende im Jahr 313, zurück zu der Zeit, bevor sie Staatskirche war.

Historisch ist das konsequent. Die Kirchen sind längst nicht mehr, so wie früher, Staatskirchen, ihre Bedeutung schwindet. Sie müssen also nicht mehr staatstragende Positionen vertreten. "Sicherheit neu denken" rüttelt an den Grundfesten des gegenwärtigen Selbstverständnisses von Kirchen. Das Festhalten an der Kirchensteuer und an der Seelsorge für Soldatinnen und Soldaten in der heutigen Form zeigen, dass die Konfessionskirchen zumindest in Deutschland noch nicht so weit sind, eine nicht mehr staatstragende Rolle einzunehmen. So gesehen ist der friedensethische Prozess seit 2011 an Radikalität kaum zu überbieten. Die größte Herausforderung für die Autoren wird deswegen darin bestehen, innerhalb der Kirchen für ihr Konzept zu werben.

Umso wichtiger wäre es, dass "Sicherheit neu denken" ein tragfähiges Konzept bietet. Aber da kommen mir bei der Lektüre doch erhebliche Zweifel. Es beginnt damit, wie die im Konzept durchgeführte Szenariotechnik angewendet wird.

Die Szenariotechnik ist eine Methode zur Antizipation von aus Sicht der Gegenwart möglichen Zukunftsverläufen, wobei nicht der Fehler der klassischen Prognose begangen werden soll, gegenwärtige Trends linear fortzuschreiben, sondern Umbrüche und Wechselwirkungen in die Betrachtung einbezogen werden sollen.

"Die Szenariotechnik arbeitet mit drei unterschiedlichen Szenarien: positives Extremszenario [...], negatives Extremszenario [...], Trendszenario [...]" heißt es auf S. 8 von "Sicherheit neu denken".

Es ist jedoch nicht richtig, dass man in der Szenariotechnik nur mit diesen drei unterschiedlichen Szenarien arbeiten soll. Es können auch noch mehr Szenarien sein. Die eigenen Kapazitäten setzen hier die Grenze für die Anzahl der Szenarien. Deswegen läuft es aus arbeitsökonomischen Gründen oft darauf hinaus, dass nur drei Szenarien entwickelt werden. Sich jedoch von vorneherein zum Ziel zu setzen, nur drei Szenarien zu entwickeln, schränkt das eigene Denken unnötig ein, wo die Szenariotechnik doch gerade den Horizont weiten soll.

Die Szenariotechnik dient dazu, mit Hilfe von kreativem Denken, Vorstellungskraft, informellen Methoden und der Verwendung qualitativer, subjektiver Information verschiedene plausible Geschichten darüber, wie sich die Welt oder ein bestimmter Bereich der Welt weiterentwickeln könnte, zu entwickeln und zu erzählen. Wichtig ist, dass sie plausibel sind, denn sie sollen als Basis zur Entwicklung von Strategien und Agenden dienen. Dabei können sich mögliche Akteure selbstverständlich auf ein bestimmtes Szenario konzentrieren, sie müssen es aber nicht. Ich sehe jedoch nicht, inwieweit die Szenariotechnik dazu dienen soll, ein Wunschszenario zu entwickeln. Die Geschichten sollen doch plausibel sein. Indem man sie entwickelt, soll man lernen und sich dann eine Strategie überlegen, wie man mit den möglichen Entwicklungen umgehen will.

In "Sicherheit neu denken" haben wir es aber fast den ganzen Text lang mit einem Wunschszenario zu tun, nicht mit einer Strategie, nicht mit einer Agenda. Und deswegen läuft meiner Meinung nach der Text als Gesamtkomposition schief, so viel Richtiges darin stehen mag.

Denn tatsächlich steht viel Richtiges in dem Text: die treffende Kritik an der gescheiterten und nur unzureichend evaluierten "militärgestützten Sicherheitspolitik" (S. 6 f., S. 16 f.), die scheinbar erlösende Funktion von Gewalt (S. 105 f.), der Verweis auf die Untersuchung von Chenoweth und Stephan 2011, nach der gewaltfreier Widerstand doppelt so erfolgreich ist wie ein bewaffneter Aufstand (S. 19, 23 f., 76), die Unterscheidung von polizeilicher und militärischer Gewalt und die Kritik an der zunehmenden Vermischung beider (S. 50, 71, 108), die berechtigte Kritik an einem Denken, nach der Bedrohungen angeblich immer von außen kommen (S. 22, 58 f.).

Jedoch treffe ich vielfach zugleich auf Wunschdenken, das mich ratlos zurücklässt: fortbestehende Mitgliedschaft in der Nato bei gleichzeitiger kompletter Abrüstung (S. 65), die OSZE als alleiniges Sicherheitssystem in Europa, aber trotzdem besteht die Nato fort (S. 61), Plädoyer für ein Desertec 2.0 ohne ein Wort dazu, woran das erste Desertec gescheitert ist (S. 42, 45 f.), die Verleihung eines "Zivil-Logos" an Firmen, obwohl Rüstung lukrativer sein wird als jedes Logo (S. 118), George W. Bush und Tony Blair vor Gericht, eine sehr kurze Beschreibung der möglichen Reaktionen auf Abrüstung und Rüstungskonversion, welche die Entschlossenheit der Befürworter der bisherigen "militärischen Sicherheitspolitik" enorm unterschätzt.

Insgesamt wirkt der Text wie eine Utopie. "Das Szenario erhebt [...] keinesfalls den Anspruch eines Masterplans oder einer wissenschaftlichen Expertise. Es will vielmehr dazu anregen, die in ihm entwickelten Konkretionen den aufkommenden Komplexitäten und Konflikten entsprechend zu verändern und anzupassen." (S. 15) Die eigentliche Denkarbeit muss also erst noch geleistet werden?

Wenn ja, dann muss nicht nur das gerade erwähnte Wunschdenken überwunden werden. Es gibt weitere Widersprüche in dem Text.

Wenn in dem friedensethischen Beschluss, den die Synode der Evangelischen Landeskirche in Baden gefasst hat, der Ausstieg aus der "militärischen Friedenssicherung" mit dem Ausstieg aus der Atomenergie verglichen wird (S. 9), dann hinkt dieser Vergleich. Er missachtet den jeweiligen Sinn. Es gibt andere Möglichkeiten der Stromerzeugung. Wenn sie genutzt werden, kann alles weitergehen wie bisher.

Wenn man schon Vergleiche anstellt, dann kommt der Ausstieg aus der "militärischen Friedenssicherung" einem Ausstieg aus der Stromerzeugung überhaupt gleich, und der Atomausstieg ist da schon eher vergleichbar mit dem Ausstieg aus einer Waffengattung. Eine Welt ohne Krieg ist eine viel grundlegendere Wende, etwa vergleichbar mit der Abschaffung der Sklaverei. Die meisten Menschen der Antike konnten sich eine Gesellschaft ohne Sklaven nicht vorstellen, so wie sich heute die meisten Menschen eine Welt ganz ohne Rüstung und Militär nicht vorstellen können. Erstaunlich eigentlich, dass man in der Kirche nicht auf diesen Vergleich Bezug nimmt, denn gerade auch aus dem Christentum stammen die Vorstellungen, die uns heute die Sklaverei als Unrecht erscheinen lassen.

"Sicherheit neu denken" soll nicht der Dominanz Deutschlands das Wort reden, aber trotzdem "setzt Deutschland [...] die Schaffung eines fairen und transparenten internationalen Schiedsverfahrens für überschuldete Staaten durch, das ab 2030 in Anlehnung an nationale Insolvenzrechte für Schuldner die soziale Marktwirtschaft auch in diesem Bereich globalisiert." (S. 37)

Das Konzept der kollektiven Sicherheit soll weiterentwickelt werden zu einem Konzept der "gemeinsamen Sicherheit", dessen vorrangiges Ziel "koexistenzielle Beziehungen" sein sollen, "bei denen ein Wertekonsens nicht erreicht, ein globaler Interessenabgleich aber möglich wird." (S. 54) Sogleich folgt aber ein Zitat aus einer Erklärung der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen von 1983, in welchem es heißt, das Konzept der "gemeinsamen Sicherheit" der Staaten müsse durch ein Konzept der "Sicherheit der Bevölkerungen" untermauert werden. Wahre Sicherheit der Bevölkerung erfordere die Respektierung der Menschenrechte einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung. Wie soll dann aber ein Interessenabgleich mit Staaten möglich sein, welche die Menschenrechte missachten? (S. 55)

Nach dem Wunschszenario wird es einen solchen Interessenabgleich auf Dauer nicht geben müssen, denn 2025 "entscheidet sich der Deutsche Bundestag [...] für die Qualifizierung ausländischer Gruppen in gewaltfreiem Zivilen Widerstand". (S. 106) Hier findet sich eine der wenigen Textstellen, in welcher ein Problem entfaltet wird: Der Beschluss löst "internationale Empörung" aus. Als gemeinsame Lösung des Problems sollen die Schulungen in einem neu zu gründenden UN- Schulungszentrum für Zivilen Widerstand in Bonn stattfinden. (S. 107) Das ändert jedoch nichts an dem Eindruck, dass auf Dauer nicht bloß Koexistenz, sondern ein globaler Wertekonsens geschaffen werden soll.

Den ganzen Text durchzieht eine Beschreibung Deutschlands, das agiert, fördert, zahlt. Der Gedanken, dass es vielleicht das Beste wäre, andere Länder einfach in Ruhe zu lassen, findet sich nur in Bezug auf die EU-Agrarsubventionen. Auch durchzieht den Text ein bemerkenswertes Vertrauen in die Wirksamkeit und Heilsamkeit staatlichen Handelns.

Es ist zudem erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, dass Deutschland auch in zehn oder zwanzig Jahren noch so dominant und wohlhabend sein wird, dass es Milliarden an Euro für die verschiedensten Zwecke wird einsetzen können.

"Deutschland", heißt es "setzt sich ab 2025 für die Überwindung der Dominanz der Industriestaaten in der Welthandels- und Weltfinanzordnung ein, die den 'globalen Süden' strukturell benachteiligt. Daraus ergeben sich für Deutschlands exportorientierte Wirtschaft zugleich neue und nachhaltige Kooperationsgewinne." (S. 36) Von der strukturellen Benachteiligung des "globalen Südens" profitiert Deutschland dann nicht mehr. Nur wenn die neuen und nachhaltigen Kooperationsgewinne Deutschland tatsächlich zuwachsen, kann es so dominant, zahlungskräftig und hilfsbereit bleiben, wie es in dem Szenario vorausgesetzt wird. Diese Vorrangstellung wird jedoch nur dann benötigt, wenn sich aus den neuen nachhaltigen Kooperationsgewinnen Deutschlands wiederum strukturelle Benachteiligungen für andere ergeben.

Merkwürdig erscheint mir die Fokussierung auf Russland. Die EU, Russland und weitere Staaten der ehemaligen Sowjetunion sollen eine Wirtschaftsunion von Lissabon bis Wladiwostok bilden, die "Eurasische Wirtschaftsunion", EAWU. (S. 32, 41, 52, 61, 65) Abgesehen davon, dass hier Länder zusammengespannt würden, deren wirtschaftliche Struktur sehr unterschiedlich ist, was schon in der EU schlecht funktioniert, geht dieser Plan meiner Ansicht nach von der falschen Vorstellung aus, dass "die gewaltsame Übernahme der Krim durch Russland sowie die gewaltsamen Separationstendenzen in der Ostukraine" wesentlich eine Folge der Konkurrenz von Russland und der EU um wirtschaftliche Einflusssphären seien.

Länder in einer Wirtschaftsunion zu haben, bedeutet zum einen noch nicht automatisch, dass zwischen diesen Ländern bestehende Konkurrenzverhältnisse befriedet sind. Zum anderen geht es Russland auf der Krim und in der Ukraine nicht bloß um Wirtschaftsfragen. Die Nato plant, die Ukraine und Georgien aufzunehmen. Russland hätte dann nur noch einen vergleichsweise kleinen Zugang zum Schwarzen Meer zwischen zwei Nato-Staaten, und der Hafen von Sewastopol wäre von Nato-Gebiet umschlossen. Gleichzeitig hätte der Sturz des syrischen Diktators Assad bedeutet, dass Russland seinen letzten verbliebenen Mittelmeerstützpunkt, Tartus, verliert. Ohne Tartus hätte Sewastopol kaum noch einen Wert für Russland. Tartus und Sewastopol gewährleisten die Präsenz Russlands im Mittelmeer. Für die Rolle Russlands als Großmacht ist das essenziell. Sowohl bei der Krim und der Ostukraine als auch im Fall von Syrien geht es Russland um seine Großmachtstellung. Aus Russlands Sicht hängen beide Konflikte miteinander zusammen. Und natürlich geht es auch um die Lieferwege für Öl und Gas.

Das ist Geostrategie. Mit einer Wirtschaftsunion alleine lassen sich die daraus resultierenden Konflikte nicht lösen, zumal auf dem eurasischen Kontinent und im Mittelmeer noch mehr Akteure aktiv sind als nur die Westeuropäer und Russland. Es sind vor allem zwei Akteure, die in "Sicherheit neu denken" kaum erwähnt werden: USA und China.

Zbigniew Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, hat in seinem Buch "The Grand Chessboard" beschrieben, dass es ein vitales Interesse der USA ist, dass es zu keiner Kooperation sämtlicher Staaten des eurasischen Kontinents kommen darf, weil eine solche Kooperation die USA in eine für sie bedrohliche Randlage bringen würde. Diese Denkweise bestimmt bis heute US-amerikanische Politik. Es ist deswegen zu erwarten, dass der konkrete Plan einer Wirtschaftsunion von Lissabon bis Wladiwostok auf den erbitterten Widerstand der USA stoßen wird - sie werden jede Möglichkeit, die sie haben, nutzen.

China verfolgt inzwischen noch konsequenter als bisher eine Politik, die es zurückführen soll zu der Stellung, die es in der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte, in der Epoche, welche die Europäer Rokoko nennen. Damals stellte China als wichtigste politische ökonomische Macht Asiens etwa 50 Prozent der Weltproduktion. Eine ähnliche Stellung hatten die USA kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa weitgehend zerstört war, China wirtschaftliche bedeutungslos war und Afrika fast nur aus Kolonialgebieten bestand. Von einer weltweiten Dominanz der Europäer konnte Mitte des 18. Jahrhunderts keine Rede sein. Diese damalige Stellung will China wieder erlangen. Deswegen kauft China den Hafen von Piräus, eröffnet eine Militärbasis in Djibouti und lässt sich von Sri Lanka den Hafen Hambantota übergeben. China geht denselben Seeweg wie einst Großbritannien, nur in Richtung Westen. China forciert seine Initiative für eine neue Seidenstraße, die, so Sigmar Gabriel 2018, für den Versuch steht, "ein umfassendes System zur Prägung der Welt im chinesischen Interesse zu etablieren". In Afrika verbreitet China sein "chinesisches Modell" und investiert. Auf Investitionen aus Deutschland ist man dort immer weniger angewiesen.

In Jorgen Randers Buch "2052. A Global Forecast for the Next Forty Years. A Report to the Club of Rome Commemorating the 40th Anniversary of The Limits to Growth", erschienen 2012, traut man den Chinesen zu, dass sie ihr Ziel erreichen werden: "China in 2052 will [...] be a civilization-state, representing a modern incarnation of the Chinese dynasties that considered themselves the center of civilization in a world of barbarians." (S. 279)

Russland hat sich China angenähert, führt mit China gemeinsame Militärmanöver durch und ist Mitglied in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, für die es Pläne gibt, sie zu einer "Nato des Ostens" auszubauen. Russland hat heute weniger Einwohner als Bangladesch oder Nigeria, und dies wird sich noch weiter zu Lasten Russlands verschieben. Russland könnte sogar zu einer Art Vasallenstaat Chinas werden.

Derweil lautet in den USA die Agenda "Make America great again", was nichts anderes heißt, als zurückzuwollen zur dominanten Stellung der USA kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Der gegenwärtige US-Präsident stellt sich dabei augenscheinlich nicht besonders geschickt an. Aber es könnte sein, dass sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin es besser machen wird. Ich glaube jedenfalls nicht daran, dass die USA dabei sind, sich von ihrer Rolle als Weltmacht verabschieden zu wollen. Ein China, das 50 Prozent der Weltproduktion und entsprechenden politischen Einfluss haben will, und die USA, die dasselbe wollen: Dazwischen bleibt nicht mehr viel Raum für den Rest der Welt. Auch das ist ein Szenario, das plausibel ist.

Wie es in Zukunft tatsächlich sein wird, können wir jetzt nicht wissen. "Sicherheit neu denken" beschreibt jedoch eine Welt, die mehr an die 1980-er oder 1990-er Jahre erinnert, als Deutschland und Russland im Vergleich zu anderen Staaten wirtschaftlich und demografisch noch bedeutender waren, als sie es heute sind. Eine enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit Russland alleine wird jedenfalls für die Zukunft nicht ausreichen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich lehne den Text nicht vollkommen ab. Ich teile jedoch nicht die Begeisterung, die manche - auch in der DFG-VK - angesichts dieses Texts an den Tag legen.

Wir sollten "Sicherheit neu denken" zum Anlass nehmen, weitere Szenarien, die es bereits gibt, in unsere Überlegungen und Handlungsstrategien einzubeziehen, denn tatsächlich brauchen wir dringend wieder ein außen- und sicherheitspolitisches Konzept, das uns in die richtige Richtung führt und über das in der Gesellschaft ein breiter Konsens besteht.


Christoph Neeb ist Mitglied im DFG-VK-BundessprecherInnenkreis und Bundeskassierer der DFG-VK. Auf seiner Sitzung Anfang März wird sich der DFG-VK-Bundesausschuss ausführlich mit "Sicherheit neu denken" beschäftigen.

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Quelle:
ZivilCourage - das DFG-VK Magazin, Nr. 1 / 2019, S. 13 - 16
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
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Redaktion: ZivilCourage - das DFG-VK-Magazin,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. März 2018

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