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STANDPUNKT/081: Eine Welt ohne Nato ... wäre auch nicht besser (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Eine Welt ohne Nato
 ... wäre auch nicht besser

Von Tommy Rödl


"Sie beabsichtigt, ein neues strategisches Konzept zu verabschieden..." (aus dem Aufruf "Nein zum Krieg - nein zur Nato")

Die Nato ist ein Bündnis von Staaten bzw. Regierungen, kein eigenständiges Wesen. Die Nato tut nichts, was die Regierungen der Mitgliedsstaaten nicht auch tun wollen. (Abgesehen davon, dass schwächere Staaten in der Nato nicht umhin können, das zu tun, was "die Großen" wollen; aber sie sind ja freiwillig dabei). Die Personifizierung der Nato lenkt ab von der Verantwortlichkeit der Parteien und Interessengruppen innerhalb der Mitgliedsstaaten, die eine bestimmte Politik wollen, z.B. die Zerschlagung Jugoslawiens, die Expansion der Nato nach Osten, den Einmarsch in Afghanistan usw. "Die Nato" für Kriege, Kriegspolitik, Aufrüstung und Militarisierung verantwortlich zu machen, lenkt ab von der Verantwortung der deutschen Politik bzw. der deutschen Parteien, die eine offensive militärische Außenpolitik wollen und dies in der Nato durchsetzen. Deutschland ist nicht unschuldiges Opfer einer "Nato", sondern treibende Kraft in dieser Organisation.

Kern der "nordatlantischen Verteidigungsorganisation" ist der Artikel 5, die Verpflichtung zum gegenseitigen Beistand bei einem Angriff auf das Territorium der Vertragsstaaten. Die Nato war das wichtigste Instrument der USA, um ihre Machtposition in Europa abzusichern und den sozialistischen Machtblock einzudämmen und zurückzudrängen. "Roll Back" war das eigentliche Konzept, das ist mehr als Verteidigung. Über die politischen und militärischen Strukturen der Nato ist das Oberkommando der USA fixiert.

Die Nato war und ist das Bündnis der reichen Staaten des Nordens mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung zu Absicherung ihrer globalen Machtpositionen. Das Bündnis richtete sich gegen den gemeinsamen Gegner "im Osten" und ermöglichte den ehemaligen europäischen Kolonialmächten sowie der neuen Supermacht USA, ihre weltweiten wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen "im Süden", d.h. in Afrika, Nahost und Asien bzw. in Lateinamerika und im pazifischen Raum weiter zu verfolgen. Das bedeutete die Unterstützung von kapitalismusfreundlichen, teils korrupten und teils diktatorischen Regimes, die Verhinderung bzw. die Beseitigung von sozialistischen Regimes mit politischen, ökonomischen oder geheimdienstlichen Methoden, mit Waffenlieferungen und Militärausbildung oder auch mit Interventionskriegen.

Häufig wird von der "Neuen Nato" gesprochen, ohne diese globale machtpolitische Komponente der "Alten Nato" zu sehen.

Nach der Auflösung der Sowjetunion und der WVO (Warschauer Vertragsorganisation) hätte sich die Nato auflösen müssen. An die Stelle der beiden Militärblöcke hätte die "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" treten können.

Die Bombardierung Jugoslawiens zur Beseitigung des Regimes und zur "Integration" Restjugoslawiens in den kapitalistischen europäischen Wirtschaftsraum war die Machtdemonstration der "Neuen Nato". Sie wurde damit offensiv, ohne Mandat der Uno und gegen den Willen der Vetomächte Russland und China eingesetzt. Die Nato hat sich faktisch über die Uno gestellt und behält sich das Recht vor, überall dort zu intervenieren, wo die Nato-Regierungen es für richtig halten

Mit der Ausdehnung der Nato und der Ausweitung ihrer Aufgaben sind aber auch die Widersprüche zwischen den Nato-Staaten gewachsen. Nach den Anschlägen vom September 2001 wurde zwar der Bündnisfall ausgerufen. Die USA führten den Krieg gegen Afghanistan aber alleine bzw. später mit einer "Koalition der Willigen" ohne Mitwirkung der Nato. Teile der Mitgliedsstaaten unterstützten den Krieg der USA gegen den Irak nicht. "Alte Europäer" und "neue Europäer" vertreten unterschiedliche Interessen.

Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Atomwaffenprogramm des Iran, mit dem Projekt der Raketenabwehr und jüngst in den Reaktionen auf den Krieg zwischen Georgien und Russland. Die neuen Nato-Staaten in der Nachbarschaft Russlands (bzw. die Parteien und Eliten, die jetzt dort an der Macht sind) haben andere historische Erfahrungen mit Russland bzw. der Sowjetunion gemacht und betonen die Frontstellung gegen Russland. Frankreich und Deutschland betonen die Wichtigkeit guter Beziehungen (mit graduellen Unterschieden zwischen den hiesigen Parteien). Die gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten - Rohstoffe und Exporte - liegen auf der Hand.

Die Widersprüche zeigen sich weiter in der Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung des Kosovo und in der Frage der weiteren Expansion der Nato. Sarkozy-Frankreich ist nicht in die Militärstruktur (= Unterordnung unter einen US-Befehlshaber) der Nato zurückgekehrt, um den USA in den Hintern zu kriechen, sondern um innerhalb dieser Strukturen seine Interessen effektiver vertreten zu können. Daher will die Nato bei zukünftigen Interventionskriegen vom Konsensprinzip abweichen - mitreden soll nur noch der, der sich an Interventionen beteiligt.

Im Grundlagenvertrag für die EU verpflichten sich die Vertragsstaaten, ihre militärische Stärke auszubauen. Militärische Kommandostrukturen, eine Rüstungsagentur und eine gemeinsame Eingreiftruppe werden aufgebaut. Damit werden die Weichen gestellt für eine europäische Militärmacht, die unabhängig von den Strukturen der Nato und ohne Kontrolle durch die USA eingesetzt werden kann.

Eine eigenständige "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" wurde jahrzehntelang gefordert. Die Diskussionen zwischen "Atlantikern" (= USA-Freunde) und "Europäern" wurden alle Jahre auf der Sicherheitskonferenz in München geführt. Eine europäische Rüstungsindustrie, die in allen wesentlichen Bereichen von Technologie und Know-how der USA unabhängig und mit der US-Rüstungsindustrie technisch konkurrenzfähig ist, wurde in den letzten Jahrzehnten aufgebaut (z.B. der Konzern EADS).

Die Bestrebungen nach politischer, ökonomischer und militärischer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von den USA werden versteckt hinter den rituellen Beschwörungen von Treue und Freundschaft mit den USA.

Die BRD hat unter dem Deckmantel der Einordnung in die Nato systematisch die eigenen militärischen Fähigkeiten (und die zugehörige Rüstungsindustrie) aufgebaut, eigene Atomwaffen gefordert, gegen den Atomwaffensperrvertrag opponiert und kräftig zur Weiterverbreitung von Atomwaffen-Knowhow beigetragen.

Offensichtlich sehen Teile der europäischen Eliten ihre Interessen in der Konkurrenz um Rohstoffe und Märkte nicht im Einklang mit den Interessen der US-Konzerne und ihrer Marionetten.

Eine größer werdende Nato wird Schwierigkeiten haben, einen Konsens über offensive Aktionen herzustellen. Das große Gerede über eine "neue Strategie" darf darüber nicht hinwegtäuschen, das haben wir vor 10 Jahren auch schon gehört. Es war der US-Präsident Bush, der die Nato durch seine Alleingänge am effektivsten beschädigt hat. Vielleicht wird die Nato ja auch zu einem politischen Forum, in dem Amerikaner und Europäer ihre Interessen abstimmen?

Was "die Nato" in Zukunft wird, hängt ab von der Politik der Regierungen, und nicht zuletzt davon, wie weit die Friedensbewegungen der Mitgliedsstaaten der Nato militärische Politik verhindern können.

Richtige Demo, schlechter Aufruf: Eine Demonstration bzw. eine große Kundgebung für Frieden und Abrüstung aus Anlass der 60-Jahres-Jubelfeier der Nato-Staaten ist richtig und notwendig. Doch es müsste eine Demonstration für Frieden, Gerechtigkeit und weltweite Abrüstung sein!

Das schwächste an dieser notwendigen Veranstaltung ist vermutlich der Aufruf "Nein zum Krieg, Nein zur Nato", den neben der DFG-VK das Netzwerk Friedenskooperative, der Kasseler Friedensratschlag, die Kooperation für den Frieden und damit die namhaften Dachorganisationen der deutschen Friedensbewegung unterstützen.

In diesem findet sich diese Personalisierung der Nato, viele richtige Kritik an den Kriegen der Nato-Staaten, viele richtige Aussagen, aber leider keine Ansätze einer Analyse der Nato, keine klare Aussage, was aus all der Kritik an "der Nato" folgt und keine politischen Handlungsperspektiven.

"Nein zur Nato", "Eine Welt ohne Nato ist nötig" - was bedeutet das? Fordert die Demo die Auflösung der Nato? Fordern wir die Kündigung des Nato-Vertrags durch die BRD? Hat die Friedensbewegung vor, diese Auflösung bzw. Kündigung dann auch politisch weiter zu verfolgen und Konzepte zu entwickeln, wie diese Auflösung durchzusetzen sei? Oder ist das alles in ein paar Monaten wieder vergessen?

Im Aufruf steht: "Das Ende der Nato wäre ein Schritt zu einer friedlichen Welt!" Hier muss ich leider widersprechen. Der Angriff der USA und einer jeweiligen Koalition auf Irak und Afghanistan erfolgte ohne relevante Mitwirkung der Nato. Eine Welt ohne Nato (als Organisation) wäre weiterhin hochgerüstet und kriegerisch, Dutzende regionale Kriege würden weiter geführt werden, die USA als globale Macht könnte weiterhin überall eingreifen. Regionale Mächte wie Israel, China, Russland oder Indien können weiter ihre Kriege führen. Was wäre gewonnen? Nichts!

Die Forderung nach Auflösung der Nato ist keine hinreichende Forderung. Zumindest müsste die Forderung nach weltweiter, allgemeiner und vollständiger Abrüstung dazu kommen.

Ist die Forderung nach Auflösung der Nato auch eine notwendige Forderung?

Nein. Politischer Widerstand gegen Militärinterventionen (z.B. in Spanien gegen die Beteiligung Spaniens im Irak), Abrüstungsschritte der Mitgliedsstaaten, Kürzung der Rüstungsausgaben, Schaffung von politischen und parlamentarischen Mehrheiten gegen offensive Militäraktionen, Schaffung von atomwaffenfreien Zonen usw. usf könnten eine Nato dahin bringen, wo sie einst war: Ein Bündnis, das sich auf die kollektive Verteidigung vorbereitet in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen (und jeder Staat, der das Potenzial dazu hat, seine Kriege auf eigene Faust führt, im Widerspruch zur Charta). Das war auch keine schöne Welt, aber es gab und gibt die Möglichkeit für Friedenspolitik in dieser Welt, unabhängig von der Existenz der Nato.

"Nein zum Krieg - Nein zur Nato - Militär abschaffen" wäre eine sinnvolle Losung, eine notwendige Forderung. Wie machen wir das? Die Bundeswehr verkleinern, die Wehrpflicht abschaffen, Rüstungshaushalt senken, die Atomwaffen aus Deutschland beseitigen als ersten Schritt zu einer atomwaffenfreien Welt, Rüstungsexporte stoppen, zivile Konfliktbearbeitung aufbauen... Zusammenfassend: Schritte zur Abrüstung durchsetzen.

Das kommt dem geneigten Leser vielleicht bekannt vor, vielleicht sagen die Verfasser des Aufrufs, das sei doch selbstverständlich? Meines Erachtens gehört diese politische Perspektive in so einem Aufruf formuliert und ausdrücklich "unsere" Regierung, der deutsche Bundestag als Adressat genannt. Darin liegt unsere Aufgabe und unsere Verantwortung, hier für eine andere Politik zu arbeiten - in dem Bewusstsein, dass in allen anderen Staaten der Nato Menschen bzw. Friedensorganisationen ebenfalls für diese Ziele arbeiten.

Eine personifizierte, mystifizierte Nato als Ursache und Quelle der Kriegspolitik aufzubauen, ist politischer Blödsinn. "Die Nato" ist kein Adressat für politische Forderungen.

"Militär abschaffen", "Bundeswehr abschaffen" - "das ist doch unrealistisch, dafür gibt es doch keine Mehrheiten in der Bevölkerung"... Wie oft habe ich das gehört, als wir noch "BRD ohne Armee" gefordert haben. (Nach wie vor eine programmatische Forderung der DFG-VK! Die Kampagne Schritte zur Abrüstung wurde von mir so konzipiert, dass die Abrüstungsschritte einst zur Abschaffung der Bundeswehr führen sollen). Also eins gemerkt: Unrealistische Forderungen darf man nicht aufstellen.

Wird es für die Forderung nach Abschaffung der Nato politische Mehrheiten in Deutschland geben? Unwahrscheinlich nach allen bekannten Meinungsumfragen. Also ist doch die "Abschaffung der Nato" unrealistisch. Wieder eins gelernt: Es hängt wohl davon ab, wer eine Forderung vertritt.

Aber für die genannten Schritte zur Abrüstung - Atomwaffen abziehen, Wehrpflicht abschaffen, Rüstungshaushalt senken - gibt es Mehrheiten. Was ist also ein realistischer Politikansatz?

Selbstverständlich wäre es möglich, konkrete und auch positive Perspektiven mit dem Protest gegen die Politik der Nato-Staaten zu verbinden.

Es gibt einen internationalen Appell - bei einem Treffen Anfang Oktober letzten Jahres in Stuttgart verabschiedet -, der zwar auch die Schlagzeile trägt "Nein zum Krieg - Nein zur Nato". Darin heißt es: "Um unsere Vision einer friedlichen Welt zu erreichen, lehnen wir militärische Antworten auf globale und regionale Krisen ab. ... Wir weigern uns, unter dem Terror von Atomwaffen zu leben, und widersetzen uns einem neuen Rüstungswettlauf. Wir müssen die Militärausgaben reduzieren. ... Alle ausländischen Militärstützpunkte sind zu schließen. Wir lehnen alle militärischen Strukturen ab, die für Militärinterventionen genutzt werden. Wir müssen die Beziehungen zwischen den Völkern demokratisieren und demilitarisieren und neue Formen der friedlichen Zusammenarbeit einrichten, um eine sicherere und gerechtere Welt zu schaffen."

Na also, geht doch. Hier sind konkrete Forderungen der Schritte-zur-Abrüstung-Kampagne enthalten. Sätze dieser Art hätte ich gerne in dem Aufruf gelesen, den die DFG-VK verbreitet hat.

Der erstgenannte Aufruf wurde dem Bundesausschuss der DFG-VK zum Abnicken vorgelegt - da war er längst verkündet und verbreitet, eine Diskussion fand nicht statt. Es gibt kein politisches Konzept hinter der Anti-Nato-Rhetorik. Mal wieder eine große Demo - das ist alles. Der zuletzt zitierte Aufruf zeigt, dass eine Verbindung zur Schritte-zur-Abrüstung-Kampagne möglich wäre. Immerhin wurde in der zweiten Auflage des DFG-VK-Mobilisierungsfaltblatts ausführlicher auf DFG-VK-Politik hingewiesen. Aus der Diskussion heraus habe ich ein Faltblatt entwickelt, das demnächst erscheint: "Die Nato überwinden - Schritte zur Abrüstung gehen" (Bezug über www.schritte-zur-abruestung.de)


Tommy Rödl ist Sprecher des DFG-VK-Landesverbands Bayern und Kampagnenbeauftragter der DFG-VK.


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009, S. 17 - 19
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
Redaktion: ZivilCourage, Postfach 90 08 43, 21048 Hamburg
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E-Mail: zc@dfg-vk.de
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
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Einzelheft: 2,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2009