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STANDPUNKT/066: Konsequenz aus den Rostocker Krawallen (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 15 - III/2007
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Die Aktionsformen sind entscheidend
Nachdenken über Konsequenzen aus den Rostocker Krawallen

Von Ute Finckh


Die Frage, wie wir mit der "autonomen Gewalt" umgehen, hat für mich mehrere Aspekte. Zunächst stellt sich die Frage, was eigentlich die Motive derjenigen sind, die Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung einsetzen oder befürworten. Als zweites dann die Frage, welche Auswirkungen Gewalt gegen Sachen oder gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei auf das ursprüngliche politische Anliegen oder auf den Erfolg einer Gesamtaktion haben. Die dritte Frage ist schließlich, ob bestimmte Aktionsformen für gewalttätige Eskalationen anfälliger sind als andere.

Die beiden Hauptargumente derjenigen, die Gewalt gegen Sachen als Mittel der Politik befürworten oder damit argumentieren, dass angesichts unzweifelhaft vorhandener staatlicher Gewaltstrukturen jedes Mittel recht sein muss, sind: Gewalt garantiert Aufmerksamkeit. Und: Gegen Gewalt hilft nur Gegengewalt.

Zwei seit Jahrzehnten immer wieder angeführte Argumente, die die gewaltfreie Bewegung längst widerlegt hat. Aber im Einzelfall ist es mühsam, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Aufmerksamkeit kein Selbstzweck ist und es genug Beispiele dafür gibt, dass starke politische Bewegungen durch Gewaltakte entweder ihr eigentliches Ziel aus den Augen verloren haben oder die Debatte um die Gewalt die Debatte um die politischen Ziele so verdrängt hat, dass diese nicht mehr, sondern weniger Aufmerksamkeit erhielten als vorher. Und es ist genauso mühsam, immer wieder auf die vielen historischen Beispiele zu verweisen, in denen gewaltfreie Bewegungen wesentlich gewalttätigeren Strukturen als denen, die wir hier derzeit haben, erfolgreich widerstehen konnten. Trotzdem sollten wir in diesem Punkt nicht locker lassen.

Ein weiterer Aspekt ist, dass Bilder von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten nicht nur vom eigentlichen Anliegen ablenken, sondern auch viele Menschen davon abhalten, sich an vergleichbaren Demonstrationen zu beteiligen.

An der Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm im Herbst 1983 oder an den Lichterketten Anfang der 1990er Jahre konnten Familien mit kleinen Kindern und ältere Menschen ohne Bedenken teilnehmen. Es gab und gibt auch Großdemonstrationen (wie die gegen den Irakkrieg im Februar 2003 in Berlin), bei denen kaum mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zu rechnen war oder ist. In den Fällen jedoch, in denen absehbar "schwarze Blocks" teilnehmen, werden die Risiken für diejenigen, die langsamer rennen können als die Polizei oder die Mitglieder des "schwarzen Blocks", unkalkulierbar. Und für die meisten Menschen ist es ein schwacher Trost, wenn die Verletzungen, die sie sich eingehandelt haben, Folge einer falschen Polizeistrategie waren.

Wir müssen uns also darüber im Klaren sein, dass ein "breites Bündnis", das Gruppen einschließt, die Gewalt für ein legitimes Mittel des Protestes halten, andere, sich vielleicht nicht so lautstark als Bündnispartner anbietende Gruppen de facto ausschließt.

Vielleicht gibt es aber einen Ausweg. Bestimmte Aktionsformen bieten denjenigen, die durch Gewaltakte Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, eine besonders gute Plattform. Wer aus einer Menschenmenge heraus mit Steinen oder Flaschen wirft, erhält mehr Aufmerksamkeit und geht gleichzeitig ein geringeres Risiko ein als jemand, der alleine oder mit wenigen anderen zusammen ist. Das gilt sowohl für diejenigen, die von vornherein Gewalt als Mittel der Politik einsetzen wollen als auch für eventuelle agents provocateurs.

Insofern ist es kein Zufall, dass es bei der Großdemonstration in Rostock zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam und bei der Bombodrom-Aktion am 1. Juni oder den Protestaktionen am Zaun in Heiligendamm nicht. Wer in der aufgeheizten Stimmung einer von Bereitschaftspolizei und Wasserwerfern umgebenen Großdemonstration im Zweifelsfall aus der Anonymität der Menge heraus Steine wirft, bleibt offensichtlich in der ruhigen und persönlichen Atmosphäre einer durch gewaltfreie Aktionsgruppen vorbereiteten Aktion genauso friedlich wie alle anderen Beteiligten.

Für mich ist daher die Konsequenz aus den Ereignissen von Rostock, mehr als bisher darüber nachzudenken, welche Aktionsformen ich auch und gerade dort befürworte, wo von der Sache her breite Aktionsbündnisse wünschenswert sind.


Dr. Ute Finckh ist Vorsitzende des BSV (Bund für Soziale Verteidigung) und Mitglied in der 'Forum Pazifismus'-Redaktion.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 15, III/2007, S. 32
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2007